Clive Barker – Die Bücher des Blutes IV-VI. Horror-Storys

Das Grauen der neuen irdischen Götter

Nichts für schwache Gemüter und zart besaitete Seelen – so lautet die Warnung im ursprünglichen Vorwort von Ramsey Campbell, ebenfalls ein renommierter Horrorautor. Für seine „Bücher des Blutes“ bekam Clive Barker 1985 den |World| und den |British Fantasy Award|. Seine Schrecken sind (meist) in der realen Welt angesiedelt, im Hier und Jetzt, oft sogar mitten in der Großstadt.

Das vorliegende Buch versammelt die „Bücher des Blutes“ IV bis VI, die im Internet häufig zu überhöhten Preise angeboten werden. Neuausgaben aus den achtziger und neunziger Jahren sind längst vergriffen beziehungsweise noch nicht in Sicht.

Der Autor

Clive Barker lieferte die literarischen Vorlagen für die Filme „Lord Of Illusions“, „Hellraiser“ (selbst verfilmt), „Cabal“ und „Candyman“. Zu seinen wichtigsten Werken gehören neben den „Büchern des Blutes“ auch „Imagica“, „Weaveworld“ (dt. „Gyre“) und „The Damnation Game“ („Das Spiel des Verderbens“). In den letzten Jahren hat er sich etwas zurückgehalten, doch mit „Coldheart Canyon“, das im September 2004 bei |Heyne| erschienen ist, gelang ihm ein kühner Kommentar auf das Filmbusiness, das er schon so oft aufgegriffen hat. In Kürze soll auch sein neuester Fantasy-Jugendroman „Abarat“ bei |Heyne| erscheinen.

Storys in Band 4

Das 4. Buch des Blutes präsentiert fünf Erzählungen, überzeugen können aber nur drei davon.

In „Das Leibregime“ beschreibt er, was los wäre, wenn die Hände plötzlich ein Eigenleben entwickelten und nicht mehr gehorchen wollten. Eine Revolution gegen den Körper bricht aus, und die Hände machen sich mittels Amputation selbständig. Diese Story wurde sehr effekt- und stimmungsvoll verfilmt.

In „Das nichtmenschliche Stadium“ greift der Autor das alte Zigeuner-Motiv der Knoten auf. Mit Hilfe kunstfertiger Knoten wurden magische Wesen in eine Schnur gebannt. Als einer Jugendbande bei einem Überfall die geknotete Schnur in die Hände fällt und sie sich an das Aufdröseln macht, werden die darin Gebannten nach und nach freigesetzt. Und diese nehmen blutige Rache.

In der Erzählung „Das Zeitalter der Begierde“ entwickeln Wissenschaftler das totale Aphrodisiakum. Auf radikale, enthemmende Art und Weise wirkt das Serum auf die Libido der jeweiligen Versuchsperson. Die Jagd der Polizei auf den „unschuldigen“ Triebtäter, der sich nicht nur an Menschen, sondern auch an Bäumen und Ziegelmauern (!) vergeht, bringt wieder die bei Barker übliche Offenheit, ja Brutalität der Schilderungen.

Demgegenüber bleiben „Offenbarungen“ – ein Wanderprediger wird von seiner Ehefrau unter Anleitung eines Geistes ermordet – und „Erscheine Satan!“ – ein verrückter Millionär baut eine Hölle, um so den Teufel und mit diesem Gott herbeizulocken – farblos und relativ langweilig.

Fazit von Band 4

Wie gewohnt besticht Barker durch seine ausgefallenen Ideen und seinen prägnanten, doch gleichzeitig hintergründigen Erzählstil. Seine Schreckensvisionen sind gleichsam Blitzlichtbilder des Schockhorrors, oftmals an der Grenze zum „Perversen“ und doch immer faszinierend. Seine alptraumartige Techno-Bilderwelt lässt den Leser verstört und beunruhigt zurück. Mich haben die ersten drei Storys entweder amüsiert – die rebellierenden Hände – oder geschockt, so etwa der Triebtäter.

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Im „5. Buch des Blutes“ treten irdische Götter auf, die Verkörperungen von Ideen und Prinzipien sind, wie etwa dem der Sünde. Mit seinen sechs „Büchern des Blutes“ hat der britische Superstar des Horrors moderne Klassiker des Unheimlichen geschaffen, so auch hier.

Die Storys in Band 5

Der vorletzte Band der „Bücher des Blutes“ enthält vier längere Erzählungen. Eröffnet wird der Reigen mit dem Gewinner des British Fantasy Award 1986, „Das Verbotene“ („The Forbidden“). Die Story wurde verfilmt.

Von den Bewohnern der Betonsilos der Spector Street hört die Soziologiestudentin Helen von den blutrünstigen Verbrechen in einer heruntergekommenen Trabantenstadt. Sie stößt auf Wandmalereien, die einen furchtbaren Gott zu verehren und darzustellen scheinen. Er ist den Einwohnern hier als „Candyman“ bekannt, ein Mann mit einem Haken anstelle einer Hand. Rätselhafte Morde könnten mit ihm zusammenhängen.

Immer besessener geht Helen dem Geheimnis nach, denn keiner ihrer Freunde glaubt ihren Erzählungen von ihren unheimlichen Erlebnissen und Begegnungen. Sie dringt in die verstockten, verängstigten Bewohner, die ihr auch bereitwillig alle möglichen Storys auftischen – so erscheinen sie selbst wichtig. Da Helen am Candyman zweifelt, stellt er ihr schließlich leibhaftig seine Existenz unter Beweis – sie wird selbst zum Ziel des Hakens. Anders als in der Filmversion lässt sich Helen jedoch widerstandslos von diesem irdischen Gott festhalten, als zu Ehren des Revoluzzers Guy Fawkes die Bewohner einen großen Holzstoß anzünden …

„Die Madonna“

Was für ein Wesen haust im verlassenen, baufälligen Schwimmbad in der Londoner Leopold Road? Unheimliches geht hier vor, als ein skrupelloser Geschäftsmann den Bau unter die Lupe nehmen will, während sein Führer, ein Kleinganove, sich im Labyrinth der Gänge verirrt: Der Geschäftsmann, eine Art Bau-Mafioso, wird von nackten Mädchen immer weiter in die Mitte der spiralförmig angelegten Korridore gelockt, bis er eine schicksalhafte Begegnung hat, die ihn verändert: Eine amöbenhafte Urmutter, die „Madonna“, setzt ihre übersinnlichen Kräfte ein, um die beiden Pechvögel auf unvorhersehbare Weise zu verwandeln.

„Babels Kinder“ …

… ist keine Horrorstory, sondern eine leichte Farce mit unheimlichen Aspekten. Wie konnte der globale Holocaust seit Jahrzehnten vermieden werden? Barker hat für seine Leser eine überraschende, augenzwinkernde Antwort parat. In der Abgeschiedenheit der griechischen Ägäis wacht seit 1962, also seit der Kuba-Krise, eine geistige und moralische Elite von 13 (mehr oder weniger) „hellen Köpfen“ über die Welt. Diese treffen die Entscheidungen, die die scheinbar Herrschenden, die mit ihrer persönlichen Machtentfaltung überbeschäftigt sind, ausführen. Doch jedes System baut ab, und diese 13 vergreisen zunehmend. Und so veranstalten sie Froschrennen, um per Zufall über Wohl und Wehe der Nationen zu entscheiden. Als Vanessa den übrig gebliebenen Weltlenkern zur Flucht verhilft, kommt es zu einer Weltkrise. Was tun?

„Leibhaftig“ („In the Flesh“) …

… ist die eindrucksvollste Novelle dieses Quartetts, und mit über 83 Seiten auch die längste. Als der Häftling Cleveland Smith, ein Kleinganove, den schmächtigen Billy Tait als Zellengenossen und Schützling zugewiesen erhält, ist der ihm gleich nicht ganz geheuer, erkundigt jener sich doch nach dem Grab von Billys Großvater, der vor 60 Jahren hier gehängt worden war. Als seine Träume Cleve in die Totenstadt der Mörder versetzen, wo er Tait senior begegnet, beginnt Cleve zu begreifen, wie der Kreislauf des Bösen die Übeltäter immer wieder auf die Welt loslässt, und welche Gefahr Billy droht: Der Senior will sein Leben zurückhaben, und er will das von Billy. Doch wie kann man gegen Traumwesen, mögen sie auch noch so real sein, bestehen? Eine wahrhaft grauenhafte Nacht folgt dieser Erkenntnis.

Der Ausdruck „in the flesh“ bezieht sich auf die Wiederkehr Jesu Christi „im Fleische“. Wer wie ich als Katholik mit den Lehren der Kirche vertraut gemacht wurde, ist mit dem Konzept der „Transubstantiation“ vertraut: der Wandlung von einem Stoff in einen anderen, so etwa vom Geistig-Spirituellen ins Körperliche. Und natürlich auch umgekehrt …

Fazit von Band 5

Klar charakterisierte Personen, eine abgeschlossene, in sich logisch aufbauende Handlung, ein folgerichtiger und doch überraschender Schluss, schnörkellos auf den Punkt geschrieben, aufrüttelnd, provokant – das sind die Kennzeichen von Barkers Kurzgeschichten.

Anders als in den blutigeren zwei ersten Bänden entfaltet hier Barkers Kunst ihren Horror-Kitzel erst allmählich und subtiler. Es ist der Schauder, den Betonhochburgen und Gefängniszellen erzeugen. Der urbane Horror dieser irdischen Götter ist in den düsteren Ecken zu Hause, wohin das Licht der Öffentlichkeit nicht fällt – in der Vernachlässigung, am Rande, im Vergessen, in der Verdrängung: in verfallenden Wohnblocks und Schwimmanstalten, auf abgelegenen Inseln, in den Zellen der Gefängnisse.

Die irdischen Götter treten hier auf: Das sind beispielsweise die Verkörperung der Urmutter und des Ozeans („Die Madonna“), das sind senile Weltenlenker („Babels Kinder“), das sind die Geister des Bösen bzw. Verkörperungen der Sünde („Leibhaftig“; Motto: „the sin of their fathers shall be visited on their offspring“) und schließlich der ganz moderne, weit verbreitete Gott: die Fiktion.

Denn Fiktion, die Geschichte, das ist die Grundlage, das Lebensblut für die Medien, die Sensationspresse. Erst als ein Mord im Wohnblock des Candyman geschieht, kommt Leben in die Bude und interessieren sich die Medien dafür. Die Fiktion erschafft und bekräftigt wiederum den Glauben an den Candyman, den Buhmann – doch wer seine Existenz bezweifelt, muss leiden …

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Dieser letzte Band umfasst vier Erzählungen und ein Postskriptum, quasi das Gegenstück zum Prolog in Band eins.

Die Storys in Band 6

Elaine hat in der Story „Das Leben des Todes“ („The Life of Death“) ein hartes Los zu ertragen: Ein Tumor wurde ihr entfernt, aber ausgerechnet aus jenem Körperteil, der sie zur Frau machte: aus der Gebärmutter. Sie wird ihrem Verehrer Mitch keine Kinder schenken. Stattdessen trifft sie einen Mann, der sich sehr für die neu entdeckte Krypta unter einer abzureißenden Kirche interessiert. Ihr so gewecktes eigenes Interesse führt zu einer mitternächtlichen Solo-Exkursion in die Krypta: Pestopfer bedecken den Boden fast bis zur Decke. Schon bald wundern sich ihre Arbeitskollegen im Büro, warum Elaine trotz ihrer schweren Operation wie das blühende Leben aussieht. Auch die Polizei klopft bei ihr an, als ein Kollege nach dem anderen stirbt, mit Symptomen der Pest.

Krankheit als Chance für Wandel, Tod als Kehrseite des Lebens, mit ebenso großer Energie ausgestattet – Barker zeigt uns das Ende in einem neuen Licht.

„Wie Schänder bluten“

Im brasilianischen Urwald, der Heimat der aussterbenden Indios, kommen in der Erzählung „How spoilers bleed“ auch die neuen Eroberer um: die neuen Ausbeuter/Plünderer („spoilers“) sind Leute mit einem Landbesitztitel, die die Ureinwohner umbringen. Die gerechte Strafe, die der Medizinmann auf sie herabbeschwört, lässt nicht lange auf sich warten. Interessant ist lediglich die Todesart: Die Haut löst sich ab und Blut dringt aus den geplatzten Blutgefäßen, selbst schon bei der geringsten Berührung. Sie ähnlich dürfte das Ebola-Virus wirken, das mittlerweile den Dschungel des Hinterlandes von Kenia verlassen hat und sich aufmacht, den Rest der Welt zu erobern … – Die Story ist sehr effektvoll, obwohl einfach gestrickt.

„Festungsdämmerung“

„Twilight at the Towers“ beschreibt, wie sich ein britischer und ein russischer Agent in West-Berlin in Werwölfe verwandeln. Bevor es aber richtig interessant werden kann, bricht die Story ab. Offenbar waren für Barker nur der Prozess der Verwandlung interessant sowie die Gründe dafür.

„Die letzte Illusion“

In „The Last Illusion“ hat ein Magier seine Seele für die Gabe echter Magie der Hölle verschrieben. Nach seinem Ableben versucht Satan, die Schuld einzutreiben, also die Seele. Ein an Philip Marlowe – unsterblich geworden durch die Filme mit Humphrey Bogart – angelehnter Privatdetektiv und ein abtrünniger Dämon der Hölle stellen sich den Höllenboten entgegen. Verfilmt als „Lord of Illusions“.

Ebenso unnötig wie unglaubwürdig ist das Postskriptum „The Book of Blood: On Jerusalem Street“. Ein Killer tötet hier den Träger der zu Beginn der sechs Bücher beschriebenen Haut, um dann im nicht enden wollenden Blutstrom zu ertrinken. Der letzte Absatz wiederholt den Absatz des Ersten Buches des Blutes: „Die Toten haben Straßen. Nur die Lebenden irren umher.“

Fazit von Band 6

Klar charakterisierte Personen, eine abgeschlossene, in sich logisch aufbauende Handlung, ein folgerichtiger und doch überraschender Schluss, schnörkellos auf den Punkt geschrieben, aufrüttelnd, provokant – das sind die Kennzeichen von Barkers Kurzgeschichten. Nur allzu selten zeigt sich seine Kunst in diesem sechsten Band.

Bemerkenswert ist noch, dass zwar noch Peter Kobbe als Übersetzer genannt wird, wie in den vorhergehenden fünf Bänden, dass aber die Arbeit selbst von Joachim Körber ausgeführt wurde, dem Übersetzer von Stephen Kings Werken.

Unterm Strich

Der Horrorfan ist dankbar, dass es endlich diese essenzielle Lektüre wieder zu einem vernünftigen, um nicht zu sagen: günstigen Preis gibt. Denn häufig gingen die Preise, die für die Taschenbuch- und erst recht für die gebundenen Ausgaben des |Knaur|-Verlags in Online-Auktionen usw. verlangt wurden, doch schon hart an die Grenze des Vertretbaren. Das gilt in erhöhtem Maße für die in diesem Buch gesammelten Bände 4 bis 6.

Die Ausgabe selbst kommt völlig ohne Schnickschnack aus: ohne Vorwort oder Nachwort, ohne Glossar oder sonst irgendetwas. Lediglich die Rückseite des Einbandes enthält das unvermeidliche lobende Zitat, das diesmal von der „TAZ“ (!) geliefert wird:

„Mit Clive Barker kommt einer daher, der die ganzen verstaubten und eingerosteten Kultfiguren der phantastischen Literatur von ihren Sockeln fegt und sich selbst an die Spitze stellt.“

Der neue Shooting-Star also als Bilderstürmer – dieses Image hat Clive Barker sicher gefallen.

Inzwischen handelt es sich bei den „Büchern des Blutes“ bereits um „Kultbücher“, tönt der Verlag, und natürlich sind sie „nichts für zartbesaitete Gemüter“. Das kann ich nur unterstreichen. Die Storys sind ebenso grausig wie wortgewaltig, einfallsreich, unheimlich und sogar wollüstig – ein Element, das in Horrorstorys allzuoft unterdrückt wird.

Hintergrund für Clive Barker war das alte |Grand Guignol|-Theater, das billige Horroreffekte auf die Spitze trieb, um die Dosis, die es dem proletarischen Publikum verpassen wollte, ständig zu erhöhen. Mittlerweile sind auch wir, Barkers Publikum, durch seine und gegenüber seinen Storys etwas abgestumpft. Daher kommen uns die hier gesammelten Erzählungen mitunter recht zahm oder gar abstrus vor.

Ich jedenfalls verschlang sie Mitte/Ende der achtziger Jahre, als sie auf den deutschen Markt kamen, mit Haut und Haaren. An so manche, wie etwa „Die Madonna“ kann ich mich immer noch erinnern – ganz einfach, weil sie einem immer noch die gleiche Dosis, den gleichen Schock verpassen können. Doch die Dosis ist bekanntlich bei jedem Leser unterschiedlich. Viele der Storys in diesem Buch wurden verfilmt, so dass der geneigte Leser nachprüfen kann, ob die Dosis auch bei ihm ausreicht …

– „Lord of Illusions“ („The last Illusion“)
– „Candyman“ („The Forbidden“)
– „Das Leibregime“ (TV)
– „Das Zeitalter der Begierde“ (TV)

HINWEIS

Der |area|-Verlag bietet in seinem aktuellen Herbstprogramm noch weitere, seit längerem vergriffene Ausgaben an, so etwa Gruseliges von James Graham Ballard („Crash“ [verfilmt], „Betoninsel“, „Der Block“), Robert McCammon, Dean Koontz und Ramsey Campbell. Höchst willkommen sind auch all jene Klassiker, die der Schwarzen Romantik Anfang des 19. Jahrhunderts zuzurechnen sind: E.T.A. Hoffmann, Lewis‘ „Der Mönch“ und selbstverständlich der Meister aller Klassen: Edgar Allan Poe (Sammelband).

Gebunden: 800 Seiten
Aus dem Englischen Peter Robert.
ISBN-13: 9783899960242

Der Area-Verlag wurde aufgelöst.

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