Mit der Geschichte des Gangsters Tony Camonte zeichnet Verfasser Trail den Aufstieg des modernen organisierten Verbrechens in den USA nach. Die recht akkurate Rekonstruktion der dem zugrundeliegenden Mechanismen gefällt, doch der in der Übersetzung gewahrte Trivialstil und unzählige zeitgenössische Moralismen verderben den Lektürespaß an diesem unvorteilhaft gealterten Klassiker der Kriminalliteratur.
Das geschieht:
Anfang des 20. Jahrhunderts hat die aktuelle Einwanderungswelle aus Europa auch Chicago, die Stadt am Michigansee im US-Staat Michigan, erreicht. Wie Millionen anderer hoffnungsfroher Immigranten haben sich die Guarinos ins angeblich Gelobte Land jenseits des Atlantiks aufgemacht, um dort feststellen zu müssen, dass man sie dort keineswegs mit offenen Armen aufnimmt. Trotz harter und ehrlicher Arbeit vegetiert die Familie in Armut und Elend im gesellschaftlichen Abseits dahin. Sohn Tony, Amerikaner der ersten Generation, ist nicht gebildet aber intelligent und ehrgeizig. Er kommt zu dem Schluss, dass kein legaler Weg aus dem Ghetto oder gar zu Ruhm und Reichtum führen wird. So beginnt er sich zu nehmen, was ihm die Gesellschaft seiner Meinung nach vorenthält.
Wie ein entschlossener Mann ohne Skrupel zwar nicht zu Ansehen, aber zu Geld kommen kann, lernt Tony nicht in der Schule, sondern auf den Straßen seiner Heimatstadt. Schon vor dem I. Weltkrieg ist Chicago eine Stadt, in der mächtige Gangsterbanden das Sagen haben. Eine durch und durch korrupte Stadtverwaltung duldet im perfekten Zusammenspiel mit den bestechlichen Justizbehörden und der käuflichen Polizei das organisierte Verbrechen und kassiert dafür ordentlich ab. Das Bandenwesen ist noch wild und ungeordnet, doch eine neue Verbrechergeneration steht bereits in den Startlöchern. Tony ist der Gangster der Zukunft; er hat Köpfchen, scheut vor Gewalt nicht zurück, wendet sie aber planvoll an: Der Verbrecher agiert als moderner Geschäftsmann.
Den letzten Schliff erfährt Junggangster Tony auf den Schlachtfeldern des I. Weltkriegs, wo ihm eine seiner waghalsigen Unternehmungen eine entstellende Gesichtsnarbe und den Spitznamen „Scarface“ einträgt. Tony kehrt zurück nach Chicago, wo er als „Tony Camonte“ als geschickter Stratege rasch zum Anführer einer eigenen Bande aufsteigt. Aber die Konkurrenz schläft nicht. Ein Bandenkrieg bricht aus, den Camonte mit allen Mitteln für sich zu entscheiden gedenkt …
Nicht alle Geschichten reifen wie Wein
„Scarface“, der Roman, gehört zu den oft zitierten (aber offensichtlich selten gelesenen) Klassikern der Kriminalliteratur. Zumindest in Deutschland war dies viele Jahre ohnehin schwer möglich: Stolze siebzig Jahre nach der Erstveröffentlichung in den USA brachte der DuMont Verlag „Scarface“ 1999 in seiner kurzlebigen „Noir“ Reihe heraus.
Die Lektüre macht rasch deutlich, dass dem Krimifreund kein Verlust entstand. „Scarface“ ist ein roher, ja primitiver Reißer, der seinen Ruhm ausschließlich der Tatsache verdankt, einer der ersten Romane zu sein, die im Milieu des organisierten Verbrechens spielen. Man muss bei der Lektüre berücksichtigen, dass Armitage Trail jene Szenen und Bilder, die heute reflexartig beim Stichwort „Gangster in Chicago“ vor dem kollektiven geistigen Auge auftauchen, quasi erfunden hat. Schon wenige Jahre später waren die schweren Jungs und ihre leichten Mädchen zum Klischee verkommen.
Da lebte Trail (alias Maurice Coons, 1902 1930) bereits nicht mehr. Er versäumte den Augenblick, der seinen grobschlächtigen Erstling in den Olymp der Unterhaltung eingehen ließ: Howard Hawks‘ filmisches Meisterwerk „Scarface“ übersetzte 1932 das, was Trail ohne Wissen um seine mythische Kraft zusammengetragen hatte, in suggestive Bilder und eine mitreißende Geschichte, die noch im 21. Jahrhundert durch ihre Intensität überrascht und sich 1983 von Brian De Palma in seinem „Scarface“-Remake wiederbeleben ließ: Tony Camontes Welt ist vor allem die Welt des Kinos.
Zwischen Realität und Mythos
Der Roman von 1930 ist dagegen ein historisches Kuriosum, das primär den Genre-Experten ansprechen dürfte. Außerdem ist „Scarface“ ein interessantes Zeitdokument. Trail schrieb seinen Roman auf dem Höhepunkt der ‚Gangstermania‘ in den USA. Die Presse liebte Männer wie Giacomo Colosimo, John Torrio oder Al Capone und ihre Mörder und Schläger, die romantisch verruchte Spitznamen wie „Machine Gun Kelly“, Frank „The Enforcer“ Nitti oder „Babyface Nelson“ trugen und dem braven Bürger in seiner sicheren heimischen Stube angenehme Gruselschauer bescherten.
Jenseits reißerischer Schlagzeilen gab es aber auch zu dieser Zeit bereits Bemühungen, hinter die Fassade zu blicken. „Scarface“ spricht viele Realitäten an, die man in einem solchen Machwerk nicht vermuten würde und die erst viel später in fünffingerdicken, hoch gelehrten Sachbüchern wieder auftauchten. Dabei schreckt Trail, der diese Fakten angeblich persönlich in der Unterwelt recherchierte, auch vor unangenehmen Wahrheiten nicht zurück, die vor allem Politik und Justiz bigott und scheinheilig zu vertuschen suchten.
Der Aufstieg des organisierten Verbrechens in den USA ist in erster Linie ein hausgemachtes Problem. Die Einführung der Prohibition, eines gut gemeinten, aber schlecht durchdachten und letztlich sinnlosen Gesetzes, das von der Mehrheit der Bürger nicht angenommen wurde, führte zwischen 1919 und 1932 zum Aufbau einer ‚schwarzen‘ Alkoholindustrie im Untergrund und quasi zur Entstehung illegaler Wirtschaftskonzerne; eine Entwicklung, die nicht mehr rückgängig zu machen war, was Trail recht schlüssig nachzeichnet.
Schwere Jungs ohne echte Chancen
Leider hat sich sein schriftstellerisches Geschick darin erschöpft. In den Faktenrahmen eingebettet wird eine einfache und an sich funktionstüchtige, jedoch hoffnungslos in Klischees und Moralismen erstickende und auf niedrigstem Erzählniveau dargebotene Geschichte, die bei allem Verständnis für einen Roman, der bereits 1930 entstand, die Geduld des Leser überstrapaziert.
So ist Tony Camonte eine kaum verhohlene ‚Hommage‘ an den berühmten Gangsterboss Al(phonse) Capone (1899 1947), gesehen allerdings durch die Augen eines „Pulp“ Vielschreibers. Allen hellsichtigen Momenten zum Trotz sind Trails Gangster hässlich, verschlagen, eben böse (aber zeittypisch stets weiß) und daher ideales Futter für die Kanonen der „moralischen Mehrheit“ ihrer Ära: Wer so offensichtlich wie ein wildes Tier lebt, um den ist es nicht schade, wenn ihn eine Kugel niederstreckt. Glücklicherweise bringen sich Verbrecher in der Regel selbst um, sodass der brave Bürger sich nicht die Hände schmutzig machen muss.
Die Eindimensionalität der Charakterisierung setzt sich im Formalen ungebrochen fort. Trail schreibt die Worte offenbar nieder, wie sie gerade einfielen. An eine Überarbeitung des hastig heruntergeraspelten Textes mag man kaum glauben. Unklar bleibt auch die Qualität der Eindeutschung. Hält sie sich eng ans Original gehalten haben sollte, wäre zumindest dem Übersetzer kein Vorwurf zu machen. Lesenswerter wird „Scarface“ durch die dabei gewonnene Authentizität aber nicht.
Dicker Mann gerinnt zum verkannten Genie
Maurice Coons war nach Auskunft von Martin Compart, der zur deutschen „Scarface“-Ausgabe ein Vor- und Nachwort schrieb, ein unkonventionelles, produktives Schriftstellergenie aus altem Südstaatenadel; schwergewichtig aber leichtlebig, in der Unterwelt ebenso zu Hause wie in der High Society gelitten und nach nur zwei Romanen und noch nicht dreißigjährig unter geheimnisvollen Umständen verstorben. Die zeitgenössischen Quellen ermöglichen allerdings auch eine andere, wesentlich nüchterner ausfallende Interpretation: Armitage Trail war ein 315 Pfund schwerer, alkoholsüchtiger Zeilenschinder, der im Alter von 28 Jahren keineswegs unerwartet zu Grunde ging.
Das klingt natürlich nicht so eindrucksvoll, wie Compart es wohl gern hätte, für den „Scarface“ nicht weniger als ein „Meisterwerk“ darstellt. Erstaunen weckt in diesem Zusammenhang auch die subjektive Abwertung jeder Kritik, denn „Scarface“ war und ist als Roman keineswegs unumstritten. W. R. Burnett (1899-1982), der mehr als einen echten Gangsterkrimi Klassiker („Little Caesar“, 1929; „High Sierra“, 1940; „The Asphalt Jungle“, 1950) verfasst hat, machte seinem Unmut Luft, als er „Scarface“, den Roman, für das Drehbuch zum gleichnamigen Film bearbeiten musste. Compart stellt ihn als gehässigen Neider hin, der einen toten Kollegen anschwärzte, der sich nicht mehr wehren konnte. Das ist so nicht nachvollziehbar. Profi, der er war, beschreibt Burnett nüchtern einen wahren Sachverhalt.
Faktisch würde sich heute niemand mehr an Armitage Trail erinnern, hätten die beiden „Scarface“-Filme von 1932 und 1983 seinen literaturhistorisch interessanten aber kaum lesbaren Roman nicht mit sich in Klassiker-Höhen gezogen. Diese Erkenntnis stellt sich nach wenigen Lektüreseiten ein.
Autor
Armitage Trail wurde 1902 als Maurice Coons und Sohn eines Impresarios in New Orleans geboren. Schon mit 16 Jahren verließ er die Schule und begann ab 1918 seinen Lebensunterhalt als Verfasser von Detektivgeschichten für die zeitgenössischen „Pulp“-Magazine zu verdienen. Da er einen aufwendigen Lebensstil pflegte, blieb ihm angesichts der notorisch niedrigen Honorare nur der Ausweg, möglichst viel zu schreiben. Damit dies nicht auffiel, legte sich Coons eine ganze Reihe von Pseudonymen zu.
Ende der 1920 Jahre ging Coons erst nach Chicago, wo er für seine beiden einzigen Romane auch im Gang-Milieu recherchierte, und später nach Hollywood, wo er als „Armitage Trail“ für die Filmindustrie arbeitete. Seinen Durchbruch als Autor von „Scarface“, der Vorlage für den Filmklassiker von 1932, erlebte Trail nicht mehr. Im Alter von 28 Jahren bereits mehr als 150 kg schwer und alkoholsüchtig, versagte sein Herz am 10. Oktober 1930 immerhin stilvoll, weil während eines Kinobesuches im Paramount Theatre in Los Angeles.
Taschenbuch: 229 Seiten
Originaltitel: Scarface (New York : Edward J. Clode 1930)
Übersetzung: Christian Jentzsch
http://www.dumont-verlag.de
Der Autor vergibt: