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J. G. Ballard – Crash / Die Betoninsel / Der Block

Der vorliegende Sammelband enthält drei längst vergriffene Romane des britischen Schriftstellers James Graham Ballard: „Crash“ erhebt das Auto zur Ikone des 20. Jahrhunderts, „Die Betoninsel“ schildert eine moderne Robinsonade und in „Der Block“ fühlt man sich schließlich in die barbarische Welt von Goldings „Der Herr der Fliegen“ zurückversetzt. Sind diese Horror-Visionen auch Prophezeiungen? Angesichts mancher Nachrichten aus unserer Zeit will es so scheinen, und doch: Unsere Gegenwart vermag den Horror Ballards inzwischen mit Leichtigkeit zu übertreffen.

_Der Autor_

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Anderson, Poul – Schwert des Nordens, Das (Das geborstene Schwert / Hrolf Krakis Saga)

Dieser Band enthält zwei klassische Wikinger-Romane: „Das geborstene Schwert“ (auch: „Das zerbrochene Schwert“; 1954/71) und „Hrolf Krakis Saga“ (1973). Obwohl die zwei Romane in Aufbau und Thema sehr unterschiedlich sind, geht es doch stets auch um das Erlangen und den Einsatz von Schwertern. Dadurch kommt der Freund von Heroic Action Fantasy voll auf seine Kosten.

_Der Autor_

Poul Andersons Eltern stammten von eingewanderten Dänen ab. Poul, der vor dem 2. Weltkrieg kurze Zeit in Dänemark lebte, interessierte sich für diese Herkunft so sehr, dass er mehrere Romane an dem Schauplatz Skandinavien zur Zeit der Wikinger spielen ließ, darunter den vorliegenden, aber auch „Krieg der Götter“ und die Trilogie „The Last Viking“ (unübersetzt). Ansonsten ist Anderson für seine zahlreichen Science-Fiction-Romane bekannt, von denen „Brain Wave“ (1954) wohl der innovativste ist.

Der 1926 geborene Physiker, der schon 1947 zu veröffentlichen begann, starb 2001. Er ist Greg Bears Schwiegervater. Seine Werke hier aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen, denn allein in der „Encyclopedia of Science Fiction“ ist sein Eintrag nicht weniger als sechs Spalten lang … Er gewann sieben |Hugo Awards| und drei |Nebula Awards|, viermal den |Prometheus Award|, den |Tolkien Memorial Award|, den |August Derleth Award| und 1978 den |Gandalf Grand Master Award| sowie 1997 den |Grand Master Award| der |Science Fiction and Fantasy Writers of America| und 2000 den |John W. Campbell Memorial Award| – mehr und Höheres kann man in diesen Genres fast nicht gewinnen.

_Handlung von „Das geborstene Schwert“_

Es war zu jener Zeit, als die irischen Mönche noch nicht ganz Europa missioniert hatten. Wer über die Hexensicht verfügte, konnte noch Elfenfürsten und Trolle erspähen, ja vielleicht sogar einen riskanten Blick auf die Jötunen, die Eisriesen, und ihre Gegenspieler, die Asen, werfen. Aber nur die wenigsten tapferen Wanderer und Krieger in den neun Welten schafften es nach Jötunheim und Asgard.

Umgekehrt galt dies natürlich nicht, den Odin, der einäugige Wanderer, besuchte mit der Wilden Jagd häufig die Siedlungen von Menschenwesen, Elfen und Trollen. Und manchmal mischten er und seine Geschwister sich in die Angelegenheiten der Wesen in Midgard, der Mittel-Erde, ein. Dies ist eine solche Geschichte, die Geschichte von Skafloc, Frida und dem verfluchten Götterschwert Tyrfing.

|Orm der Starke Ketilssohn|

Es war ein Mann namens Orm der Starke, der zog von seinem heimatlichen Jütland in jenen Teil von England, den man Danelaw nannte. Orm nahm sich eine schöne, eigenwillige Frau, um mit ihr einen starken Clan zu gründen, der das Land besiedeln und beherrschen sollte. Das wäre ihm auch fast gelungen, doch Elfen und Götter hatten anderes beschlossen.

Orm war wieder auf einer seiner Beutefahrten, vielleicht nach Gardariki, dem alten Byzanz, als seine Frau Älfrida einen gesunden Knaben gebar. Wegen schlechten Wetters konnte das Kind erst in zwei, drei Tagen getauft werden. In der Zwischenzeit war seine Seele schutzlos. Davon erfuhr eine Hexe, die sich für das, was Orms Krieger ihrer Sippe angetan hatten, rächen wollte. Sie berichtete dem mächtigen und listigen Elfenfürsten Imric davon.

Sogleich fasst Imric einen kühnen Plan. Vor neun Jahrhunderten hatte er die Tochter des Trollkönigs entführt und auf seiner Burg Alfheim eingekerkert. Sie musste ihm noch in der gleichen Sturmnacht einen Wechselbalg gebären. Dieses Kind versah Imric mit Hilfe eines Elfenzaubers mit dem Aussehen von Älfridas Neugeborenem. Das Austauschen war danach nur noch ein Klacks. Ölfrida merkte nichts davon, sie wunderte sich höchstens, dass ihr Baby mit einmal so aggressiv beim Stillen war.

|Skafloc und Valgard|

Während Älfrida den Wechselbalg auf den namen Valgard taufen ließ und wie ihren eigenen Sohn aufzog, wuchs das geraubte Kind im Schoße der Elfen auf Alfheim zu einem starken und zaubermächtigen Krieger heran. Imric hatte ihm den Namen Skafloc gegeben und niemals getauft, denn die Elfen müssen die Riten und den Namen des Weißen Christus scheuen.

Zu seinem Namensfeste aber erschien auf Alfheim ein Bote der Asen, der trug ein zerbrochenes Schwert, dessen Name war Tyrfing. Der Bote prophezeite, nach dem Willen der Nornen (Schicksalsgöttinnen) werde Skafloc eines Tages das Schwert brauchen und es schmieden lassen, um es wieder ganz zu machen. Imric beschlich darob ein ungutes Gefühl, denn mit Geschenken der Götter hatte er noch nie gute Erfahrungen gemacht, und er ließ das Schwert in einer Kerkermauer verstecken.

|Der Krieg gegen die Trolle|

Valgard, der Wechselbalg, ist zu einem geächteten Krieger in Orms Sippe herangewachsen. Nach einem Streit, in dem er mehrere Männer aus Orms Sippe tötet, muss er England verlassen. Beraten von der Waldhexe, die ihre Rache vollzieht, schließt er sich dem Trollkönig an. Illrede ist sehr erbaut von den Ruhmestaten Valgards und er lässt ihn erneut Orms Sippe heimsuchen. Bei diesem Raubzug sterben alle außer drei Frauen: Valgards „Mutter“ und ihre zwei schönen Töchter Frida und Asgerd. Er verschleppt sie nach Trollheim, wo sie ein finsteres Schicksal als Sklavinnen erwartet.

Wenn da nicht Skafloc wäre. Er sieht den Zeitpunkt gekommen, sich als Kriegsführer zu beweisen und die übermütigen Trolle unter Valgard in ihre Schranken zu weisen. Bei seinem Feldzug befreit er Frida, doch Asgerd stirbt im Gefecht. Als Valgard ihm gegenübertritt, sind beide natürlich ziemlich verblüfft: Sie tragen das gleiche Gesicht!

|Sklafloc und Frida|

Nachdem Skafloc unter schweren Verlusten heimgekehrt ist, rüsten die Trolle zu einem allumfassenden Eroberungskrieg, der nicht nur ihrer Rache dienen soll, sondern auch die Unterwerfung aller Elfenländer Europas bezweckt. Valgard ist der zweite Mann bei diesem Krieg, doch er weiß schon, wie er sich zum Anführer machen kann.

Unterdessen ahnen Skafloc und Imric nur wenig von dem Unheil, das auf sie zukommt. Skafloc hat sich schwer in Frida verliebt und nimmt sie ohne große christliche Zeremonie zu seiner Frau, sehr zum Missfallen seiner Ziehmutter Lia, Imrics Schwester. Er ahnt nicht, dass Frida seine leibliche Schwester ist. Doch andere wissen dies nur zu gut, so etwa Valgard.

|Das verfluchte Schwert der Asen|

Als Alfheim gefallen und Elfenkönig Imric von den Trollen eingekerkert worden ist, führt Skafloc mit Frida, einer hervorragenden Bogenschützin, einen Guerillakrieg gegen die Besatzer. Doch er sieht das Ende der Elfennationen nahen, und so fasst er einen verzweifelten Plan: In einer Nacht-und-Nebel-Aktion, in Gestalt von Wolf, Adler und Otter, will er das Götterschwert aus der Burg holen und es von den Eisriesen neu schmieden lassen, um damit Elfenland von den Trollen zu befreien.

Frida, die ihn innig liebt, und alle überlebenden Elfen haben ein ungutes Gefühl dabei. Ihm wird geweissagt, dass er durch dieses Schwert umkommen werde. Das ist ihm einerlei, denn wofür lohnt es sich schon, in einer Trollwelt als Elf-Mensch zu leben? Nachdem die schwangere Frida bitter von ihm Abschied genommen hat, segelt Skafloc mit einem der irischen Elfengötter, Mananaan Mac Lir, gen Jötunheim, das im äußersten Norden liegt und streng bewacht wird. Nur sehr wenige sind von dort zurückgekehrt …

_Mein Eindruck von „Das geborstene Schwert“_

Um es vorweg zu sagen: Das Buch liest sich rasend gut. Es ist schnell und schnörkellos. Der Autor hat keine Skrupel, auch tabuisierte Themen wie den Inzest zu beschreiben und in allen Konsequenzen darzustellen. Geschwisterliebe – natürlich stets unwissenderweise – findet sich übrigens auch in Poul Andersons Roman „Hrolf Krakis Saga“, die nur wenige Jahre vor Skaflocs Abenteuern spielt. Es ist schon seltsam, was die heidnischen Nordvölker da umgetrieben hat. Aber vielleicht fanden ihre Poeten, das Thema Inzest rege die männliche Phantasie ihrer Zuhörer ganz besonders an …

|Historisch verbürgte Wikinger|

Wie auch immer: Bei solchen Themen würde Professor Tolkien als gläubiger Christ im Grabe rotieren. Das heißt aber nicht, dass er die alten Sagas, in denen solche Motive vorkommen, nicht kannte. Im Gegenteil: Sie waren sein Spezialgebiet, als er in Oxford lehrte. Den „Beowulf“ hat er nicht nur kommentiert, sondern, wie man erst vor kurzem herausfand, auch komplett ins moderne Englisch übertragen. Alle genannten Epen spielen um die Zeit des frühen 6. Jahrhunderts n. Chr., wie eine Autorennotiz zu „Hrolf Krakis Saga“ klarmacht. Diese Saga stützt sich auf historische Tatsachen. Beowulfs Gastgeber König Hrothgar gab es wirklich und er taucht in Hrolf Krakis Saga als Hroar auf. Ob es riesige Ungeheuer namens Grendel gab, darf hingegen getrost bezweifelt werden.

|Keine braven Elben|

Ebenso ins Rotieren geriete Tolkien angesichts der Schilderung der Elfen in „Das geborstene Schwert“. Das sind ziemlich machtgierige Typen, die nicht wie die Menschen lieben können, dafür aber ihre Zaubermacht einsetzen, um diverse Siege davonzutragen, so etwa gegen den Erzfeind, die Trolle. Diese Trolle haben mit den Steintrollen im „Hobbit“ ziemlich wenig zu tun. Sie sind zwar auch ganz schön groß, doch Andersons Trolle sind alles andere als Dösköppe, die kleine Hobbits und Zwerge zerquetschen wollen. Diese Trolle sind richtig gefährlich. Und wie die Zwerge leben sie in Höhlen.

|Sexy Hexy|

Wer nun dachte, dies sei eine Fortsetzung des „Herrn der Ringe“, nur von einem anderen Autor, der befindet sich gewaltig auf dem Holzweg. Wenn schon auf den ersten Seiten der Elfenkönig eine Prinzessin der Trolle vergewaltigt und sie ihm ruckzuck einen Wechselbalg gebiert – und so geschieht es seit 900 Jahren -, so befinden wir uns auf ziemlich heidnischem Territorium. Valgard treibt es mit einer als junge sexy Schönheit verkleideten alten verhutzelten Hexe, und Skafloc treibt es, wie gesagt, gar lustig mit seiner Schwester. Am schlimmsten – und da würde Liv Tyler vor Jammer kreischen – sind die Elfenfrauen. Sie treiben es mit den neuen Herren Elfenlands, den Trollen, doch listigerweise bringen sie einen der Besatzer nach dem anderen um, bis der Tag der Befreiung gekommen ist.

|Noch ein Siegfried?|

Deswegen ist Skafloc aber keineswegs ein hirnloser Schlächter. Weder ist er so lieblos und machtgierig wie seine Zieheltern, noch so schwach und täuschbar wie die Menschen, seine wahre Spezies. Auch ist er – zumindest später – kein blonder Haudrauf wie sein berühmterer Vetter Siegfried, der in den alten Sagas noch Sigurd heißt. Als er herausfinden muss, wo er das Dämonenschwert Tyrfing reparieren lassen kann, befragt er die Toten. Das tut man nicht ungestraft.

Prompt erhält er eine Antwort, die er ganz und gar nicht hören wollte: dass Frida von seinem eigenen Fleisch und Blut sei. Kurz darauf ziehen Frida und Skafloc die traurigen Konsequenzen. Doch zuvor ergehen sich beide in langen Beteuerungen der Liebe und erklären einander ihre Stimmung und warum sie sich trennen müssen. Es ist klar, dass Skaflocs Schicksal nicht ein langes Leben, sondern eine nur kurz brennende Supernova sein wird. Die Reparatur des Dämonenschwerts besiegelt sein Schicksal über kurz oder lang, und er weiß es. Doch wie der Obergott Odin Frida kurz vor dem Finale erklärt, kann Skafloc durch Fridas Liebe gerettet werden. Es gibt also Erlösung in diesem düsteren Universum aus neun Welten.

|Es wird gestabreimt|

Es gibt auch Schönheit. Ich habe selten so wunderbare Gedichte gelesen, die in Stabreimen abgefasst sind. Selbst noch in der Übersetzung wirken sie frisch, kraftvoll und zaubermächtig – denn Wörter sind in den Sagas immer Magie, ebenso wie Runen. Mein großes Lob gilt daher der viel zu früh verstorbenen Übersetzerin Rosemarie Hundertmarck. Vergleicht man die Stabreime, so haben sie nichts mit Tolkiens Poesie im „Herr der Ringe“ zu tun, sondern viel mehr mit den alten Epen wie etwa dem berühmten „Beowulf“.

_Handlung von „Hrolf Krakis Saga“_

Ein König von Dänemark hatte im neunten Jahrhundert zwei ungleiche Söhne namens Helgi und Hroar, doch als er starb, mussten diese vor seinem missgünstigen Bruder verborgen werden. Trotz langer und von Magiern unterstützter Suche blieben sie unentdeckt, überlebten und wuchsen bei einem fernen Verwandten auf. Hroar wurde klug und ein guter Verwalter, Helgi jedoch stark, kühn und ein wagemutiger Abenteurer. Als sie sechzehn sind, nimmt ihr Ziehvater sie an den Hof des Königs mit, wo sie sich verstecken. Nachts brennen sie die Halle des Thronräubers nieder, so dass er mitsamt seiner Königin in den Flammen umkommt.

Helgi und Hroar teilen sich die Herrschaft, doch Helgi zieht ins Land der Sachsen beim heutigen Schleswig, um Beute zu machen. Das Einzige, was er verhängnisvollerweise erringt, ist eine widerspenstige Geliebte: Olof ist die unvermählte und höchst eigensinnige Königin von Alsen. Das Ergebnis der Vergewaltigung ist eine Tochter, die sie nach ihrer Hündin Yrsa nennt und an arme Fischer weggibt. Als Yrsa sechzehn oder siebzehn ist, aber keine Ahnung hat, wer ihre richtigen Eltern sind, schaut Helgi mal wieder vorbei, verliebt sich in das schöne Kind und macht sie zu seiner Königin in Odense.

Nach der Geburt eines schönen Knaben namens Hrolf (eben jener des Romantitels) sieht Olof die Zeit für ihre Rache gekommen. Während die beiden Könige von Thing zu Thing unterwegs sind, lädt sie Yrsa zu sich aufs Schiff ein, das im Hafen von Odense liegt und eröffnet ihr, dass sie ihre Tochter und Helgi, ihr Mann, ihr Vater sei. Die am Boden zerstörte Yrsa verlässt Helgi und Hrolf und segelt mit ihrer Mutter nach Hause. Auf Hroars Rat hin greift der wütende Helgi Alsen nicht an. Helgi zeugt in einer Art Eremitenphase die Tochter Skuld mit einer Elfenfrau, die er gerettet hat. Skuld wird das Verhängnis des dänischen Königshauses werden.

Unterdessen hat sich die politische Landschaft in Südschweden und Götarland gewaltig verändert. Auf dem Thron des mächtigen und landreichen Svithjodh (Schweden nördlich von Schonen) sitzt nun ein Magier namens Adhils. Er wird den Dänen noch viel Ungemach bereiten, denn er hat es auf die dänischen Könige abgesehen und demütigt sie, indem er Yrsa heiratet, obwohl er erfährt, dass sie keine Kinder mehr bekommen kann.

Als König Helgi die Provokationen Adhils nicht mehr hinnimmt, begibt er sich auf einen Feldzug gen Uppsala. Doch Adhils Berserker überfallen Helgis Truppe aus dem Hinterhalt. Die Nachricht von Helgis Tod erschüttert sowohl Yrsa, seine Witwe, als auch Hroar, seinen Bruder, doch er lässt sich nicht hinreißen, Adhils anzugreifen. Diese Aufgabe überlässt er vielmehr Hrolf, seinem klugen Sohn, der den Dänen Jahre des Friedens und der Expansion beschert.

Als das Glück des Dänenkönigs vollkommen ist, gibt es nur noch eines zu tun, um die Scharte auszuwetzen, die Adhils ihm bereitet hat: Helgis Tod zu rächen und dessen Goldhort nach Dänemark zurückzuholen. Mit zwölf ruhmreichen Recken, deren Geschichten vereinzelt als Saga erzählt werden, und hundert Soldaten zieht Hrolf im Vorfrühling nach Svithjodh.

Leider ist das erste Wesen, das sie dort antreffen, keineswegs ein Mensch. Es ist der Göttervater Odin, Vater der Siege. Zu dumm, dass sie ihn nicht als Gott erkennen. Noch viele weitere unheimliche Dinge widerfahren ihnen bei ihrem Unterfangen, den ermordeten Helgi zu rächen.

_Mein Eindruck von „Hrolf Krakis Saga“_

Auf den ersten Blick scheint Hrolf Krakis Geschichte keine Verbindung zu der von Skafloc aufzuweisen, aber es kommen durchaus gemeinsame Elemente vor. Auf diese weisen der Autor und die zwei Herausgeber Lin Carter und Helmut W. Pesch in ihren Vorwörtern hin. Hrolf Kraki lebt eine Generation später als Beowulf und Skafloc, nämlich in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts. Sowohl Beowulf als auch das verfluchte Schwert Tyrfing werden en passant genannt. Im „Beowulf“-Epos spielen die Ereignisse in der Halle Heorot eines gewissen Königs Hrothgar – dieser König ist mit Hrolfs Vater Hroar identisch. Man sieht also, dass sich die in der Saga erzählten Geschehnisse zeitlich recht gut einordnen lassen. Dieser Ansicht ist auch die „Encyclopaedia Britannica“.

Man sollte aber keine direkte Fortsetzung von „Das geborstene Schwert“ erwarten. Die „Saga“ entstand knapp 20 Jahre später und mit einem ganz anderen Ziel. Man würde heute sagen, es handle sich um Doku-Fiction: Die gut recherchierte Chronik des dänischen Königsgeschlechts der Skjöldungen, die ihre Herkunft auf Odins Sohn Skjöld zurückführen, und ihr Schicksal und Untergang. Diese Jahrzehnte umspannende historisierende Darstellung ist verquickt mit recht unterhaltsamen und mitunter eigentümlichen Storys, unter denen vor allem die der wichtigsten Recken Hrolf Krakis herausragen.

Bjarki beispielsweise stammt von einem Krieger ab, den eine Hexe aus Rache in einen Werbären verwandelte, der nur nachts ein Mann – mitsamt Geliebter – sein durfte, tagsüber aber die Herden der Siedler dezimierte. Die Geliebte gebar ihm drei Söhne: Frodhi hat die Hufe eines Elchs, Thori, der zweite, die Beine eines Jagdhundes, nur Bjarki scheint ganz normal zu sein, außer an seinem Lebensende, in der glorreichen Schlacht gegen die Hexenkönigin Skuld, Helgis missratener Elfentochter. Da erblicken seine Kollegen und Mitstreiter die Gestalt eines großen roten Bären, der die Feinde regelrecht auseinander nimmt …

In weit höherem Maß als „Das geborstene Schwert“ vermittelt Anderson mit „Hrolf Krakis Saga“ ein lebendiges Bild von jener Zeit, als die Nordländer in alle Welt fuhren und unter anderem das von den Römern verlassene Britannien für sich eroberten. Es ist daher kein Wunder, dass die gesamte Saga in eine Rahmenhandlung eingebettet ist, die von einem Erzähler an einem christlichen Hofe im England des frühen 10. Jahrhunderts dargeboten wird, um seine edlen Gastgeber zu unterhalten – nach dem Motto: So wild ging’s einstmals zu bei den wilden Heiden von Dänemark. Seid bloß froh, dass ihr zivilisierte Christen seid!

Zur Unterhaltung und/oder Abschreckung seines Publikums schmückt der Erzähler seine Geschichten mit Trollen, Göttern, Berserkern (brutale Krieger, die mehr Tier als Mensch sind), Zauberern und Hexenköniginnen, Elfen und Drachen aus. Ganz wichtig sind natürlich die Schwerter. Ob das Elfenschwert Skofnung, ob Bjarkis Langschwert Lövi oder Hjaltis Goldheft – alle dienen sie in Heldentaten, von denen die Saga berichtet.

Und solche Taten waren offensichtlich nicht bloß um des Ruhmes willen nötig, sondern um allerlei Gesocks zur Räson zu bringen: nicht bloß die oben genannten Wesen, sondern auch Plünderer, Piraten und Marodeure. Sich an ihnen zu rächen und Vergeltung zu üben, hatten die könglichen Herrschaften ebenfalls mehr als einen Grund, wie man den Geschichten von Helgi, Olof, Yrsa und Vögg (der Hrolfs Tod rächte) entnehmen kann. Helden als Polizei, Richter und Vollstrecker – das war ihre Funktion. Und wenn auch nicht alles stimmen mag, was die Sagas erzählen, so sind die Zuhörer doch höchst zufrieden. Denn wer sehnt nicht Gerechtigkeit herbei in einer Welt, die so wenig davon zeigt?

_Unterm Strich_

Der Stoff von Skaflocs Schicksal bietet Gelegenheit zu großem Drama, das ist schon klar, aber die Tragödie wird nicht wie bei den alten Griechen so ausgeschlachtet, dass es aussieht, als handle es sich um ein Gottesurteil, was Skafloc da ereilt. Nein, er ist seines Schicksals Schmied – aber leider nur teilweise. Und das wird sein Verhängnis. Weil er fehlbar und menschlich ist, können wir mit ihm fühlen. Wäre das nicht so, ließe uns sein Drama kalt. So aber erringt er mit seiner größten Tat, der Vertreibung der Trolle, eine Statur, die jedem Helden der Menschen, der jemals in einem Lied verewigt wurde, zukommt: dem Retter des Volkes, dem Verteidiger der Zukunft.

Im Gegensatz dazu ist „Hrolf Krakis Saga“ eine Jahrzehnte übergreifende Saga mit mehreren Hauptfiguren. Allerdings tauchen die Götter und Elfen nur sehr am Rande auf, und das ist vielleicht gut so: Im Mittelpunkt stehen die Taten von Recken und Königen, von Zauberern und schrecklichen (Skuld) bzw. guten (Yrsa) Königinnen. Mag auch die Dramatik etwas leiden und so manche Überleitung sich ein wenig langweilig dahinziehen, so entschädigt doch das letzte Viertel voll und ganz für die Mühe, die der Rest machen könnte: Der glanzvolle Feldzug der Dänen gegen den Zauberer Adhils, ihr Untergang durch das von Zombies und Untiere verstärkte Heer Königin Skulds. Das hat Klasse, das verschlingt man förmlich beim Lesen.

Diese Doppelausgabe des |area|-Verlags macht zwei klassische „Wikinger“-Romane wieder zugänglich. „Das zerbrochene Schwert“ erschien im Mai 2005 in Neuausgabe beim |Piper|-Verlag, doch „Hrolf Krakis Saga“, die einst im |Bastei-Lübbe|-Verlag erschien, dürfte längst vergriffen sein und in nächster Zukunft wohl kaum neu aufgelegt werden.

Daher ist diese Ausgabe durchaus zu begrüßen, zumal sie a) sämtliche Vorwörter enthält und b) mit einem Preis von 9,95 Euro in dieser fest gebundenen Fassung fast so viel kostet wie eine Taschenbuch-Einzelausgabe von „Das zerbrochene Schwert“. Das Schriftbild ist zwar kleiner als üblich und es fehlt auch eine Landkarte – aber wer würde es wagen, die Grenzen des Elfenreichs zu ziehen oder die des Dänenreichs im längst versunkenen 6. Jahrhundert? Ich bin jedenfalls mit dieser Ausgabe zufrieden. Das Titelbild von Luis Royo habe ich übrigens schon mal auf einer Ausgabe eines Romans von David Gemmell gesehen – irgendwie stilecht.

|Originaltitel: The Broken Sword, 1954/1971, Hrolf Kraki’s Saga, 1973
Aus dem US-Englischen übersetzt von Rosemarie Hundertmarck|

Clive Barker – Die Bücher des Blutes IV-VI. Horror-Storys

Das Grauen der neuen irdischen Götter

Nichts für schwache Gemüter und zart besaitete Seelen – so lautet die Warnung im ursprünglichen Vorwort von Ramsey Campbell, ebenfalls ein renommierter Horrorautor. Für seine „Bücher des Blutes“ bekam Clive Barker 1985 den |World| und den |British Fantasy Award|. Seine Schrecken sind (meist) in der realen Welt angesiedelt, im Hier und Jetzt, oft sogar mitten in der Großstadt.

Das vorliegende Buch versammelt die „Bücher des Blutes“ IV bis VI, die im Internet häufig zu überhöhten Preise angeboten werden. Neuausgaben aus den achtziger und neunziger Jahren sind längst vergriffen beziehungsweise noch nicht in Sicht.

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Lovecraft, H. P. – Vom Jenseits. Horrorgeschichten

Preiswerter Einstieg in Lovecrafts Universum

Makabres, Unheimliches, Phantastisches: H.P. Lovecrafts (1890-1937) Ruhm als Meister des kosmischen Grauens entspringt der Fähigkeit, in seinen Erzählungen nicht nur Momentaufnahmen, sondern ganze Panoramen des Schreckens zu entwerfen. Lovecraft ist der Erfinder eines beklemmenden Horrors, der dann am effektivsten ist, wenn er dem Kopf des Lesers entspringt.

Die Sammlung „Vom Jenseits“ umfasst 32 Erzählungen, darunter „Cthulhus Ruf“ und „Das Grauen von Dunwich“ sowie den selten abgedruckten Kurzroman „Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath“. Neu übersetzt und erstmals zusammen in einem Band gesammelt, gehören diese Geschichten laut Verlag zu den Klassikern der Horrorliteratur. Mal sehn, ob das Buch diesen Anspruch einlösen kann.

Der Autor

Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) wird allgemein als Vater der modernen Horrorliteratur angesehen. Obwohl er nur etwa 55 Erzählungen schrieb, hat sein zentraler Mythos um die Großen Alten, eine außerirdische Rasse bösartiger Götter, weltweit viele Nachahmer und Fans gefunden, und zwar nicht nur auf Lovecrafts testamentarisch verfügten Wunsch hin.

Aber Lovecrafts Grauen reicht weit über die Vorstellung von Hölle hinaus: Das Universum selbst ist eine Hölle, die den Menschen, dessen Gott schon lange tot ist, zu verschlingen droht. Auch keine Liebe rettet ihn, denn Frauen kommen in Lovecrafts Geschichten praktisch nur in ihrer biologischen Funktion vor, nicht aber als liebespendende Wesen oder gar als Akteure. Daher ist der (männliche) Mensch völlig schutzlos dem Hass der Großen Alten ausgeliefert, die ihre Welt, die sie einst besaßen, wiederhaben wollen. Das versteht Lovecraft unter „kosmischem Grauen“. Die Welt ist kein gemütlicher Ort – und Einsteins Relativitätstheorie hat sie mit in diesen Zustand versetzt: Newtons Gott ist tot, die Evolution eine blinde Macht, und Erde und Sonne sind nur Staubkörnchen in einem schwarzen Ozean aus Unendlichkeit. Auf Einstein verweist HPL ausdrücklich in seinem Kurzroman „Der Flüsterer im Dunkeln“.

Die Erzählungen

Pickmans Modell (1927)

Der Großmeister des Horrors bemüht diesmal keine Großen Alten mit unaussprechlichen Namen, sondern ein paar simple Maler. Denkt man. Der Malerverein von Boston, Massachusetts, steht offenbar kurz davor, sein Mitglied Pickman auszuschließen. Seine Ansichten sind ja schon absonderlich, doch seine Motive sind – ja was? – grauenerregend.

Doch ein Kollege namens Thurber, der Ich-Erzähler, hält zu Pickman durch Dick und Dünn. Und so wird ihm die Ehre zuteil, Pickmans anderes Haus besuchen zu dürfen. Es liegt in einem uralten und verwinkelten Viertel, dem North Hill, nahe dem Corpse Hill Friedhof. Man sagt, das Viertel stamme aus dem 17. Jahrhundert, als im nahen Salem die Hexen gehängt wurden. Pickmans Ahnin sei eine davon gewesen, bestätigt der Künstler.

Die Motive der Gemälde und Studien, die Thurber zu sehen bekommt, sind noch um einiges erschreckender als das bislang Gesehene: Leichenfresser aus der Spezies von Mischwesen aus Mensch, Hund und Ratte, die Schläfern auf der Brust hocken (à la Füßli) und sie würgen.

Das Beste wartet aber im Keller, wo sich ein alter Ziegelbrunnen befindet, der möglicherweise mit den alten Stollen und Tunneln verbunden ist, die North Hill und den Friedhof durchziehen. Hier fallen Revolverschüsse, und Thurber gelingt es, ein Foto zu erhaschen, das die Vorlage zu Pickmans neuestem Gemälde zeigt. Was Thurber bislang für Ausgeburten einer morbiden Fantasie gehalten hat, ist jedoch konkrete, unwiderlegbare Realität …

Die Katzen von Ulthar

Die sehr kurze Story erklärt, wie es kam, dass in dem Städtchen Ulthar keine Katze mehr getötet werden darf. (HPL liebte Katzen.) Zu den geschilderten Ereignissen gehört auch das Eingreifen einer Göttin, der ägyptischen Gottheit Bastet.

Die Musik des Erich Zann (1925)

Diese kurze Geschichte ist sehr stimmungsvoll und detailliert erzählt. Sie spielt in Paris, und der „Student der Metaphysik“, der uns berichtet, findet die bewusste enge Straße nicht mehr, in der er in einem Mietshaus zum ersten Mal die Musik jenes stummen deutschen Geigers gehört hatte, den er als Erich Zann kennen lernte. Die Musik, die Zann ihm vorspielte, wenn sein Besucher im Zimmer war, ist normal: Fugen. Doch sobald er gegangen war, spielte er so unheimliche Melodien, dass den Studenten grauste. Bis zu jenem Tag, da der Besucher den Vorhang vor dem Fenster entfernte und die gähnende Schwärze des gierigen Kosmos dahinter schaute – und von dort eine Antwort erklang …

Die Anderen Götter

Der alte Weise Barzai wagt es, die Erdengötter auf ihrem heiligen Berg Hatheg-Kla zu besuchen. Wie sein Gehilfe Alar jedoch befürchtet, ereilt den Frevler am Gipfel ein schlimmes Schicksal: Er findet nicht die Erdengötter, sondern die Anderen Götter – und die lassen sich mit sich spaßen …

Cthulhus Ruf (1928)

Dies ist die grundlegende Erzählung, die jeder kennen muss, der sich mit dem Cthulhu-Mythos und den Großen Alten, die von den Sternen kamen, beschäftigt.

Der Erzähler untersucht die Hintergründe des unerklärlichen Todes seines Großonkels Angell, eines Gelehrten für semitische Sprachen, der mit 92 starb. Angel hatte Kontakt zu einem jungen Bildhauer namens Wilcox, der ein Flachrelief sowie Statuen erschuf, die einen hockenden augenlosen Oktopus mit Drachenflügeln zeigten. Wie sich aus anderen Quellen ergibt, ist dies der träumende Gott Cthulhu (sprich: k’tulu), einer der Großen Alten. Er wird in Westgrönland ebenso wie in den Sümpfen Louisianas verehrt, wo man ihm Menschenopfer darbringt. Am wichtigsten aber ist der Bericht eines norwegischen Matrosen, der im Südteil des Pazifiks auf eine Insel stieß, wo der grässliche Gott inmitten außerirdischer Architektur hervortrat und die Menschen verfolgte – genau zu jenem Zeitpunkt, als Angells junger Bildhauer (und viele weitere Kreative) verrückt wurden. Der Erzähler hat alle Beweise zusammen: Cthulhu und seine Brüder warten darauf, die Erde zu übernehmen, alle Gesetze beiseite zu fegen und eine Herrschaft totaler Gewalt und Lust zu errichten. Man brauche sie nur zu rufen, und sie würden in unseren Träumen zu uns sprechen …

Die Geschichte ist trotz ihres recht verschachtelten Aufbaus durchaus dazu angetan, die Phantasie des Lesers/Hörers anzuregen und ihn schaudern zu lassen. Das Erzählverfahren ist überzeugend, denn zuerst werden mehrere Berichte eingesammelt und überprüft, bevor im Hauptstück, dem Augenzeugenbericht eines Matrosen, das Monster endlich selbst auftreten darf, um seinen langen Schatten durch die Geschichte/Historie zu werfen.

Der boshafte Geistliche

Der Erzähler untersucht den Fall eines Geistlichen, der verschwunden ist. In dessen Bibliothek stößt er nicht nur auf esoterische, mitunter verbotene Schriften, sondern auch auf eine seltsam Lampe, die ein radioaktiv wirkendes Licht ausstrahlt. Daraufhin erscheinen Geister von Geistlichen – und werfen die Bücher ins Kaminfeuer. Doch der Geist des Verschwundenen will sich erhängen. Da geht unser Chronist dazwischen – und erleidet ein sonderbares Schicksal.

In der Gruft

Der alte Säufer George Birch ist im Jahr 1881 Totengräber, als ihm eine merkwürdige Sache widerfährt, die seinen Charakter verändert. Er soll neun Leichen aus ihren Gräbern holen und sie in die geräumige Gruft umbetten – in frischen Särgen. Leider scheint er dabei unvorsichtig zu sein, denn plötzlich bricht der Riegel an der Tür ab, die Tür fällt zu – und Birch ist in der Gruft eingeschlossen. Den einzigen Ausweg stellt ein Oberlicht dar, doch um dieses zu erreichen, muss er die neun Särge übereinander stellen. Als sein Fuß beim Hinaufsteigen in einen der Särge einbricht, krallen sich ihm unsichtbare Fingernägel in die Wade …

Die Ratten im Gemäuer

Ein Amerikaner aus Massachusetts hat in England das seit alters her verfluchte Gemäuer der Exham-Priorei wieder bezogen. Es ist der 16. Juli 1926. De la Poer, vormals Delapore, ist der Letzte seines Geschlechts, das in der Priorei seit dem 13. Jahrhundert gelebt hatte, bis Walter de la Poer im 17. Jahrhundert nach Virginia auswandern musste.

Doch die Grundmauern der Priorei sind weitaus älter. Sie stammen angeblich von den Römern des 2. Jahrhunderts, und hier wurden abscheuliche Riten für die Fruchtbarkeitsgöttin Kybele abgehalten und für den dunklen Gott Atys, der ebenfalls aus Kleinasien stammte. Wie De la Poer herausfindet, stammen die ältesten Mauern noch aus jungsteinzeitlicher Zeit, und wer weiß, was damals im Tempel geopfert wurde.

Nach einer Woche hört de la Poer das erste Trapsen und Trippeln in den Mauern seines Schlafgemachs. Auch alle neuen Katzen sind aufgeregt. Zusammen mit seinem Nachbarn Captain Norrys untersucht er den Keller und stößt auf den Altarstein der Kybele. Doch Norrys entdeckt, dass darunter noch eine Etage sein muss. Mit mehreren Gelehrten, darunter „Archeologen“, erforscht man den Tunnel unter dem Altarstein. Massenhaft Skelette, die Knochen von Ratten zernagt, bedecken die Treppe. Doch das Schlimmste kommt erst noch: eine unterdische Stadt aus uralter Zeit, in der nicht Menschen, sondern die Ratten das Kommando hatten, angeführt von Nyarlathotep, einem der Großen Alten …

Wie „Schatten über Innsmouth“ ist „Ratten“ eine Geschichte über Degeneration in einer Familie (genau wie in HPLs eigener) und was daraus wurde. Nur verstößt die Form der Degeneration gegen so große und viele Tabus, dass man es hier nicht wiedergeben kann. Die Story ist eine der am häufigsten abgedruckten des Meisters aus Providence.

Hypnos

Ein Künstler berichtet von dem grausigen Schicksal, das seinem besten Freund widerfahren ist. Als sie jung und wild waren, begannen sie, die Grenzen des Bewusstseins mittels Drogen hinauszuschieben und die Grenzen des Weltalts zu erkunden. Sein Freund äußerte sogar einmal den frevlerischen Wunsch (aber nicht laut), das bekannte Weltall beherrschen zu wollen.

Doch was er stattdessen fand, muss, so steht zu vermuten, im Sternbild der Corona Borealis (der nördlichen Krone) eine finstere und entsetzliche Macht gewesen sein. Der Freund alterte schneller als unser Chronist. Und als beide in London in einer Dachkammer hausen, gehen ihnen die Drogen aus. Und so hat der Freund keinen Schutz, als Corona Borealis aufsteigt und seinen unheilvollen Einfluss auf den Schlafenden ausübt …

Die Schreie unseres Berichterstatters rufen Nachbarn und Polizisten herbei. Doch seltsamerweise beglückwünschen sie ihn, denn er hat offensichtlich den schönsten klassischen Marmorkopf seit dem alten Hellas geschaffen. Und auf dem Sockel des Kopfes von unvergänglicher Schönheit steht eingemeißelt: HYPNOS. Schlaf.

Iranons Suche (1939)

Ein junger Mann, der sich Prinz Iranon nennt, trifft in der Stadt Teloth ein. Er möchte hier seine Lieder und Träume vortragen. Doch die Stadtherren halten wenig davon, vielmehr soll er sich beim Schmied melden, denn jeder Mann hier in Teloth habe einer ehrlichen Arbeit nachzugehen. Iranon lehnt betrübt ab. Er suche das im Mondlicht strahlende strahlende Aira, wo er sicherlich geboren worden sei. Nur ein Junge namens Nomrod schließt sich ihm auf der Suche nach Aira an. Möglicherweise ist das schöne Oonai, die Stadt des Tanzes und der Lieder, identisch mit Aira. Mal sehen.

Zusammen wandern Iranon und Nomrod viele Jahre, ohne Aira zu finden, doch während Nomrod zu einem Mann heranwächst, zeigt die Stirn Iranons keine einzige Falte und sein Haar keine einzige graue Strähne. Und so gelangen sie nach Oonai, und tatsächlich kann hier der Sänger seine Träume und Lieder vortragen, wofür ihn der König mit einem alten Purpurmantel belohnt. Unterdessen wird Nomrod dick und fett und lässt es sich wie Dionysos gut gehen. Bis zu einem frühen Tod.

Da zieht Iranon weiter, lässt allen Tand hinter sich und durchquert die Weiten der Welt, bis er zur Hütte eines alten Mannes kommt, der auf einem Abhang über einem tückischen Sumpf wohnt. Und von diesem Alten erfährt Iranon von seiner eigenen Herkunft und der sagenhaften Stadt Aira …

Das Weiße Schiff

Ein Leuchtturmwärter an der Ostküste träumt von jenem Weißen Schiff, das jedes Jahr aus dem Süden zu kommen pflegt. An Bord winkt ihm stets ein alter bärtiger Mann, mitzukommen. Doch da der Schiffsverkehr immer weniger geworden, hat der Wärter nichts zu tun, und so geht er diesmal „auf den Mondscheinstrahlen“ hinüber zum Schiff. Man segelt nach Süden und folgt einem blauen Vogel: in die Länder Zar, Thalarion und Xura. Alle sind zwar wunderschön und üppig, doch ihr Geruch entstammt einem Leichenhaus. Dafür ist Sona-Nyl, das „Land der Phantasie“, grün und fruchtbar und sicher, wo weder Schmerz noch Tod vorkommen.

Entgegen dem Rat des alten Mannes will jedoch unser Leuchtturmwärter jenseits der Basaltsäulen des Westens segeln, ins „Land der Hoffnung“. Doch, ach!, dort wartet nur ein rauschender Katarakt, in dem das Weiße Schiff zerschellt. Und als er wieder erwacht, findet er tatsächlich am Fuße der Klippen, auf denen sein Leuchtturm steht, den blauen Vogel tot und die Balken des Weißen Schiffs zerbrochen.

Diese schöne Story à la Lord Dunsany und E.R. Eddison ist natürlich höchst allegorisch: „Land der Phantasie“ und „Land der Hoffnung“ sind eindeutige sprechende Namen. Die Bedeutung ist entsprechend klar: Während die Phantasie sicher, schmerz- und todlos ist, trügt der Schein des „Landes der Hoffnung“ ebenso wie die Länder der Schönheit. Hier macht der Autor eine eindeutige Aussage: Er zieht die Phantasie der Realität und ihren Illusionen vor.

In den Mauern von Eryx (zusammen mit Kenneth Sterling)

Was wie eine planetare Abenteuergeschichte beginnt, endet in einem Albtraum. Die Menschen haben die dschungelüberwucherte Venus erobert, um dort Kristalle abzubauen, die der irdischen Energieerzeugung dienen. Doch auf dem Planeten leben reptilienartige Echsenmenschen, denen die Kristalle offenbar heilig sind. Als ein Mitarbeiter der Crystal Company auf dem Plateau von Eryx einen Kristall entdeckt, sind daher Echsenmenschen nicht weit. Bestimmt beobachten sie sein Bemühen, sich des Kristalls zu bemächtigen. Doch wie sich herausstellt, handelt es sich um eine Falle.

In dieser Falle hat sich bereits ein anderer Mitarbeiter gefangen. Als sich der neue Mitarbeiter, unser Berichterstatter, vorsichtig nähert, stößt er auf eine unsichtbare Mauer. Schlammbewurf zeigt, dass sie mit sechs Metern Höhe zu hoch zum Überklettern ist. Es muss also Öffnungen geben. Der Chronist begibt sich in das Labyrinth von Eryx, um an den Kristall heranzukommen …

Kühle Luft

Ein Mann fürchtet sich vor kühler Luft, und mit seiner Geschichte erklärt er den Grund dafür. Als er in New York City einer schlecht bezahlten Arbeit nachging, stieß er bei seiner Quartiersuche endlich auf ein recht gut erhaltenes dreistöckiges Herrenhaus, wo eine Spanierin namens Herrero möblierte Zimmer vermietete. Der Nachbar im Stock darüber war ein seltsamer Kauz. Dr. Munoz hat eine Ammoniakpumpe zwecks Kühlung seiner Räume eingerichtet und hält die Zimmertemperatur stets so niedrig wie möglich. Er behauptet, seine Krankheit zwinge ihn dazu.

Doch eines Tages fällt diese Kühlung aus. Während der Erzähler verzweifelt Eis und ein Ersatzteil herbeischafft, um seinem Bekannten zu helfen, kommt es zu einer Entwicklung, die dem zufälligen Besucher Grauen einjagt. Als endlich unser Erzähler eintrifft, gibt es für Munoz keine Rettung mehr. Das Schlimmste aber steht auf Munoz’ letzter Nachricht …

Diese Story erinnert an Poes Geschichten über „mesmerisierte“ Scheintote wie etwa im Fall Valdemar. Der Tod kann vielleicht scheinbar aufgehalten werden, doch wenn das eingesetzte Mittel versagt, sind die Folgen umso grässlicher.

Jenseits der Mauer des Schlafs

Ein Arzt, der an einer staatlichen Nervenheilanstalt arbeitet, untersucht den merkwürdigen Fall des Joe Slater. Dieser einheimische Bergbewohner Neuenglands ist zwar geistig minderbemittelt, kann aber in bestimmten, dem Wahnsinn ähnlichen Geisteszuständen grandiose Visionen formulieren. Dieses Paradox versucht der Arzt mit Hilfe einer selbstgebauten Apparatur aufzulösen, die ihm die Gedankenübertragung von Joes Gehirn zu seinem erlaubt.

Tatsächlich funktioniert das Experiment am 21. Februar 1901. Joes Geist durchdringt die titelgebende Mauer und betritt ein wunderbares Reich des Geistes. Dort begegnet er seinem Licht-Bruder, einem außerirdischen Geistwesen. Dieses erzählt dem Arzt von einem Unterdrücker, der ihm Unrecht angetan habe. Er, der Licht-Bruder, werde den Unterdrücker besiegen. Schon bald werde der Arzt ein Zeichen am Sternenhimmel sehen sehen, das als Beweis dienen soll …

Der Alchemist

Der letzte Angehörige eines verfluchten französischen Adelsgeschlechts berichtet, wie es ihm gelang, dem Fluch zu entgehen. Er ist bereits 90, doch der Fluch bringt den männlichen Erben der Familie den Tod, wenn sie erst 32 sind. Es war im 13. Jahrhundert, als der herrschende Graf den sogenannten „Alchemisten“, den Vater eines Zauberers, im Zorn erdrosselte. Der plötzlich verwaiste Sohn Charles le Sorcier belegte den Grafen mit dem Fluch, dass keiner seiner Nachkommen älter werden sollte, als er jetzt war und tötete ihn mit einem Gift.

600 Jahre lang zeigte der Fluch Wirkung, bis unser Chronist nur noch eine Woche hat, bis er selbst an der Reihe ist. Da durchstöbert er die letzten Winkel und Ecken der längst verlassenen Burg seiner Vorfahren und stößt tatsächlich auf ein unbekanntes Verlies. Wer ist der mittelalterlich gekleidete Mann, der ihn da in heruntergekommenem Lateinisch anschnauzt?

Das Mond-Moor

Denys Barry ist aus Amerika nach Irland ins Land seiner Väter zurückgekehrt und hat den alten Familiensitz Schloss Kilderry wieder hergerichtet. Das finden die Bauern der Grafschaft Meath völlig in Ordnung, jedoch nicht das, was Barry als nächstes vorhat: Er will das große Moor in der Nähe des Schlosses trockenlegen, um Torf stechen zu lassen und Landwirtschaft zu treiben. Die Bauern sagen, dass über das Moor seit jeher ein Schutzgeist herrsche, der jeden verfluche, der das Moor zerstöre.

Solcher Unsinn ficht einen Yankee nicht an, und er lässt Gastarbeiter aus Nordirland kommen. Als er sich einsam fühlt, bittet er seinen Freund, unseren Berichterstatter, um einen Besuch. In den mondhellen Nächten, in denen er ungewöhnliche Geräusche hört, kann unser Freund nicht schlafen. Was er draußen erblickt, scheint einem Traum zu entstammen: Zum Klang von griechischen Rohrflöten tanzen die Gastarbeiter mit fremdartigen Wesen wie etwa Wassernymphen und Faunen, während von den weißen Ruinen auf dem zentral im Moor gelegenen Inselchen ein unheimlicher Einfluss ausgeht. Ist es Traum oder Wachen, fragt sich der Beobachter. Sind die Arbeiter deshalb jeden Morgen so schlapp? Aber sie können sich anderntags an nichts mehr erinnern außer an seltsame Geräusche.

Der Tag, die Trockenlegung zu beginnen, rückt näher. Doch zugleich wächst auch der unheilvolle Einfluss, der von jenen Ruinen ausgeht. Die Entwicklung treibt einem schrecklichen Höhepunkt zu.

Gefangen bei den Pharaonen (zusammen mit Harry Houdini)

Der berühmte Entfesselungskünstler Harry Houdini alias Erich Weisz erzählt von einem Erlebnis, das er 14 Jahre zuvor im Jahre 1910 in Ägypten hatte. In seinem anfänglichen Reisebericht erweist sich der Erzähler als kenntnisreicher Berichterstatter, der auch über Tutanchamun Bescheid weiß, dessen Grab bekanntlich erst 1922 entdeckt wurde. Geleitet von einem Fremdenführer, der sich Abdul Reis Drogman nennt, besucht Houdini nicht nur Kairos Altstadt und Museen, sondern selbstverständlich auch die Pyramiden von Gizeh.

Ganz besonders fasziniert ist Houdini von der löwenköpfigen Sphinx, die das Gesicht des Königs Chephren trägt, der die mittlere der drei großen Pyramiden zwischen 2800 und 2700 v. Chr. erbauen ließ. Verblüfft stellt der Reisende eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Gesicht seines Fremdenführers und der Chephren-Statue im Ägyptischen Museum von Kairo fest.

Bei einem Streit zwischen Abdul Reis und einem jungen arroganten Reiseführer geht Houdini vermittelnd dazwischen. Beim folgenden Zweikampf darf er Abdul Reis sekundieren. Das Duell findet auf der Spitze der Cheops-Pyramide statt, welche bekanntlich keine Außenverkleidung mehr besitzt, wodurch die Spitze ziemlich breit ist. Doch der mitternächtliche Ringkampf stellt sich als Vorwand heraus, den die Araber benutzen, um den berühmten Entfesselungskünstler zu verhöhnen. Sie fesseln ihn und lassen ihn in einen sehr tiefen Schacht hinunter.

Sich zu befreien, ist einfach, doch nun geschieht etwas, mit dem Houdini nicht gerechnet hat. Die Geister von zusammengesetzten Mumien – Kombinationen aus Tier und Mensch – marschieren zu einem riesigen Tor in der Tiefe. Auch Chephren (Abdul Reis?) und dessen Königin Nitokris, die stets nur „Königin der Ghoule“ genannt wird, wohnen der Opferungszeremonie bei. Doch wem oder was opfern sie? Als Houdini dies herausfindet, rennt er um sein Leben.

Polaris (1918)

In einer Hütte über einem düsteren verlassenen Sumpf liegt unser Erzähler und versucht Schlaf zu finden, doch immer wenn der Polarstern leuchtet, glaubt er, der Fixstern verhöhnte ihn. Sein Geist wandert in eine Traumwelt, wo ebenfalls der Polarstern eine unheimliche Rolle spielt. Er schlüpft in die Gestalt eines von Anfällen geplagten Mannes, dessen Freund Alos der Kommandeur des Heeres ist. Es ist in Alarmbereitschaft versetzt worden, weil die grimmigen Horden der barbarischen Inulos im Begriff sind, die Passhöhe vor dem Plateau einzunehmen, auf dem die prächtige Marmorstadt Olathoe liegt. Alos vertraut ihm die Aufgabe an, die Männer zu warnen, sobald er den Feind kommen sieht. Doch ein Anfall unter Polaris’ Einfluss vereitelt die Ausführung der Aufgabe und so kommt es zum Untergang der schönen Stadt.

Vom Jenseits

Der junge Erfinder Crawford Tillinghast hat eine teuflische Maschine entwickelt, die er seinem Freund, unserem Berichterstatter, widerwillig vorführt. Aber es hat einen „Unfall“ gegeben: Die drei Bediensteten in Tillinghasts Haushalt sind spurlos verschwunden. Er muss seinem Freund erklären, wie es dazu kommen konnte.

Die Maschine, die ein kränklich violettes Licht sowie ein Spektrum von Tönen erzeugt, wirkt anscheinend auf die menschliche Zirbeldrüse ein und erweitert das Universum der Wahrnehmung erheblich. So kann man plötzlich ultraviolettes Licht sehen, das ja normalerweise unsichtbar ist. Fatalerweise erweitert sich aber auch das Hörspektrum und der Blick erreicht neue Dimensionen, in denen sich unheimliche, schleimige Wesen von relativ gefräßigem Appetit herumtreiben. Offenbar haben sie sich der Verschwundenen bemächtigt. Und genau jetzt sitzt unserem Erzähler eines dieser Dinger auf der linken Schulter … ein Schuss fällt …

Der Schreckliche Alte Mann

Drei Räuber beschließen, einen alten Mann in seinem Haus in Kingsport auszurauben. Denn sie haben erfahren, dass er mit 200 Jahre alten Münzen aus Gold und Silber zu bezahlen pflegt. Der alte Seefahrer muss also unermesslich reich sein. Dass er mit seltsamen Flaschen in seinem Haus zu sprechen pflegt und seltsame bemalte Steine in seinem Vorgarten stehen, tun sie als die übliche Verschrobenheit des Alters ab. Vielleicht hätten sie darauf achten sollen, denn ihr mitternächtlicher Besuch bei dem alten Mann verläuft ganz anders als geplant.

Das Grab

Schon in jungen Jahren ist Jervas Dudley ein „Träumer und Visionär“, wie er freimütig zugibt. Er interessiert sich für alles Morbide, was seine Eltern zu Kopfschütteln veranlasst. Als er die alte Gruft auf dem Friedhof entdeckt, wird seine Faszination zur Obsession. Aber der Eingang ist mit einer Kette und einem stabilen Vorgängeschloss geschützt, und er sieht ein, dass er mit dem Zutritt in dieses Paradies seiner Einbildungskraft noch Jahre warten muss. Entweder wird er stark genug, um das Schloss zu knacken oder er findet den Schlüssel.

Ihm gelingt Letzteres und so ist es ihm ein Leichtes, sich in der Gruft umzusehen. Hier liegt als wichtigster Insasse ein Sir Geoffrey Hyde, der wenige Jahre nach 1640 hier gestorben war. Die Hydes sind die mütterliche Seite von Jervas’ Vorfahren und er ist ihr letzter männlicher Spross. Das kommt ihm wie Vorbestimmung vor. Seine Obsession wird zum Wahn, als sich der Geist des alten Sir Geoffrey seiner zu bemächtigen beginnt …

Der Baum

In Arkadien steht über den Ruinen einer antiken Villa ein eindrucksvoller alter Olivenbaum, zu dem der Besucher, unser Erzähler, von einem alten Imker eine bemerkenswerte Geschichte hört. Demnach befand sich hier die Villa zweier Brüder namens Kalos und Musides, welche für ihre Bildhauerkunst bis nach Palästina und Sizilien berühmt waren. Doch trotz ihrer unterschiedlichen Gemütsart waren sie einander herzlich zugeneigt, und als der Tyrann von Syrakus eine Tyche-Statue bestellt, machten sie einander keineswegs Konkurrenz. Nicht, dass sie gemeinsam an einer Statue gearbeitet hätte, nein, jeder schuf seine eigene. (Genau das hatte der schlaue Tyrann bezweckt: Er würde zwei für den Preis von einer bekommen.)

Doch da wurde Kalos, der den Baumnymphen und Faunen zugewandte Träumer, krank, und niemand außer Musides durfte ihn pflegen. Kurz bevor er starb, bat er seinen Bruder, neben seinem begrabenen Kopf die Zweige ganz bestimmter Olivenbäume zu pflanzen. Musides errichtete ein wunderschönes Marmorgrabmal, doch ein größeres Wunder war die Geschwindigkeit, mit der neben dem Grab ein Ölbaum spross, bis er einen starken Ast über Musides’ Werkstätte reckte und ihm Schatten spendete. Und der Wind in den Zweigen scheint zu flüstern.

In der Nacht, bevor die Syrakusaner die bestellte Statue besichtigen und abholen wollen, wütet jedoch ein fürchterlicher Sturm, und am nächsten Morgen bietet sich ihnen ein Bild der Verwüstung. Doch von ihrer Statue und dem Künstler fehlt jede Spur.

Das Tier in der Höhle

Die Mammuthöhle in Amerika birgt eines der umfangreichsten Höhlensysteme der Welt. Ein vorwitziger Erforscher hat sich von der Gruppe, die weiter ihrem Führer folgt, entfernt, um abgelegene Pfade zu erkunden. Als seine Taschenlampe erlischt, umfangen ihn Dunkelheit und Stille. Er muss an die Kolonie von Schwindsüchtigen denken, die sich vor Jahren einmal Heilung in den Höhlen erhofft hat, doch man fand nur ihre zerstörten Hütten. Da hört unser Höhlenforscher ein merkwürdiges Geräusch von tapsenden Füßen, die sich anschleichen. Aber bewegt sich das Wesen auf zwei oder vier Füßen? Er wirft zwei Steine, die das unbekannte Wesen offenbar schwer verletzen. Als der Fremdenführer wieder auftaucht und mit seiner Taschenlampe das zur Strecke gebrachte Wesen anleuchtet, erleben die beiden eine böse Überraschung.

Das Verderben, das über Sarnath kam (1919)

Vor zehntausend Jahren kamen die ersten Menschen in das Land Mnar, und als sie dort Edelmetalle am Ufer eines großen Sees fanden, errichteten sie die Siedlung Sarnath. Dort schon Äonen zuvor war dies das Land des Volkes von Ib. Dieses verehrte die seegrüne Wasserechse Bokrug und errichteten ihr eine Statue. Als die Sarnather das für sie hässliche Volk von Ib überfielen und massakrierten, warfen die Krieger alls Leichen und Götzenbilder ins Wasser des Sees – mit einer einzigen Ausnahme. Die Statue des Bokrug trugen sie im Triumph in ihren eigenen Haupttempel. Doch in der Nacht danach kamen böse Geister, die das Götzenbild raubten. Der Hohepriester Taran-ish kratzte das Wort VERDERBEN in den Altar.

Doch während der tausend Jahre, in denen Sarnath zur Perle und Beherrscherin der Welt emporstieg, gedachten immer weniger Menschen der Warnung Taran-ishs. In der Nacht der Tausendjahrfeier jedoch kam das VERDERBEN über Sarnath, und von seinen Ruinen ist heute nichts mehr zu sehen. Nur die Statue des Bokrug wird heute noch im Lande Mnar verehrt …

Das Unbeschreibliche

Randolph Carter sitzt mit seinem Freund Joe Manton auf dem Friedhof von Arkham und behauptet, es gebe „das Unbeschreibliche“. Der Rationalist Joe glaubt ihm nicht. Carter beruft sich auf seinen Vorfahren Cotton Mather, der im 17. Jahrhundert für die Hexenprozesse in Salem bei Boston verantwortlich war. Mather habe eine teuflische Kreatur beschrieben, und diese treibe immer noch ihr Unwesen – ganz besonders in dem Häuschen direkt neben dem Friedhof, auf dem sie sich gerade befinden. Gleich darauf wird der praktische Beweis für diese Behauptung erbracht …

Celephais

Der Jüngling Kuranes träumt sich aus seiner Londoner Mansardenwohnung in das Land seiner Kindheit. Dort erschafft er die schöne Hafenstadt Celepahis, die im Tal Ooth-Nargai unter dem Berg Aran liegt. Die Händler auf den orientalischen Straßen kennen und begrüßen ihn freundlich. Frauen gibt es natürlich keine. Er geht an Bord eines Segelschiffs und fährt damit jenseits des Horizonts zur Wolkenstadt Serannian.

Leider wird seine Träumerei jäh unterbrochen. Daher versucht er vergeblich, Celephais wiederzufinden. Um seine Schlafphasen zu verlängern, greift er zu teuren Drogen, vor allem Haschisch. Als ihm das Geld ausgeht, wirft man ihn hinaus. Als Landstreicher irrt er zur Küste. Doch in seinem Traum wird er in eine Reiterkolonne der Stadt Celephais aufgenommen und darf sie anführen. In Glorie kehrt er in seine eigentliche Heimat zurück und wird dort zum König ernannt.

Diese pure Phantasie erinnert an Lord Dunsany und die nordischen Landschaften eines William Morris („Die Quelle am Ende der Welt“). Die Vision des kindlichen Paradieses scheint direkt einem Bilderbuch aus dem Goldenen Zeitalter der Viktorianer und Edwardianer entnommen zu sein: unschuldige Schönheit mit dem Gefühl, hier der Herr zu sein. Es ist das Bewusstsein eines Kolonialherrschers, doch der Geschmack eines [Dandys. 716 Für den anglophilen Lovecraft war es der Idealzustand eines Gentleman.

Das Grauen von Dunwich (1929)

Dieser fast 70 Seiten lange Kurzroman ist in zehn Kapitel eingeteilt und konsequent auf die Erzielung eines bestimmten Effektes – kosmischen Grauens – ausgerichtet. Der Horror kommt in sich steigernden Stufen, eine unheilvoller als die vorangegangene – bis zum Finale und einer Pointe, die auf den Anfang verweist, wodurch sich die schauderhafte Wirkung noch einmal potenziert (also nichts für zarte Gemüter).

In der ländlichen Gegend der Aylesbury-Hügel Neuenglands soll es laut der Story mehrere Opferstätten gegeben haben, mit stehenden Steinen und Felsplatten, auf denen satanische Riten vollzogen wurden. (Merke: Nahe dem englischen Aylesbury befindet sich Stonehenge, und die Story kann als Kommentar auf englische Verhältnisse gedeutet werden.) Die wichtigste davon ist der Sentinel Hill: Hier stinkt es, und der Berg grollt – besonders zu Walpurgis (30.4.) und Halloween (31.10.).

Die Menschen, die hier siedeln, sind einfache Bauern – mit zwei Ausnahmen: den bessergestellten Sippen der Whateleys und der Bishops, die beide aus Salem stammen, wo im 17. Jahrhundert die berühmten Hexenprozesse stattfanden. Es geht um einen Sippenzweig, den man allgemein die Hexen-Whateleys nennt und der abgelegen wohnt.

Am 2.2.1913 kommt Wilbur Whateley zur Welt, und sein Vater ist unbekannt. Seine Mutter ist die albinoweiße und entstellte Lavinia, die im Haus ihres Vaters, des Alten, lebt. Wilbur wächst rasend schnell, nicht nur körperlich, sondern auch geistig, und sieht aus wie ein Ziegenbock. Er versetzt alle Hunde in Wut und erschießt auch den einen oder anderen. Schon mit vier Jahren ist er so groß wie ein 15-Jähriger. Sein Vater lehrt ihn die Geheimnisse der Großen Alten. Im Obergeschoss lebt aber noch ein weiteres Wesen, das man nie zu Gesicht bekommt, sondern nur hören und – leider – riechen kann.

Als der Alte stirbt, bekommt der junge Wilbur, inzwischen über 2,10 Meter groß, ein Problem: Er muss die Verbindung zwischen dem Wesen im Obergeschoss und dessen Vater Yog-Sothoth herstellen, damit es gelenkt werden kann. Leider fehlt ihm dazu die korrekte Beschwörungsformel in seiner Ausgabe des verbotenen Buches „Necronomicon“. Durch seinen (vergeblichen) Besuch in der Uni-Bibliothek von Arkham alarmiert er den dortigen Gelehrten, der sofort alle anderen Bibliotheken verständigt. Daher versucht Wilbur eines Nachts, das Buch aus der Uni zu rauben – und der Anblick, der sich den Gelehrten bietet, ist nicht abdruckfähig.

Während der Bibliotheksleiter Dr. Henry Armitage fieberhaft das Tagebuch Wilburs zu entschlüsseln versucht, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen, bricht das Wesen in Dunwich aus und verbreitet Angst und Schrecken: Durch Unsichtbarkeit unangreifbar, frisst es nicht nur Viehherden, sondern auch deren Besitzer.

Doch dann findet Armitage eine Gegenbeschwörung, und zusammen mit zwei Kollegen sowie den Bauern der Gegend ziehen die Ghostbuster aus, dem dämonischen Ungeheuer, das bislang niemand gesehen hat, aber groß wie ein Haus sein muss, den Garaus zu machen.

Der leuchtende Trapezoeder (1936: The Haunter of the Dark)

Wurde der Anthropologe Robert Blake in der Nacht des 8.8.1935 vom Blitz erschlagen? Oder hat ihn sich eine Kreatur der Großen Alten geschnappt? Die Meinungen der Gelehrten und Experten gehen auseinander. Was hier also erzählt wird, hält sich an Blakes Tagebuch. Darin berichtet er von seiner Faszination für den düster emporragenden Kirchturm aus dem Federal Hill des Städtchens Providence (wo auch HPL lebte). Bei näherer Untersuchung zeigt sich, dass das verwahrloste Gebäude schon seit fast 60 Jahren keinen sakralen Charakter hat. Ab 1846 hatte ein Archäologe hier einen Sektenkult namens Starry Wisdom (Weisheit von den Sternen) eingerichtet.

Blake findet in der Turmstube, wo eigentlich Glocken sein sollten, nur sieben leere Stühle und Steinplatten, ein Reporter-Skelett aus dem Jahr 1897 – und eine Schatulle mit einem leuchtenden Stein darin. Hineinschauend erblickt er grauenerregende kosmische Weiten und schwarze Planeten, wo die Großen Alten hausen. Dann begeht er einen schwerwiegenden Fehler: Von einem Geräusch über sich erschreckt, klappt er die Schatulle zu. Da nun kein Licht mehr das Ding im Turmhelm fernhält, treibt es alsbald lautstark sein Unwesen in der entweihten Kirchen, so dass die gläubigen italienischen Einwanderer das Zähneklappern kriegen. Doch das Ding weiß, wo sich Blake aufhält und holt ihn …

Dies ist eine sehr dicht aufgebaute und stimmungsvoll erzählte Geschichte, die zielbewusst auf den grauenerregenden Schluss zusteuert, der nur aus panischem Gestammel des Tagebuchschreibers besteht. Aus dem, was Blake in der alten Kirche fand, haben andere Autoren ganze Erzählungen geschmiedet. Und weil so viele Fragen offen blieben, schrieb Robert Bloch eine Fortsetzung (abgedruckt in [„Hüter der Pforten“, 235 Bastei-Lübbe).

Die Aussage von Randolph Carter

Randolph Carter macht vor der Polizei eine Aussage, denn schließlich ist der Tod seines Freundes Harley Warren aufzuklären. Warren hatte okkulte Studien getrieben und aus Indien ein spezielles Buch erhalten, vermutlich das verfluchte „Necronomicon“. Damit begab er sich zu einem uralten, verlassenen Friedhof und öffnete eine bestimmte Gruft. Carter musste zurückbleiben, war aber durch Draht mit einem tragbaren Telefonapparat, den Warren mitnahm, mit seinem Freund verbunden.

Nach etwa halben Stunde beginnt Warren sich zu melden. Er warnt seinen Freund vor grauenerregenden Wesen, auf die er gestoßen sei: vermutlich Leichenfresser, Ghule. Carter solle schnellstens die Grabplatte über den Eingang schieben, sonst sei er selbst in höchster Gefahr. Das unterlässt Carter allerdings, will lieber seinem Freund zu Hilfe kommen, und so nimmt das das Unglück seinen Lauf …

Der Silberschlüssel

Randolph Carter verliert in jungen Jahren den Zugang zum Tor der Träume. Als ob er den Schlüssel zum Land seiner Kindheit verloren hätte. In den folgenden Jahren durchläuft er eine Auseinandersetzung mit dem Materialismus seiner Epoche, ja, er geht sogar nach Frankreich, um 1916 zu kämpfen. Er wendet sich dem Okkultismus zu, und in Arabien trifft er einen verrückten Schatzgräber (Abdul Alhazred?).

Doch erst in den Träumen, die er im Haus des Großvaters in seiner Heimatstadt hat, erhält er den ersten Hinweis zum Silberschlüssel. In einer geschnitzten Holzschachtel findet sich das Objekt. Wie unter geistigem Zwang reist er zu dem Bauernhaus seiner Ahnen, in dem er seine Kindheit verbrachte. Nach einer Nacht dort begibt er sich auf eine Erkundung in die „Schlangengrube“ genannte Höhle, die tief im Wald liegt. Und seitdem wurde er nie wieder gesehen. Der Silberschlüssel aber auch nicht …

Durch die Tore des Silberschlüssels (zusammen mit E. Hoffman Price)

Vor vier Jahren, am 7. Oktober 1928, verschwand also Randolph Carter in einer Höhle in Neuengland. Er hinterließ lediglich ein Pergament-Manuskript, das mit merkwürdigen, rätselhaften Hieroglyphen bedeckt ist, sowie eine Fotografie seines antiken Silberschlüssels, den er mitnahm.

Nun geht es um die Aufteilung seines Nachlasses. In New Orleans sind vier Herrschaften zusammengekommen. Carters Cousin, der Anwalt Aspinwall, scheint ein Raffzahn und Zweifler zu sein. Doch ein Mystiker aus Arkham, ein gewisser Ward Phillips (= HPL!), behauptet, dass dies alles nicht rechtens sei, da Carter noch lebe und als König in der Traumstadt Ilek-Vad herrsche. Der Ex-Freund Carters, ein französischer Kriegskamerad und Mystiker namens de Marigny, führt den Vorsitz und ist unparteiisch.

Daher erweist sich der indische Brahmane namens Swami Chandraputra als Zünglein an der Waage. Er tischt den versammelten Herren eine abgefahrene Science-Fiction-Story auf, die er aus Korrespondenz mit Carter erfahren haben will [und die den Großteil des Textes ausmacht]. Carter sei durch zwei Tore des Silberschlüssels gegangen, habe sich seiner stofflichen Hülle entledigt und so schließlich zum Planeten Yaddith gelangt. Dort lebte er unter klauenbewehrten, tapirschnauzigen Aliens, vorzugsweise im Körper des Zauberers Zkauba.

Doch musste Carter zu seinem Entsetzen feststellen, dass der Silberschlüssel nicht ausreichte, um ihm seine menschliche Gestalt zurückzugeben. Dazu brauchte er den Zauberspruch auf dem Pergament, das er in Neuengland zurückließ. Also baute sich Carter mit Hilfe des Zaubererkörpers ein Gefährt für die Durchquerung des Alls und machte sich auf die Reise zur Erde. Dort traf er im Jahr 1930 ein, allerdings nicht in menschlicher, sondern yaddithischer Gestalt.

Dreimal dürfen wir raten, wer sich nun hinter der Maske des Swami Chandraputra verbirgt …

Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath (S. 633-798)

Der Roman handelt von den traumartigen Erlebnissen des Randolph Carter, der autobiographische Züge (s. o.) aufweist. Auf der Suche nach der zauberhaften Stadt seiner Sehnsucht gelangt er in eine Unterwelt, die dem griechischen Totenreich Hades ähnelt. Dies ist Lovecrafts pittoreske Darstellung einer Hölle: eine Traumwelt, bevölkert mit seltsamen Erscheinungen und Fabelwesen wie den riesenhaften Shantak-Vögeln, den scheuen, aber freundlichen Zoogs, riesigen Ungeheuern wie Gugs und Ghasts sowie einer Schar von Ghoulen. Unter diesen befindet sich der bekannte Bostoner Maler Richard Upton Pickman, den Carter von früher kennt (vgl. „Pickmans Modell“).

Nach zahlreichen Abenteuern begegnet Carter in der aus Onyx erbauten Burg auf dem Gipfel des „unbekannten Kadath“ dem dämonischen Nyarlathotep, genannt das „kriechende Chaos“ und einer der mächtigsten und gerissensten „Großen Alten“.

Anstatt ihm den Weg zu der gesuchten Traumstadt zu weisen, verleitet der Dämon Carter dazu, einen kosmischen Flug auf dem Rücken eines monströsen, pferdeköpfigen Shantak-Vogels zu unternehmen. Der soll ihn zu dem chaotischen Abgrund bringen, wo der formlose Erzdämon Azathoth herrscht, dessen Namen man nicht laut aussprechen darf.

Carter ahnt die Gefahr, die ihm von Azathoth droht, und es gelingt ihm, noch rechtzeitig von dem Shantak abzuspringen. Nach endlosem, schwindelerregendem Fall durch kosmische Räume findet Carter sich schließlich in seiner Heimatstadt Boston wieder. Er ist zum Ausgangspunkt seiner geträumten Odyssee zurückgekehrt.

Mein Eindruck

Neben reinen Horrorgeschichten schrieb H.P. Lovecraft in den 1920er Jahren auch einige Fantasy-Erzählungen. Diese schildern Welten, deren Tore man nur im Traum durchschreiten kann. Träume waren für HPL seit seinem sechsten Lebensjahr immer sehr wichtig, als er, inspiriert von den Geschichten seines Großvaters, begann, von schrecklichen Monstern, den „night gaunts“, zu träumen.

Als Beispiele für diese Traumphantasien, die in der Art von Lord Dunsany, Irland, verfasst sind, seien „Das Verderben, das über Sarnath kam“, „Das merkwürdige hochgelegene Haus im Nebel“, „Die Katzen von Ulthar“ sowie „Celephais“ genannt. Desweiteren gehören dazu die um den Helden Randolph Carter, ein Alter Ego HPLs, gruppierten Geschichten „Der Silberschlüssel“ und „Durch die Tore des Silberschlüssels“ (zusammen mit E. Hoffman Price).

Der Kurzroman „Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath“ wurde in dieser Periode zwischen 1926 und 1927 niedergeschrieben, aber erst 1943 posthum veröffentlicht. Dem Romanmanuskript fehlt eindeutig eine letzte Ausarbeitung. Diese unterließ HPL, weil sein Manuskript von einem Herausgeber (Farnsworth Wright) abgelehnt worden war. Bestimmend ist in der Geschichte die Figur des Randolph Carter, der mit den großen Alten unangenehme Bekanntschaft macht.

„Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath“

„Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath“ ist sehr umstritten, was die Beurteilung anbelangt. Liebhaber der heroischen Fantasy wie Lyon Sprague de Camp und der HPL-Verehrer Lin Carter äußerten sich lobend darüber. Andere hingegen wie der HPL-Herausgeber und -„Kollaborateur“ August Derleth meinten, dass es ein wenig gelungenes Werk sei. Dem kann ich nur zustimmen.

Es ist eine Aneinanderreihung von bizarren Einfällen, enthält zuweilen farbig geschilderte Episoden und reiche Symbolik, aber das Ganze enthält keine Klammer und baut keine innere Spannung auf. Wenn man wollte, könnte man die Geschichte für psychoanalytische Studien als Steinbruch benutzen, aber das liegt dem normalen Fantasyleser fern. Dem HPL-Freund fallen sicher zahlreiche Querverweise zu anderen HPL-Fantasies auf (s.o.), aber auch zum Cthulhu-Mythos, den HPL mit einer Schar eingeschworener Brieffreunde ausbaute.

Heutige Leser mit durchschnittlichen Ansprüchen an Fantasy und Horror werden jedoch die langen Beschreibungen und zahllosen ereignislosen Passagen langweilen. Und zumindest mir ging es so, dass ich die Lektüre kaum schaffte, ohne zuletzt völlig genervt zu sein.

Dem Kurzroman fehlt eindeutig eine Überarbeitung, also Straffung, und eine letzte Ausfeilung, insbesondere in sprachlicher Hinsicht. Hier frönt HPL noch seinem alten „Laster“, massenhaft beschwörende Adjektive aufzustapeln, sie mit „unheiligen“ Verben und Substantiven zu verkuppeln, bis man kaum noch weiß, welche Struktur der Satz aufweist. Dieses Buch eignet sich nicht einmal für das Parodieren, weil es offensichtlich a) zu lang ist, b) völlig unbekümmert drauflos fantasiert und c) ihm daher eine wie auch immer geartete künstlerische Absicht nur schwer zu unterstellen ist. Eine Parodie jedoch ist eine Entgegnung auf eine solche Absicht.

Die anderen Erzählungen

Die vorliegenden Erzählungen wurden bereits in den |Suhrkamp|-Editionen „Die Katzen von Ulthar“, „In der Gruft“ und „Chthulhus Ruf“ veröffentlicht. Endlich liegen sie in einer sehr preiswerten Ausgabe in Neuübersetzung vor. Wo ich es angegeben habe, ist die literarische Qualität sehr hoch, z.B. in „Das Grauen von Dunwich“, „Der leuchtende Trapezoeder“ oder „Cthulhus Ruf“.

Viele andere Geschichten, insbesondere alle aus „In der Gruft“, übersteigen das Mittelmaß keineswegs, obwohl sie durchaus kompetent geschrieben sind. Harry Houdinis Story „Gefangen bei den Pharaonen“ bietet die seltene Gelegenheit, den klaren und übersichtlichen Houdini-Erzählstil vom Lovecraft’schen Stil der raunenden Beschwörung zu unterscheiden. Der Unterschied ist gut erkennbar.

Für die großen Novellen „Berge des Wahnsinns“ und „Schatten über Innsmouth“ sowie für die SF-Novellen „Die Farbe aus dem All“, „Der Flüsterer im Dunkeln“ und „Der Schatten aus der Zeit“ war in dieser Sammlung kein Platz, aber sie seien jedem HPL-Interessierten empfohlen. Vielleicht erscheinen sie in einer gesonderten Ausgabe.

Die Übersetzung

… von Florian Marzin ist durchaus gelungen. Es gibt nur zwei Aspekte, die mich stören. Alle Gedichte wurden nicht neu übersetzt, sondern direkt dem Erzählband „In der Gruft“ entnommen“ (natürlich mit Genehmigung des Suhrkamp Verlags). Zum anderen scheint Marzin eine Vorliebe für den Ausdruck „Dinger“ zu haben. Dieser Ausdruck stammt aus der Umgangssprache. In der Schriftsprache sollte man sich gemäß meinem Sprachempfinden des Ausdrucks „Dinge“ bedienen. Allerdings gibt es Fälle, in denen man nicht ständig von „Dingen“ oder „Dingern“ reden kann. Da sollte man eine Alternative suchen.

Das Vorwort

Das Vorwort von Hans Joachim Alpers (S. 10-19) informiert den Leser, der erst noch einen Zugang zu HPLs Werk und Verständnis sucht, auf kompetente und einfach verständliche Weise über die biografischen und publizistischen Hintergründe des Werks dieses Horrormeisters. Zu Lebzeiten war es meist nur einem kleinen Kreis von Fans des Arkham House Verlags vertraut. Erst 1968 wurde es auch hierzulande kontinuierlich übersetzt und veröffentlicht, z. B. von Kalju Kirde und H. C. Artmann. Inzwischen sind eine Reihe wichtiger Novellen auch im Hörbuch zu genießen, professionell produziert von LPL records.

Unterm Strich

In diesen, seinen besten Geschichten befolgt Lovecraft konsequent die Forderung Edgar Allan Poes, wonach eine „short story“ in allen ihren Teilen auf die Erzielung eines einzigen Effektes ausgerichtet sein solle, egal ob es sich um die Beschreibung eines Schauplatzes, von Figuren oder um die Schilderung der Aktionen handele, die den Höhepunkt ausmachen (können).

Um die Glaubwürdigkeit des berichteten Geschehens und der Berichterstatter zu erhöhen, flicht Lovecraft häufig zahlreiche – verbürgte oder meist gut erfundene – Quellen ein, die beim weniger gebildeten Leser den Unglauben aufheben sollen. Erst dann ist die Erzielung kosmischen Grauens möglich, das sich Lovecraft wünschte. In den meisten Erzählungen gelingt ihm dies, und daher rührt auch seine anhaltende Wirkung auf die Schriftsteller weltweit. Erfolgreiche Serien wie Brian Lumleys „Necroscope“ oder Hohlbeins [„Hexer von Salem“ 249 wären ohne Poe und Lovecraft wohl nie entstanden.

Das heißt aber nicht, dass Lovecraft keine negativen Aspekte eingebracht hätte. Als gesellschaftlicher Außenseiter, der nur intensiv mit einer Clique Gleichgesinnter kommunizierte (er schrieb Briefe wie andere Leute E-Mails), ist ihm alles Fremde suspekt und verursacht ihm Angst: Xenophobie nennt man dieses Phänomen. Darüber hinaus hegte er zunächst rassistische und antisemitische Vorurteile (wie leider viele seiner Zeitgenossen), so dass er von kultureller Dekadenz und genetischer Degeneration schrieb. Degeneration ist das Hauptthema in „Grauen von Dunwich“ und „Schatten über Innsmouth“.

Es gibt auch eine ganze Reihe früher Erzählungen, die uns heute wie pure Fantasy anmuten, ja, die sogar antike Schauplätze haben. Sie sind unterhaltsam zu lesen, aber allzu viele dieser literarisch mittelmäßigen Leicht- oder Fliegengewichte möchte man dann doch nicht über sich ergehen lassen. Deshalb bilden eine Reihe exzellenter Novellen wie „Cthulhus Ruf“ das Fleisch in der Suppe. Die Übersetzung ist kompetent, greift aber bei den Gedichten auf die Suhrkamp-Ausgaben zurück.

Insgesamt ist dieses Buch eine für Einsteiger sehr gut geeignete Einführung in das Werk des Phantasten aus Providence, zumal diese Ausgabe relativ preiswert ist.

Barker, Clive – Bücher des Blutes I-III, Die

_Das Leben der Toten, Dämonen und Verdammten: preisgekrönter Horror_

Nichts für schwache Gemüter und zartbesaitete Seelen – so lautet die Warnung im ursprünglichen Vorwort von Ramsey Campbell, ebenfalls ein renommierter Horrorautor. Für seine „Bücher des Blutes“ bekam Clive Barker 1985 den |World| und den |British Fantasy Award|. Seine Schrecken sind (meist) in der realen Welt angesiedelt, im Hier und Jetzt, oft sogar mitten in der Großstadt.

_Der Autor_

Clive Barker lieferte die literarischen Vorlagen für die Filme „Lord Of Illusions“, „Hellraiser“ (selbst verfilmt), „Cabal“ und „Candyman“. Zu seinen wichtigsten Werken gehören neben den „Büchern des Blutes“ auch „Imagica“, „Weaveworld“ (dt. „Gyre“) und „The Damnation Game“ („Das Spiel des Verderbens“). In den letzten Jahren hat er sich etwas zurückgehalten, doch mit „Coldheart Canyon“, das im September 2004 bei |Heyne| erschienen ist, gelang ihm ein kühner Kommentar auf das Filmbusiness, das er schon so oft aufgegriffen hat. In Kürze soll auch sein neuester Fantasy-Jugendroman „Abarat“ bei |Heyne| erscheinen.

_Storys in Band 1_

„Das Buch des Blutes“, sozusagen der Prolog, erzählt vom 20-jährigen Simon McNeal, der sich als Medium für die Botschaft der Toten ausgibt und seinen Schwindel grausam bezahlen muss. Die Toten und Verdammten schreiben ihre Geschichten auf seine Haut – kein Schwindel …

In „Der Mitternachts-Fleischzug“ verwandelt sich die New Yorker U-Bahn in einen Transporter zum Schlachthof, der die unterirdischen, wahren Herrscher Amerikas mit köstlichem Menschenfleisch versorgt.

„Das Geyatter und Jack“ ist auch als illustriertes Comic-Book unter dem Titel „Ein höllischer Gast“ erschienen. Hier legt sich ein englischer Importeur von Gewürzgurken namens Jack Polo mit einem Sendboten der Hölle an, der die Aufgabe hat, Jack in die Klauen des Wahnsinns zu treiben, um seine Seele der Hölle zu überantworten. Mal sehen, wer den Kürzeren zieht.

In „Schweineblut-Blues“ verwandelt sich ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche zum Wallfahrtsort für eine Mastsau, die allem Anschein nach die Reinkarnation eines ehemaligen Insassen des Heims ist. Hier bekommen alle Beteiligten den Blues.

In „Sex, Tod und Starglanz“ gibt ein Theater und dessen Truppe (Barker schrieb eine Menge erfolgreicher Theaterstücke) eine letzte Abschiedsvorstellung mit Shakespeares „Was ihr wollt“ vor dem fachkundigen Publikum des halbverwesten örtlichen Friedhofs. Hier wird das alte Motiv des „Phantoms in der Oper“ neu und überraschend variiert.

Die letzte Geschichte im Band ist auch die eindrucksvollste und haarsträubendste. „Im Bergland: Agonie der Städte“ ist ein außergewöhnliches Schauspiel, das zwei homosexuelle Engländer in Jugoslawien (als es das noch gab) erleben. Die Einwohner zweier verfeindeter Städte (‚Agonie‘ bedeutet Todeskampf) haben sich jeweils an einem Gerüst zu einem Riesen zusammengebunden. Diese beiden Riesen marschieren nun aufeinander zu. Was folgt, muss man selbst gelesen haben.

_Fazit zu Band 1:_

Um mit Barker zu sprechen: „Am besten macht man sich auf das Schlimmste gefasst, und ratsam ist es, erst einmal die Gangart zu erlernen, ehe einem die Luft für immer wegbleibt.“ Jede der Geschichten für sich allein weckt selbst beim abgebrühtesten Leser einen ganz speziellen Schauder, den nur wirklich gute Horrorstorys erzeugen können. Die Übersetzungen von Peter Kobbe sind zumindest hier noch sehr gut. Viele dieser Storys wurden verfilmt, und als Klassiker gehört „Das erste Buch des Blutes“ in die Sammlung jeden Horrorfans.

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Auch im zweiten Band der Serie steht Clive Barker auf der Seite der Monster. Bei ihm sterben Sympathiepersonen, und das Gute wird nicht immer belohnt. Das macht ihn so ungewöhnlich. „Keine Wonne kommt der des Grauens gleich – solange es nicht das eigene ist“, schreibt der Autor in seiner ersten Geschichte hier.

_Storys in Band 2_

In „Moloch Angst“ lernen wir einen Psychopathen kennen, der mit allen Mitteln versucht, die Ängste seiner Zeitgenossen zu brechen. So sperrt er etwa eine Vegetarierin mit einem Stück Fleisch in eine Kammer ein, bis sie darüber herfällt. Im Verhalten, das seine Gefangenen an den Tag legen, sucht er den Schlüssel zu seiner eigenen Angst. Der Schluss der Story ist leider schon frühzeitig zu erahnen.

Auch die Grundidee von „Das Höllenrennen“ wirkt etwas an den Haaren herbeigezogen: Die Hölle macht einen Marathon mit (Merke: Die Briten sind große Läufer!). Unter der Hand jedoch geht es um nichts weniger als den Fortbestand der Welt, wie wir sie kennen. Barker greift zwar mit allen Stilmitteln in die Vollen, doch Spannung will nicht so recht aufkommen.

Da lob ich mir doch die folgende Geschichte (ah, wohlige Schauder!) – sie wird immer wieder in Anthologien aufgenommen, zu Recht ein literarisches Juwel: „Jacqueline Ess: ihr Wille, ihr Vermächtnis“. Jacqueline entdeckt ihre Fähigkeit der Telekinese und damit die Möglichkeit, per Gedankenkraft den Körper eines anderen Menschen zu zerstören. In einem Wutanfall vernichtet sie ihren widerlichen Ehemann und knetet seinen Kadaver zu einem Klumpen zusammen. Danach irrt sie ziellos durch die Welt, auf der Suche nach jemandem, der ihr hilft, ihre Furcht erregenden Fähigkeiten in den Griff zu bekommen …

Diese Erzählung ist eine schmerzhafte Elegie voll Sex und Sinnlichkeit, die stetig auf einen ungeheuren Höhepunkt zustrebt und deren Ende einer ungehemmten Explosion gleichkommt – mit Abstand die beste Story dieses Bandes.

In „Wüstenväter“ tummeln sich fleischige Dämonen in der Wüste, ein schießwütiger Sheriff macht mit seiner Gemeinde Jagd auf sie. Spannende Situationen und eine bizarre Spannung schaffen eine Stimmung, wie man sie selten in einer Story findet.

Wie eine Verbeugung vor dem Vater der Horror- und Detektivgeschichten, Edgar Allan Poe, klingt der Titel der abschließenden Erzählung: „Neue Morde in der Rue Morgue“. Wieder einmal ist ein mordender Affe der Täter. Er hat von seinem mittlerweile in Haft sitzenden Besitzer gewisse ‚menschliche‘ Züge anerzogen bekommen. Nun, da der Meister nicht mehr präsent ist, dreht er durch und betätigt sich als ‚Jack the Ripper‘ an Prostituierten. Ein cleverer Detektiv-Verschnitt kommt ihm auf die Spur, kann aber angesichts dieses Elends nicht handeln und zieht sich durch Selbstmord aus der Affäre. Anstatt dass Barker den Affen stilecht über den Jordan gehen lässt, darf der Bösewicht weiterleben, in seinem Anzug nur schwer zu unterscheiden von einem Betrunkenen in der Nacht …

_Fazit zu Band 2_

Auch „Das zweite Buch des Blutes“ bietet eine nicht immer gelungene Mischung aus völlig unterschiedlichen Storys, die teilsweise innovativ und rundherum erfrischend wirken. Insbesondere „Jaqueline Ess – ihr Wille und Vermächtnis“ ist unbedingt Pflichtlektüre für Horrorfans.

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Waren die ersten beiden Bände erstklassiger Stoff, so fallen im dritten Buch sowohl das Niveau der Einfälle als auch die Spannung in den fünf Erzählungen ziemlich ab.

_Die Storys in Band 3_

Schon die erste Story „Rohkopf Rex“ ist bezeichnend für diese Kollektion. Ein riesiges, Menschenfleisch fressendes Monster liegt unter einem großen Stein auf einem brachliegenden Feld begraben. Als der Bauer in mühsamer Arbeit den Stein wegräumt, kommt auch der Titel gebende Rohkopf frei und beginnt nun mordend die Protagonisten aufzufressen, bis ihm ein Familienoberhaupt eine Fruchtbarkeitsgöttin an den Kopf wirft. Das Resultat ist reichlich unappetitlich.

„Bekenntnisse eines (Pornographen-) Leichentuchs“ ist auch nicht viel besser. Ein Spießbürger arbeitet als Buchhalter für einen Pornoverkäufer, ohne über die delikate Ware im Bilde zu sein. Als er in der Zeitung damit in Verbindung gebracht wird, sucht er Rache, wird aber umgelegt. Sein Geist schlüpft in sein eigenes Leichentuch und formt daraus einen auf Vergeltung sinnenden Körper.

„Der Zelluloidsohn“ wurde in Barkers Interviews immer als recht interessant angesprochen, erfüllt aber nicht die Erwartungen. Ein an Krebs erkrankter Verbrecher schleppt sich mit letzter Kraft in ein Kino und stirbt dort. Fortan spukt es im Kinosaal, und John Wayne (selbst an Krebs gestorben) und Marilyn Monroe (brachte sich um) sorgen für Tod und Sex. Dahinter steckt der lebende Krebs. Eine reizvolle Idee, deren Ausführung aber als nicht gerade gelungen zu bezeichnen ist.

„Sündenböcke“ ist eindeutig die beste Story des Bandes. Hier strandet ein Boot auf einer nicht in den Karten verzeichneten Insel, unter der die Toten des Meeres ruhen. Natürlich wird diese Ruhe heftig gestört. Der Leser ahnt in diesem Text am ehesten die Wort- und Ideengewalt des |enfant terrible| der Horrorliteratur.

„Menschliche Überreste“ wurden in einem Grab aus der Zeit des römischen Britanniens gefunden, die Skulptur eines Standartenträgers namens Flavius, wie seine Grabinschrift besagt. Nun tauchen sie in der Badewanne des Archäologen Kenneth wieder auf und wollen nur eines: Leben! Doch diese Story wird aus der Sicht von Flavius‘ nichts ahnendem Opfer erzählt, des wunderschönen Londoner Strichers Gavin. Und der hält gar nichts davon, dass er einen Doppelgänger hat, der sich das körperliche Leben von seinen Mordopfern zurückholt – genau wie Frank in Barkers Film „Hellraiser 1“. Doch Flavius will nicht nur Gavins Körper, sondern braucht auch Gavins Seele, um wieder ein kompletter Mensch zu werden …

Leider ist die Idee des Doppelgängers, der sein Original vernichten will, schon reichlich abgedroschen. Barkers Ansatz daher: Schauplatz ist das Strichermilieu, denn da scheint er sich gut auszukennen.

_Fazit zu Band 3_

Alle Geschichten dieses dritten Bandes kranken daran, dass der Fortgang der Handlung und vor allem das Ende recht schnell abzusehen sind. Das mindert doch den Spaß am Lesen ein wenig.

_Unterm Strich_

Der Horrorfan ist dankbar, dass es endlich diese essenzielle Lektüre wieder zu einem vernünftigen, um nicht zu sagen: günstigen Preis gibt. Denn häufig gingen die Preise, die für die Taschenbuch- und erst recht für die gebundenen Ausgaben des |Knaur|-Verlags in Online-Auktionen usw. verlangt wurden, doch schon hart an die Grenze des Vertretbaren. Das gilt in erhöhtem Maße für die Bände 4 bis 6.

Die Ausgabe selbst kommt völlig ohne Schnickschnack aus: ohne Vorwort oder Nachwort, ohne Glossar oder sonst irgendetwas.Lediglich die Rückseite des Einbandes enthält das unvermeidliche lobende Zitat von Stephen King, das man sattsam kennt. Inzwischen handelt es sich bereits um „Kultbücher“, tönt der Verlag, und natürlich sind sie „nichts für zartbesaitete Gemüter“. Das kann ich nur unterstreichen. Die Storys sind ebenso grausig wie wortgewaltig, einfallsreich, unheimlich und sogar wollüstig – ein Element, das in Horrorstorys allzu oft unterdrückt wird.

Hintergrund für Clive Barker war das alte |Grand Guignol|-Theater, das billige Horroreffekte auf die Spitze trieb, um die Dosis, die es dem proletarischen Publikum verpassen wollte, ständig zu erhöhen. Mittlerweile sind auch wir, Barkers Publikum, durch seine und gegenüber seinen Storys etwas abgestumpft. Daher kommen uns die hier gesammelten Erzählungen mitunter recht zahm oder gar abstrus vor.

Ich jedenfalls verschlang sie Mitte der achtziger Jahre, als sie auf den deutschen Markt kamen, mit Haut und Haaren. An so manche, wie etwa „Jaqueline Ess“ kann ich mich immer noch erinnern – ganz einfach, weil sie einem immer noch die gleiche Dosis, den gleichen Schock verpassen können. Doch die Dosis ist bekanntlich bei jedem Leser unterschiedlich …

Edgar Allan Poe – Faszination des Grauens. Erzählungen

Dieser voluminöse Sammelband enthält die bekanntesten Erzählungen von Edgar Allan Poe, wenn auch nicht alle guten. Am bemerkenswertesten und umfangreichsten sind die drei Detektivgeschichten um Poes Meisterschnüffler Auguste Dupin sowie eine Science-Fiction-Novelle über einen abenteuerlichen Besuch auf dem Erdtrabanten.

Der Autor

Edgar Allan Poe (1809-49) wurde mit zwei Jahren zur Vollwaise und wuchs bei einem reichen Kaufmann namens John Allan in Richmond, der Hauptstadt von Virginia auf. Von 1815 bis 1820 erhielt Edgar eine Schulausbildung in England. Er trennte sich von seinem Ziehvater, um Dichter zu werden, veröffentlichte von 1827 bis 1831 insgesamt drei Gedichtbände, die finanzielle Misserfolge waren. Von der Offiziersakademie in West Point wurde er ca. 1828 verwiesen. Danach konnte er sich als Herausgeber mehrerer Herren- und Gesellschaftsmagazine, in denen er eine Plattform für seine Erzählungen und Essays fand, seinen Lebensunterhalt sichern.

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Thomas F. Monteleone – Das Blut des Lammes

Vatikan – Stadt des Bösen

Pater Amerigo Ponti wird 1967 Mitglied der „Sonderkommission des Papstes“, einer Kommission, über die niemand auch nur Gerüchte zu spinnen wagt. Er soll etwas stehlen, eine geheimnisvolle Glasphiole, deren mysteriöser Inhalt Ponti in blankes Erstaunen versetzt. Als er die Phiole seinem Auftraggeber übergibt, wird ihm das Lebenslicht ausgepustet.

Nach diesem Prolog richtet Monteleone seine Kamera in das Jahr 1998, auf das Leben von Pater Peter Carenza. Der ist gutaussehend, hat eine wohlklingende Stimme, zeigt massig Einsatz und ist von idealistischer Intelligenz – einfach jeder liebt ihn. Er selbst ist mit seinem Leben zufrieden, bis plötzlich ein Blitz aus seinen Händen schießt und einen Jugendlichen tötet, der Peter gerade hatte überfallen wollen.

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Armitage Trail – Scarface

trail-scarface-cover-2006-kleinMit der Geschichte des Gangsters Tony Camonte zeichnet Verfasser Trail den Aufstieg des modernen organisierten Verbrechens in den USA nach. Die recht akkurate Rekonstruktion der dem zugrundeliegenden Mechanismen gefällt, doch der in der Übersetzung gewahrte Trivialstil und unzählige zeitgenössische Moralismen verderben den Lektürespaß an diesem unvorteilhaft gealterten Klassiker der Kriminalliteratur.
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Dean R. Koontz – Nackte Angst / Phantom

Das Programm des area-Verlags bietet Klassiker, aber auch neuere Publikationen des Horrorgenres zu verführerischen Preisen an. Da darf natürlich ein illustrer Name wie Dean R. Koontz in der langen Liste der Autoren nicht fehlen. Abgesehen von der Tatsache, dass er einer der bekanntesten modernen Autoren des Genres ist und viele seiner Romane für TV und Kino adaptiert worden sind, war er auch der erste Präsident der |Horror Writers Association|, die den jährlichen |Bram Stoker Award| ausschreibt, der bereits an so bekannte Namen wie Stephen King, Peter Straub oder Nancy A. Collins ging. Der |area|-Verlag hat nun zwei Koontz-Romane im Doppelpack herausgegeben: den eher traditionellen Serienmörder-Thriller „Nackte Angst“ und den Gruselschmöker „Phantom“.

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Grin, Alexander / Gilbert, Stephen / Howart, Harald / Alpers, Hans Joachim – Tod durch Ratten

Ratten haben ein schlechtes Image. Sie sind weder possierlich noch niedlich, sondern gelten als gerissen und hinterhältig. Sie leben zu Tausenden in den Großstädten und führen dennoch ein schattenhaftes Dasein. Ihr Äußeres wirkt abstoßend, und gerade ihr langer, nackter Schwanz sorgt beim menschlichen Betrachter für Ekelgefühl. Ihre Existenz, ihre schiere Zahl sorgt beim Menschen für instinktive Angst, nicht zuletzt, weil Ratten als Krankheitsüberträger gelten und im Mittelalter die Pest verbreiteten. Als kuscheliges Haustier ist die gemeine Ratte also kaum geeignet, doch als Protagonist in einem Horrorroman macht sie sich ausgesprochen gut. Gilt die Ratte doch als überaus intelligent – vielleicht intelligent genug, um es mit dem Menschen aufzunehmen?

Vier Romane hat der |area|-Verlag in „Tod durch Ratten“ vereint (wobei es sich nur bei zwei Texten tatsächlich um Romane handelt), um auf nicht weniger als 800 Seiten beim Leser unbehaglichen Grusel vor dem Nager auszulösen. Dabei können nicht alle Geschichten vollkommen überzeugen, auch wenn die Anthologie mit einem echten Knaller beginnt. Alexander Grins atmosphärische Novelle „Der Rattenfänger“ kommt zunächst einmal ganz ohne das unleidliche Getier aus. Ein verarmter Russe kommt, nachdem er seine Wohnung verloren hat, für kurze Zeit im verlassenen Gebäude der Zentralbank unter. Vollkommen allein in dem einsamen, labyrinthischen Geflecht von Räumen, bleiben die ersten Gruselschauer beim Protagonisten nicht lange aus. Zwar findet er durch Zufall einen Schrank, der prall gefüllt ist mit köstlichsten Lebensmitteln, doch aus ihm springt eine ganze Anzahl (naturgemäß gut genährter) Ratten. Bald vernimmt er Geräusche und undeutliches Gemurmel, wird von einer körperlosen Stimme durch die Räume gelockt und wirft schlussendlich einen Blick auf ein unheiliges Fest im Saal des Gebäudes. Grins Novelle ist der Höhepunkt von „Tod durch Ratten“. Sie gleich an den Anfang zu setzen, muss zwangsläufig dazu führen, dass die restlichen Geschichten abfallen und weit hinter der Meisterschaft des Russen zurückbleiben. Grins Darstellung der Zentralbank mit ihren endlosen Korridoren und Zimmern etabliert beim Leser einen subtilen Schauer und lässt ihn bar jeden sicheren Wissens nach der Lektüre zurück.

Weiter geht es mit Stephen Gilberts Roman „Aufstand der Ratten“, einer etwas behäbigen Geschichte über den Rachefeldzug (oder auch „Rattenfeldzug“) eines Verlierertypen, die auch unter dem Titel „Willard“ (USA, 1971 und Neuverfilmung des Stoffes 2003) verfilmt worden ist. Der Ich-Erzähler beginnt, Ratten zu zähmen und zu dressieren, natürlich, ohne jemandem davon zu erzählen, da er die Ratten ursprünglich als Ungeziefer vernichten sollte. Da ihm jegliches soziales Leben fehlt, werden die Ratten bald zu seinen einzigen Bezugspunkten. Er setzt seine Rattenarmee zunächst für einige Überfälle ein, um an Geld zu kommen. Doch dann werden seine Angriffe zunehmend persönlicher und er beginnt, die Ratten einzusetzen, um für ihm widerfahrene Ungerechtigkeiten tödliche Rache zu üben. Gilberts Ich-Erzähler ist naturgemäß kein sympathischer Typ. Eigenbrötlerisch, geheimniskrämerisch und hinterhältig, vergräbt er sich in seinem verunkrauteten Garten und plant seine Rache an der Gesellschaft. Zwar gelingt es Gilbert, die Ratte Ben als wirklich teuflisches und vernunftbegabtes Tier darzustellen, das im Geheimen seinen Ausbruch aus menschlicher Führerschaft plant, doch über weite Strecken tritt die Geschichte auf der Stelle und kann erst zum Ende hin etwas an Fahrt gewinnen. Auf jeden Fall bleibt „Aufstand der Ratten“ nach der Lektüre von Grins „Rattenfänger“ seltsam eindimensional.

Die dritte Geschichte, Harald Howarts „Tod durch Ratten“, variiert Gilberts Thema vom Menschen, der sich der intelligenten Ratte für die persönliche Rache bedient. Sein Protagonist Kreutzkamm ist ein kleines Licht an der Universität. Seit Jahren wird ihm (unberechtigerweise, wie er findet) der Professorentitel versagt. Doch nun ist ihm der Durchbruch gelungen, denn er kann mittels eines Apparates die Gehirnsströme von Ratten beeinflussen und sie so „fremdsteuern“. Sein Chef hält die Vorführung des Vorgangs für eine ausgefeilte Dressur und feuert Kreutzkamm kurzerhand, nachdem dessen cholerisches Temperament hervorgebrochen ist. Mit seinen Laborratten in der eigenen Wohnung festsitzend, plant dieser nun seine Rache an den Köpfen der Universität. Howarts Kreutzkamm ist fast schon zu böse, um noch glaubwürdig zu sein. Sein Charakter ist so auf Größenwahn und Egozentrismus ausgerichtet, dass für andere Eigenschaften kein Platz mehr bleibt. So bleibt der Autor auch Überraschungen in der Storyline schuldig. Kreutzkamms Rachefeldzug geht seinen geplanten Gang, bis der moralische Zeigefinger Howarts einschreitet, der den Schluss des Romans eher lustlos und überhastet zu Papier bringt. „Tod durch Ratten“ ist dynamischer als der Vorgänger „Aufstand der Ratten“, doch auch Howarts Roman kann nicht auf ganzem Wege überzeugen.

Die letzte Erzählung, Hans Joachim Alpers’ „Zwei schwarze Männer graben ein Haus für dich“, schreitet flotter voran. Der nach mysteriöser Krankheit im Rollstuhl sitzende Christoph lebt mit seiner Freundin Miriam zurückgezogen in einem kleinen Dorf. Eines Tages erhält er die Nachricht vom Tod seines alten Freundes Patrick, zusammen mit einem Packen Briefe, die ihm dieser kurz vor seinem Tod geschrieben, jedoch nie abgesendet hat. Die Staatsanwaltschaft vermutet, Patrick habe den Verstand verloren und so sein Ende herbeigeführt, denn in den Briefen wird Unglaubliches berichtet. Ratten seien auf einmal in seinem Haus gewesen, die nur er sehen konnte. Seine Freundin habe Ungeziefer in sein Essen gemischt und schließlich seinen Mord geplant. Christoph ist bei der Lektüre der Briefe hin- und hergerissen. Ebenso wie der Leser mag er mal an Wahnsinn, mal an eine übernatürliche Erklärung glauben. Alpers arbeitet sein Sujet überzeugend aus, lässt einige Informationen fallen und versucht den Leser auf falsche Fährten zu führen. Die Auflösung rundet die straff durcherzählte Handlung konsequent ab und weist Alpers als routinierten Erzähler aus.

Ein ganzes Buch nur mit dem Thema Ratten zu füllen, ist eine originelle Idee, doch schwankt die Qualität der Geschichten zu stark, um an dem Buch durchweg Spaß zu haben. Alexander Grins Novelle „Der Rattenfänger“ ist ohne Frage die beste Geschichte in der Sammlung und lohnt die Lektüre in jedem Fall. Stephen Gilberts „Aufstand der Ratten“ dagegen bildet qualitativ das Schlusslicht und erscheint zu bieder, um durchgehend unterhalten zu können.

Matthew Gregory Lewis / E. T. A. Hoffmann – Der Mönch / Die Elixiere des Teufels

„Der Mönch“

Ambrosio wurde als Säugling auf den Stufen des Klosters gefunden. Die Mönche erzogen ihn, und so war es nicht weiter verwunderlich, dass er selbst die Kutte ergriff. Inzwischen hat das einstige Findelkind sich zu einem Mönch gemausert, der in Madrid zu einer Berühmtheit avanciert, die heutzutage eigentlich nur Popstars genießen. Doch diese Berühmtheit hat einige Nebenwirkungen – unter anderem die, dass Luzifer persönlich auf den frommen Mann aufmerksam wird …

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Maturin, Charles Robert – Melmoth der Wanderer

Gegen Ende es 18. Jahrhunderts erblickte in England das Genre der |gothic novel| den Buchmarkt und erfreute sich alsbald großer Beliebtheit. Zwar ging es darum, dem Leser wohlige Schauer über den Rücken laufen zu lassen, doch verdankte die |gothic novel| auch viel dem Gedankengut der Aufklärung und des Rationalismus. Oftmals wurde in den Romanen eine mystifizierte Welt vorgestellt, in der übernatürliche Dinge vor sich gingen, nur um am Ende mit natürlichen und rationalen Ursachen wegerklärt zu werden. Dem heutigen Leser mögen Romane wie Walpoles „The Castle of Otranto“ oder Radcliffes „The Mysteries of Udolpho“ kaum noch Schrecken verursachen. Zu allgemein bekannt sind die Konventionen des gotischen Schauers, als dass verlassene Burgruinen oder mondbeschienene Friedhöfe tatsächlich zum Fürchten wären. Doch dies heißt nicht, dass diese Romane nach 200 Jahren ihren Reiz verloren hätten. So wird auch „Melmoth der Wanderer“ von Charles Robert Maturin keinem Leser schlaflose Nächte bescheren, allerdings ist der Roman gleichzeitig ein besonders gutes Beispiel dafür, dass die |gothic novel| viel mehr bietet als den Schauer von Ruinen und alten Klöstern.

Maturin, 1780 in Dublin geboren, ist dem Liebhaber wohl höchstens durch „Melmoth der Wanderer“ (1820) oder sein Drama „Bertram“ (1816) bekannt, mit dem er noch zu Lebzeiten einen bescheidenen Erfolg erzielte. Sorgenfrei lebte er jedoch nie, meist musste er mit den bescheidenen Geldmitteln, die ihm zur Verfügung standen, genauestens haushalten. Sein erster Roman, den der Hilfsgeistliche Maturin noch ganz in der Tradition Radcliffes 1807 veröffentlichte, blieb weitgehend unbeachtet. Doch ein namhafter Rezensent fand sich dennoch: Der Schotte Walter Scott, der hauptsächlich mit phantastisch durchsetzten historischen Romanen Erfolg hatte („Waverley“ oder „Ivanhoe“ stammen aus seiner Feder). Scott setzte sich in Zukunft für Maturins Werk ein; er plante eine Biographie und eine Ausgabe von Maturins gesammelten Werken. Doch das Schicksal kam dem zuvor: Scotts Verlage gingen pleite und er musste die letzten Jahre seines Lebens buchstäblich um sein Leben schreiben, um die Schulden abzubezahlen. Maturin erging es finanziell kaum besser.

Seinem „Melmoth“ stellt er eine Vorwort voran, in dem er bündig zusammenfasst, was er im Roman auf fast 800 Seiten ausarbeiten wird: |“Gibt es in diesem Momente wol Einen unter uns“|, fragt er den Leser, |“ob wir uns gleich von dem HErrn entfernet haben mögen, nicht achtend Seines Willens und ohneingedenk Seines Worts – giebt es wol Einen unter uns, welcher in eben diesem Augenblicke und um der Eitelkeit menschlicher und irdischer Güter willen hingeben wollte die Hoffnung auf seine ewige Seeligkeit? – Nein, kein einziger ist hier, kein solcher Thor hienieden, und versuchte auch der Leibhaftige selbst, ihn in seine Fallstricke zu locken.“| Auf der Suche nach einer solche Person nämlich ist Melmoth, eine faustische Figur, die über 150 Jahre lang die Welt durchstreift, um Menschen zu versuchen. Melmoth selbst wurde von seinem Wissensdrang („Habe doch ach …“, hört man Goethe im Hintergrund deklamieren) dazu verführt, einen Pakt mit dem Teufel einzugehen. Ihm wird Erkenntnis zuteil und eine verlängerte Lebensspanne. Doch am Ende der 150 Jahre wird der Teufel Melmoths Seele als Unterpfand einfordern. Außer natürlich, und das ist der entscheidende Unterschied zu Goethes „Faust“, Melmoth fände jemanden, auf den er seinen Kontrakt „übertragen“ könnte.

So zieht er denn durch die Welt, halb Mensch und halb Geist, und wendet sich an Menschen in verzweifelten Notlagen, um sie zu verführen, eine Linderung ihres Leides gegen ihre Seele einzutauschen. Bis auf eine indische Insel verschlägt es ihn, doch nirgends findet sich jemand, dessen Verzweiflung ihn zu solch drastischen Maßnahmen treiben würde. Und so muss Melmoth, nachdem die 150 Jahre abgelaufen sind, seine Seele dem Teufel überantworten und die Strafe für seinen Erkenntnisdrang annehmen.

Dabei ist Melmoth eine sehr widersprüchliche Figur. Er ist hin- und hergerissen zwischen Mitleid mit seinen Opfern und einem beißenden Zynismus gegenüber deren Notlagen. Doch seine Situation verlangt, zuerst an sich zu denken und so stürzt er auch Isidora, die Person, der er wohl die meisten Gefühle entgegenbringt, ins Unglück. Nachdem er sie heimlich geehelicht und geschwängert hat, sterben sie und ihr Kind in den Fängen der Inquisition, die das Kind für einen Satansbraten hält.

„Melmoth der Wanderer“ ist kein einfaches und schon gar kein geradliniges Buch. Es ist aufgebaut wie eine Matrioschka, eine dieser russischen Holzfiguren, in denen sich immer noch eine neue, kleinere Figur versteckt. So verschachtelt Maturin immer neue Erzählungen ineinander, stellt immer neue Schicksale und Verführungsszenen vor, bis der Leser den Überblick über die Erzählstruktur zu verlieren droht. Rahmen- und Binnenerzählungen sind nicht auszumachen, auch hat keine Erzählung wirkliche Priorität vor den anderen. Die verschachtelte Erzählstruktur gemahnt eher an einen überspannten Spleen des Autors, seiner Geschichte freien Lauf zu lassen und die Geschichten untereinander über komplizierte Gemeinsamkeiten zu verbinden. Melmoth, der alle diese Erzählungen als böser Geist heimsucht, bildet den roten Faden, die Verbindung zwischen all den menschlichen Schicksalen, die Maturin in weit ausholenden Handlungsbögen schildert. Und doch ist er es, den am Schluss das bedauernswerteste Schicksal ereilt, können doch alle anderen Charaktere auf ein besseres Dasein im Jenseits vertrauen.

Maturins groß angelegter Roman eignet sich kaum zum Gruseln. Stattdessen wechseln sich handlungs- und spannungsintensive Passagen mit philosophischen und gesellschaftskritischen ab. Besonders Maturins scharfe Religionskritik (auf die Katholiken und die Kalvinisten hat er es insbesondere abgesehen) scheint fast immer durch. Religion, für ihn das bloße Abarbeiten von Riten, stellt er einem natürlichen Glauben gegenüber, der durch ein tiefes Empfinden für Gott geprägt ist und ohne den Pomp katholischer Regeln auskommt. Allein seine deutlichen Ansichten zu Religion und Staatskirche machen „Melmoth der Wanderer“ zu einer lohnenden Lektüre.

Der |area|-Verlag hat eine ganze Reihe bekannter Horrorklassiker neu in preiswerten Hardcovern aufgelegt. Im Verlagsprogramm finden sich nicht nur moderne Autoren wie Clive Barker („Die Bücher des Blutes“) oder Dean Koontz („Nackte Angst“), sondern auch ältere Schriftsteller wie Matthew Gregory Lewis („Der Mönch“) oder eben Maturin. Damit werden diese Texte endlich wieder auf Deutsch verfügbar und für ein breites Publikum zugänglich. Es lohnt sich durchaus, sich durch die erschwinglichen Hardcover von |area| zu lesen. Die Auswahl des Verlags garantiert: Jeder Griff ein Treffer.