Wer damit beginnt, an der Universität Jura zu studieren, hat zumeist die Gerechtigkeit im Blick. Voller Ideale und guter Vorsätze spricht man gerne von Gerechtigkeit. Vor Justitia sind alle Menschen gleich, ob arm oder reich, jung oder alt, egal welchen sozialen Standes oder welchen Beruf man ausübt. Schaut man hinter die Bühne der Gerichte mit ihren Gesetzen und Regeln, so sieht man eine ganz andere Welt, in der nichts einfach nur „gut“ oder „böse“ zu sein scheint, denn es gibt für Täter wie Opfer viele Abstufungen, Ausnahmen und Interpretationen von Recht und Gerechtigkeit.
Als junger Student wird man intellektuell aufs Höchste gefordert, die Anforderungen sind brutal und die Quote der angehenden Juristen, die schon im Studium oder Examen scheitern, ist hoch (noch in den beiden Abschlussexamen scheitern in Deutschland mehr als ein Drittel der Rechtswissenschaftsstudenten). Wer das Glück oder Unglück hat, anschließend in einer Kanzlei zu arbeiten, wird oft ausgenutzt, unter Druck gesetzt und nicht selten ist ein Arbeitstag 14 oder mehr Stunden lang.
Der Preis für Erfolg kann manchmal ein Pakt mit dem Teufel sein, und viele Studenten schlagen hart auf dem Boden der Tatsachen auf, wenn sie merken, dass Gesetze erheblich interpretierbar sind. Ethik und Moral präsentieren sich dann zum Schlussverkauf.
John Grisham schildert in seinem Roman „Der Anwalt“ die rechtswissenschaftliche Knochenmühle, die Arbeitsbedingungen und Anforderungen in einer amerikanischen Kanzlei, in welcher der junge Anwalt Kyle McAvoy an seine Grenzen getrieben wird.
_Inhalt_
Kyle McAvoy, erfolgreicher und vielversprechender Jurastudent, hat eigentlich eine brillante Karriere vor sich. Schon jetzt, kurz vor seinem Studienabschluss, hat er mehrere Angebote hoch renommierter und bekannter Kanzleien bekommen, die für ihn Prestige, Geld und Absicherung bedeuten und damit eine sichere Zukunft garantieren können.
Doch als er unerwarteten Besuch von einem FBI-Agenten bekommt, der ihn mit seinen „Jugendsünden“ vor fünf Jahren konfrontiert, bekommt Kyles Traumgebilde tiefe Risse. Damals wurde gegen ihn und drei seiner studentischen Freunde wegen einer angeblichen Vergewaltigung ermittelt. Es kam aber nicht zur Anklage und die Geschichte geriet in Vergessenheit, und so hat Kyle diese Nacht geistig verdrängt. Doch der ermittelnde Beamte zeigt Kyle ein belastendes Video der Nacht, was zwar viel Raum für etwaige Interpretationen lässt, dennoch aber so viel Schmutz aufwirbeln könnte, dass an eine juristische Karriere nicht mehr zu denken wäre.
In eine Ecke ohne Ausweg gedrängt, offenbart sich der mutmaßliche Erpresser nicht als FBI-Agent, sondern als ein skrupelloser Verbrecher, dessen Ziel es ist, Kyle in einer der wichtigsten und einflussreichsten Kanzleien als Spion einzusetzen, um dort einen Prozess zwischen zwei Rüstungskontrahenten zu beobachten und natürlich um wichtige Dokumente auszuspionieren und weiterzuleiten.
Im Grunde hat Kyle keine Chance, die ihm als Alternative verbleibt. Lässt er sich nicht erpressen, wird das Video veröffentlicht und er kann sich von seiner vielversprechenden juristischen Karriere verabschieden; lässt er sich darauf ein, Dokumente und Informationen weiterzuleiten, die als streng vertraulich oder gar geheim gelten, so verstößt er gegen alle ausgesprochenen und unausgesprochenen ethischen und moralischen Grundsätze und Ideale, an die bisher geglaubt hat.
Unter Protest und mit sehr schlechtem Gefühl akzeptiert er die Forderungen des Erpressers. Als er in die Kanzlei „Scully & Pershing“ zusammen mit anderen Elite-Studenten eintritt, verändert sich seine einst so beschauliche Welt in ein wahre Spionage-Geschichte. Kyles Wohnung wird verwanzt, sein Auto mit einem GPS-Sender versehen und sein Telefon sowie seine Mails werden kontrolliert. Und immer sind es zwei oder mehr mysteriöse Männer, die ihn überall observieren.
Sein neuer Job fordert ihn und seine Freunde täglich aufs Neue. Jeder Mitarbeiter möchte sich möglichst schnell bei den Partnern profilieren, um die Karriereleiter behände emporzuklettern, sie nehmen natürlich ihre Ausbeutung in Kauf und begeben sich damit in die brutalen Mühlen einer modernen Kanzlei, in der rücksichtslos nicht Gesetz und Recht vertreten werden, sondern in der es nur um Macht, Ansehen und vor allem Geld geht. Kyle arbeitet sich gut in der Kanzlei ein, und je näher der Prozesstermin rückt, desto mehr erhöhen sich der Druck der Erpresser sowie sein eigenes Schuldbewusstsein.
Wird Kyle einen Ausweg finden, ohne dass seine Freunde, die ebenfalls mit der eventuellen Veröffentlichung der Daten alles verlieren können, gefährdet werden? Die Eskalation wird unvermeidlich, erst recht, als einer seiner Freunde ermordet wird …
_Kritik_
John Grisham ist selbst ein erfolgreicher Anwalt gewesen, bevor er sich ganz dem Schreiben verpflichtete. Dass der Autor weiß, wovon er schreibt, fällt dem Leser sofort in den ersten Kapiteln auf.
Voller Ideale und Ideen begeben sich die jungen Studenten auf der Suche nach einer glorreichen und möglichst erfolgversprechenden Anstellung in die Ausbeutung durch bekannte und mächtige Kanzleien. Dort verlieren die Anwälte ihre idealistische Unschuld und lernen Stress und einen Egoismus kennen, der nur das Ziel hat, die Partner der Kanzlei mächtiger und reicher zu machen.
Anschaulich und sehr realistisch beschreibt der Autor die unmenschliche Erwartungshaltung, der sich ein Junganwalt stellen muss. Dass es hier Opfer gibt unter den Studenten, dass hier Stress und Schlafmangel im Vordergrund stehen, verschweigt der Autor keinesfalls. Als Leser hat man den Eindruck, dass Grisham mit allen Vorurteilen und Halbwahrheiten aufräumen möchte, und das gelingt ihm wirklich recht anschaulich. Nur ein kleiner Bruchteil der ehemaligen Studenten wird vielleicht Jahre später in die Elite der „Partner“ aufgenommen, ein größerer Anteil wird dem Druck nicht standhalten können und sich beruflich umorientieren oder ewig den Idealen hinterherjagen müssen.
„Der Anwalt“ beginnt absolut spannungsgeladen und packend. In den ersten Kapiteln wird Kyles Erpressung geschildert und ein Teil seiner Vergangenheit aufgerollt, so dass der Leser einen wirklich guten Einstieg bekommt. Danach ebbt die Handlung deutlich ab. Ein Spannungsbogen entsteht überhaupt nicht; zwar wird Kyle unter Druck gesetzt, aber nicht so immens, dass die Handlung dadurch an Dramatik hinzugewönne.
Kyle versucht verzweifelt, seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen, sucht Hilfe bei einem Freund, der ebenfalls in der besagten Nacht ein mutmaßlicher Täter gewesen sein könnte, doch wirklich erfolgreich sind sie dabei nicht, das Problem zu ihren Gunsten zu lösen. Von Seite zu Seite, von Kapitel zu Kapitel zieht sich die Story weiter fort, und man hofft, dass sich die Handlung endlich entfaltet und einen Spannungsbogen offenbart. Man wartet vergeblich!
Einzig und allein die Schilderungen des täglichen Ablaufes in einer Kanzlei mit all ihren Anforderung, ihren Fallen und unmenschlichen Bedingungen sind interessant dargestellt. Hier hat sich John Grisham ein wenig verrannt und ist meilenweit vom eigentlichen Weg abgedriftet.
Außer Kyle zeigt kein Protagonist wirklich Profil, weder in der als Katalysator fungierenden Vergangenheit noch in der erwählten Gegenwart. Die Anzahl der Protagonisten bleibt überschaubar, die Handlung wird zumeist aus der Perspektive von Kyle geschildert, was der Abwechslung nicht wirklich gut tut. Mit jedem Kapitel häufen sich die Fragen immer mehr, so dass man gegen Ende quasi auf einen wirklichen Berg davon steht, allerdings völlig allein gelassen, denn die Fragen werden keinesfalls beantwortet.
Der Showdown ist mehr als enttäuschend; von einigen Charakteren liest man nichts mehr, sie verschwinden einfach, und dabei waren sie nicht wirklich unwichtig. Auch Kyles Spionage-Job bleibt im Hintergrund; sicherlich, seine Wut und seine Hilflosigkeit treiben immer mal wieder an die Oberfläche, aber worum es wirklich in diesem Prozess geht, bleibt unvollständig geschildert.
_Fazit_
„Der Anwalt“ von John Grisham ist nur bedingt zu empfehlen. Wer hinter die Kulissen einer mächtigen Kanzlei blicken und sich über die Arbeitsbedingungen Aufschluss verschaffen möchte, für den wird der vorliegende Roman mit Sicherheit von großem Interesse sein. Wer allerdings eine abwechslungsreiche und spannend erzählte Story erwartet, wird hier bitter enttäuscht.
John Grishams Stil ist auch hier unverkennbar. Er ist noch immer ein wirklich guter Autor, aber dieser Roman ist inhaltlich sein schwächster. Selten habe ich ein Ende erlebt, das so viele Fragen einfach offen lässt. Selbst wenn man annimmt, dass es eine Fortsetzung geben könnte, so wüsste ich nicht, wo und vor allem wie der Autor diese Geschichte enden lassen möchte.
|Originaltitel: The Associate
Originalverlag: Doubleday
Aus dem Amerikanischen von Imke Walsh-Araya, Bea Reiter, Bernhard Liesen, Kristiana Dorn-Ruhl
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 448 Seiten
ISBN-13: 978-3-453-26615-5|
http://www.heyne.de
[Buchtrailer]http://www.randomhouse.de/webarticle/webarticle.jsp?aid=8684&mid=3458
http://www.jgrisham.com/
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