Broughton, Rhoda – Geistergeschichten

_Inhalt_

– |“Mrs. Smith von Longmains“| (Mrs. Smith of Lingmains, 1886), S. 7-44: Ein düsterer Traum von kaltblütigem Mord treibt Mrs. Smith trotz eisigen Winterwetters zu einer ungeliebten Nachbarin, doch es wird schwieriger als gedacht, dem Schicksal in den Arm zu fallen …

– |“Bettys Visionen“| (Betty’s Visions, 1886), S. 45-81: Viermal wird Betty in ihrem Leben von Todesahnungen überfallen, die sich als schrecklich zutreffend erweisen; als sie denkt, dass es schlimmer nicht kommen kann, belehrt sie Vision Nr. 5 eines Schlechteren …

– |“Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“| (The Truth, the Whole Truth and Nothing But the Truth, 1868), S. 82-95: Eine bemerkenswert günstige Mietwohnung in London erweist sich als Wohnstatt eines Wesens, dem man besser nicht begegnet …

– |“Der arme, hübsche Bobby“| (Poor Pretty Bobby, 1872), S. 96-122: Falls etwas schiefgehen sollte auf See, werde er seiner Verlobten auf jeden Fall eine letzte Botschaft übermitteln, verspricht der junge Seemann – und als Mann von Ehre hält er sein Wort …

– |“Sind Träume Schäume?“| (Behold, It Was a Dream, 1873), S. 123-138: Leidlich beruhigt reist Dinah heim, denn sie hat ihre Freunde, die Watsons, erfolgreich vor einem Mörder gewarnt, von dem ihr träumte. Leider ist das Schicksal ebenso einfallsreich wie boshaft und lässt sich gern von voreiligen Menschen die Drecksarbeit abnehmen …

– |Nachwort von S. M. Ellis: „Rhoda Broughton“| (Rhoda Broughton, 1920), S. 139-143

_Einige Anmerkungen zu dieser Sammlung_

Das 19. Jahrhundert ist für die phantastische Literatur eine wichtige Epoche. Die ‚Geburt‘ der Kurzgeschichte bietet ungeahnte Möglichkeiten, Geschichten auf den Punkt zu bringen. Gleichzeitig lässt der Fortschritt von Wissenschaft und Technik das Stellen nie gekannter Fragen zu, deren Beantwortung nur eine Frage der Zeit zu sein scheint. Dazu gehört das uralte Rätsel, ob es ein Jenseits gibt, das bewohnt wird von den Geistern der Verstorbenen, aber auch von fremden oder bösartigen Kreaturen, die in die diesseitige Welt vordringen und den Lebenden Botschaften übermitteln oder Böses antun können. Gibt es eine Verbindung zwischen den Sphären, lässt sich Kontakt aufnehmen, ist es möglich, die Motive von Geistern zu entschlüsseln?

In der bürgerlichen Mittelklassewelt der Rhoda Broughton haben Geister einen festen Platz. Die vergleichsweise forschen Heldinnen glauben entweder bereits an ihre Existenz oder werden nachdrücklich davon überzeugt. Da gibt es etwas, das fremd, aber näher ist, als wir es uns vorstellen können, und es verstört oder schadet uns. Wir erleben womöglich das Wirken von Geistern, doch verstehen können wir sie nicht. Wieso erhalten „Mrs. Smith von Longmains“, Betty („Bettys Visionen“) und Dinah („Sind Träume Schäume?“) Einblicke in die Zukunft? Warnungen sind es nicht, denn unweigerlich trifft ein, was geträumt wurde. Wer steckt dahinter? Es bleibt offen, und für diese Entscheidung ist die Verfasserin zu loben, denn die daraus resultierende Ungewissheit teilt sich dem Leser mit.

Manchmal lassen sich Geister tatsächlich blicken. Auch dann fragt man sich nach dem Sinn ihres Spukens. Seemann Bobby ist seiner Braut kein Trost, als er sie aus seinem nassen Grab zum Abschied besuchen kommt („Der arme, hübsche Bobby“). Sein Geist vermag sich nicht verständlich zu machen und sät nur Schrecken. Völlig ratlos bleibt man über die Natur des Wesens, dass in „Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ umgeht. Eine Begegnung raubt den Verstand oder tötet. Die Unbarmherzigkeit dieses Spuks hinterlässt seinen Eindruck beim Leser.

_Eine Fußnote der phantastischen Literatur_

Solche Höhepunkte sind wichtig, denn leider bleiben sie recht rar. Das hier vorgestellte Bändchen sammelt Geschichten, die in Deutschland noch nie veröffentlicht wurden oder längst vergessen sind. Solche Wiederentdeckungen können äußerst reizvoll sein. Oft stellt sich freilich heraus, dass der Staub der Zeit ruhig weiter über ihnen hätte ruhen können. Broughtons Geistergeschichten können heute nur sehr bedingt fesseln. Zu stark sind sie ihrer zeitgenössischen Umgebung verhaftet. Inhalt und Stil sind veraltet, Schrecken sieht heute nicht nur anders aus, sondern wird auch anders entfesselt. Gar zu ruhig geht Broughton ans Werk. Jene andeutungsreiche Zurückhaltung, die Literaturkritiker gerade in der Phantastik so schätzen, ist ein Job für richtig gute Schriftsteller, und zu denen gehört die Verfasserin aus heutiger Sicht nicht. Böse Visionen in Serie oder spukende Liebhaber gab es zudem in den letzten 150 Jahren mehr als genug. Wie der Plot aussehen wird, weiß der Leser des 21. Jahrhunderts sicherlich früher als Broughtons zeitgenössische Leserschaft. Dafür kann sie nichts, aber es sorgt für gewaltige Längen, was einer Kurzgeschichte schlecht bekommt.

Was ihren Unterhaltungsfaktor angeht, kann selbst der an der Historie des Genres interessierte Gruselfan auf die Neuveröffentlichung (oder Exhumierung) von Broughtons Geistergeschichten leider – es muss so deutlich gesagt werden – verzichten. Die Verfasserin mag ein Baustein im Gefüge der Literatur des 19. Jahrhunderts sein, doch zumindest in der Phantastik weist dieser höchstens die Größe eines Kiesels auf.

_Figuren einer viktorianischen Welt_

Eine wirklich interessante Fassette der „Geistergeschichten“ wird die meisten Leser kaum interessieren, da sie mit dem eigentlichen Thema – der Heimsuchung aus dem Jenseits – nichts zu tun hat. Dagegen findet der (Literatur-)Historiker die fremde Welt faszinierend, in der sich Broughtons Figuren bewegen. Auch Unterhaltungsliteratur ist eine Art Spiegel der realen Welt, hier die der ‚besseren Leute‘ der englischen Gesellschaft in der Hochzeit der viktorianischen Ära. Diese wird heute gern als bigotte, prüde, chauvinistische Hölle verdammt, was jedoch ein Pauschalurteil ist. Diejenigen, die sich in die zeitgenössische Gesellschaftsordnung einfügten (und über ein geregeltes Einkommen verfügten), fühlten sich hier durchaus wohl. Broughton macht darüber hinaus deutlich, dass sich die Frauen trotz des in der Rückschau restriktiven Klimas ihre Freiräume schufen und sich nicht auf die Rolle der demütigen Dame des Hauses und Mutter einschränken ließen. Die Autorin lässt sie aus eigenem Willen denken, reden und handeln – und die männlichen Figuren nehmen daran keinen Anstoß, da sie es als selbstverständlich kennen.

Die ältere Rhoda Broughton – wir können es ihrem diesem Band angefügten Nachruf entnehmen – urteilte in dieser Hinsicht deutlich schärfer. Mit dem Fortschreiten des viktorianischen Zeitalters wurde die Schicht der sozialen Verkrustungen dicker; es blieb ihr weder verborgen noch unkommentiert. Die junge Nachwuchsautorin beschränkte sich darauf, ihren eigenen Status in die Charakterisierungen ihrer weiblichen Figuren einfließen zu lassen: Broughton war eine Frau, die unter ihrem eigenen Namen zahlreiche erfolgreiche Romane und Kurzgeschichten veröffentlichte. Das verschaffte ihr eine privilegierte Stellung, denn sie stand auf eigenen Beinen.

_Die Autorin_

Rhoda Broughton wurde am 29. November 1840 in die Familie eines Geistlichen geboren. Schon früh widmete sie sich der in der viktorianischen Epoche für Frauen gerade noch tolerierten Tätigkeit der Schriftstellerei, wobei sie einen gewichtigen Starthelfer an ihrer Seite wusste: Joseph Sheridan Le Fanu (1814-1873), der zu den größten Romanciers des 19. Jahrhunderts gehört – er schuf u. a. die klassische Novelle [„Carmilla“, 993 in der ein weiblicher(!) Vampir im Mittelpunkt steht -, war nicht nur ihr Onkel, sondern wurde auch ihr Förderer. Ersten Kurzgeschichten folgte 1872 der Roman „Red as a Rose is She“, der ihr sogleich literarische Ehren und gute Verkaufszahlen bescherte. 20 weitere folgten, dazu weitere Storys, die Broughton vor allem in den 1880er Jahren zu einer Bestsellerautorin werden ließen. Ihre weiblichen Helden waren gerade das Quäntchen selbstständiger als die üblichen Frauenfiguren, das die zeitgenössischen Leser/innen dulden mochten.

Broughton ließ sich in den 80er Jahren in Oxford nieder, wo sie – mit einer kurzem Zwischenspiel in Surrey – bis zu ihrem Tod am 5. Juni 1920 immer noch aktiv, wenn auch allmählich in Vergessenheit geratend blieb. (Diese biografische Skizze stützt sich auf das Nachwort von S. M. Ellis, welches dem vorgestellten Buch angehängt wurde.)

_Anmerkung_

Als Buch gibt die deutsche Sammlung „Geistergeschichten“ übrigens keinen Anlass zu echter negativer Kritik. Das Paperback ist schön gestaltet und angenehm stabil gebunden; vor allem Letzteres ist leider hierzulande keine Selbstverständlichkeit, gerade im Bereich der Kleinverlage! Die Übersetzer haben sehr gute Arbeit geleistet; ihnen gelang es, die Altertümlichkeit des Stils zu bewahren, ohne die Leserschaft des 21. Jahrhunderts zu überfordern oder abzuschrecken. Auf den Seiten 83/84 blieb ein Steuerzeichen unkorrigiert, das eine längere Textpassage im hellen Graudruck erscheinen lässt – eine Nichtigkeit angesichts der erfreulichen Tatsache, dass insgesamt kaum Druckfehler auftauchen.

http://www.verlag-lindenstruth.de

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