Krajewski, Marek – Gespenster in Breslau

_Das geschieht:_

Breslau im Spätsommer des Jahres 1919: Kriminalassistent Eberhard Mock, eigentlich in der Abteilung für Sittlichkeitsverbrechen tätig, wird zur Mordkommission versetzt, um bei der Aufklärung eines grotesken Massenmords zu helfen: Vier nackte Männer mit Matrosenmützen – offensichtlich Prostituierte – wurden betäubt, ihre Gliedmaßen systematisch zerschlagen und ihre Lungen mit langen Nadeln durchbohrt.

Bei den Leichen hinterließ der Täter eine Nachricht: Eberhard Mock soll sich für ein unerkannt gebliebenes Verbrechen schuldig bekennen. Fatalerweise kann sich Mock an keine entsprechende Missetat erinnern, will diese aber nicht ausschließen: Er ist Alkoholiker, betrinkt sich regelmäßig bis zur Bewusstlosigkeit und leidet unter Schlafstörungen.

So geschieht, womit zu rechnen war: Als Mock sich nicht offenbart, schlägt der ungeduldig gewordene Mörder erneut zu. Von seinen Vorgesetzten kaltgestellt, schart Mock eine kleine Gruppe ihm gewogener Männer um sich und führt die Ermittlungen auf eigene Faust fort. Er stößt auf eine Spur, die in die höchsten gesellschaftlichen Kreise Breslaus führt, was seine Nachforschungen erheblich erschwert. Mocks Albträume nehmen zu, denn weitere Bluttaten ereignen sich, für die er sich verantwortlich fühlt. Umso nachdrücklicher stürzt er sich in die gefährlichen Untiefen der Breslauer Halbwelt, denn nur dort findet er die Antworten, die er sucht …

_Verbrechen als zeitloses Lesevergnügen_

Historienkrimis liegen im Trend. Vor allem in Deutschland wird die Mischung aus Verbrechen und Vergangenheit sehr geschätzt, was sich in entsprechenden Verkaufszahlen niederschlägt. Wo die Nachfrage hoch ist, wird von Autoren und Verlagen selbstverständlich geliefert – um jeden Preis, was den Historienkrimi zu einem Genre macht, das unter argen Qualitätsgefällen leidet. Noch die dümmlichste Mordmär wird scheinbar geadelt, wenn man sie nur in ferner Zeit ansiedelt: So wird offensichtlich und leider viel zu oft erfolgreich kalkuliert. Dabei ersetzen Recherche und historische Akkuratesse keineswegs eine gute Story, während andererseits eine gute Story problemlos Anachronismen ausgleichen kann.

„Gespenster in Breslau“ stellt keineswegs die ideale Symbiose von Historienroman und Krimi dar – glücklicherweise: Nicht nur die Geschichte liest sich spannend, auch das historische Umfeld ist glänzend rekonstruiert. Kein Wunder, war Autor Krajewski doch einst als Bibliothekar an der Breslauer Universität tätig und hat sich tief in die Geschichte seiner Heimatstadt eingearbeitet. Gleichzeitig übertreibt er es mit den Fakten nicht. Sie unterstützen die Handlung, erdrücken sie aber nie. „Gespenster in Breslau“ bleibt vor allem eine weitere Episode aus dem bewegten Leben des Eberhard Mock, mit dem Krajewski eine Figur gelungen ist, die er zu Recht in den Vordergrund schiebt.

_Serienmord und der Tanz auf dem Vulkan_

Vier schwule Matrosen werden gerädert und mit Nadeln erstochen, weitere Pechvögel erfahren ähnlich bizarre Lebensenden: In Sachen Drastik kann Krajewski auf jeden Fall mit den Metzeleien der aktuellen Killer-Thriller mithalten. Diese ereignen sich allerdings in Breslau, einer Stadt, die erfreuliches Krimi-Neuland für den interessierten Leser darstellt. Das Jahr 1919 ist kein vom Verfasser willkürlich gewähltes Datum; es signalisiert dem historisch leidlich vorgebildeten Leser ein Umfeld, das von politischer und gesellschaftlicher Instabilität geprägt ist und in dem ein Geschehen, wie es Krajewski schildert, plötzlich gar nicht mehr außergewöhnlich wirkt.

1919 ist nicht nur das Jahr 1 nach einem I. Weltkrieg, der viele Millionen Opfer gekostet hat. Jetzt strömen die Überlebenden zurück ins ’normale‘ Leben. Eberhard Mock gehört zu ihnen – ein typischer Vertreter seiner Generation, der nach dem Grauen, das er in einem Abnutzungs- und Vernichtungskrieg erleben musste, psychisch gezeichnet ist. Er kann nicht schlafen, wird von Albträumen heimgesucht, die er mit Alkohol und Sex betäubt. Nachts suchen ihn Gespenster heim, vermischen sich seine Kriegserinnerungen mit den alltäglichen Schrecken, denen er als Polizist ausgesetzt ist.

Die Gegenwart wird ihn kaum zur Ruhe kommen zu lassen. Nach Jahrhunderten, in denen Monarchen die europäischen Staaten regierten, versuchen diese nun die Demokratie. Immer neue Krisen erschüttern die jungen Republiken. Die Inflation galoppiert. Nach sowjetischen Vorbild bilden sich Arbeiter- und Soldatenräte. Eine Revolution scheint auch in Deutschland nicht unwahrscheinlich; auch Mock wird damit konfrontiert, dass sich Räte und Militär belauern und ein Funke den bewaffneten Straßenkrieg auslösen kann. Währenddessen rühren die geschassten Machthaber von einst im Untergrund, versuchen alte Positionen neu zu besetzen. Noch spricht niemand von den Nazis, aber das Fundament, auf dem sie gedeihen, wird bereits bereitet.

_Eine Atmosphäre der Bedrohung_

„Gespenster in Breslau“ ist zweifellos ein spannender Kriminalroman. Dennoch ist der Plot vergleichsweise simpel, seine Auflösung womöglich platt. Wesentlich eindrucksvoller ist dagegen die Stimmung, die über dem Geschehen liegt. Über Breslau schweben in der Tat Gespenster; es sind nicht nur die für Mock ungelösten Konflikte der Vergangenheit, von denen die Gegenwart geprägt ist. Die allgemeine Unsicherheit wird von Krajewski selten direkt angesprochen. Viel lieber und effektvoller verdeutlicht er sie durch das fast verzweifelt zu nennende Bemühen der Breslauer, sich zu amüsieren.

In dieser Stadt herrscht kein Frieden, sondern eher eine Ruhe vor dem Sturm. Die Bürger versuchen an die Vorkriegszeit anzuknüpfen und den Krieg und seine Folgen zu verdrängen. Obwohl es hoch hergeht in den Bars und Boudoirs, wirken die Ausschweifungen wie Fluchten. Man genießt nicht, sondern frisst, säuft, kokst und hurt bis zum Erbrechen, bis zur Bewusstlosigkeit, als ob es kein Morgen gäbe oder als ob man schon die nationalsozialistische Zukunft ahnt, die Breslau 1945 in Schutt und Asche sinken und als polnisches Wroclaw wiedererstehen lässt. Dekadenz ist nicht tadelnswert, sondern beinahe das Gebot der Stunde.

In dieser Situation wirken auch die Umtriebe einer obskuren Geheimgesellschaft durchaus realistisch, zumal namentlich erwähnte Personen wie Ludwig Klages, Lanz von Liebenfels oder Walter Friedrich Otto tatsächlich existierten. Natürlich übertreibt Krajewski mit dem Wissen des Nachgeborenen. Der Prägnanz seiner Darstellung tut das jedoch keinen Abbruch.

_Ein Mann wie Mock_

Eberhard Mock markiert wie schon erwähnt das eigentliche Zentrum dieses Romans. Er ist als Person faszinierend, trägt aber durchaus unsympathische Züge. Die einzige Konstante seines Wesens scheint seine Unberechenbarkeit zu sein. Er ist in dem einen Moment sentimental und mitfühlend, um im nächsten seiner Aggressivität freien Lauf zu lassen, die er selbst nicht begreift. Mocks ‚Verhältnis‘ zu Frauen ist – gelinge ausgedrückt – gestört. Eine seiner Kriegsneurosen ist die womöglich eingebildete Erinnerung an eine rothaarige Krankenschwester, in die Mock seine unerfüllten Sehnsüchte projiziert. In Gestalt einer jugendlichen Prostituierten nimmt sie Gestalt an und sieht sich Mocks innerer Zerrissenheit ausgesetzt, der hilflos zwischen Illusion und Realität taumelt.

Wohin gehört dieser Eberhard Mock eigentlich? Auch ohne Krieg wüsste er es wohl nicht. Er ist ein Mann aus dem Volk, Sohn eines Schusters, der aber in den Genuss einer höheren Schulbildung kam. Seine klassische Bildung kann und will Mock nicht verleugnen. Sie hätte ihn womöglich in eine akademische Laufbahn geführt. Stattdessen und ohne sich die Gründe vor Augen führen zu können, ist Mock Polizist geworden. Als solcher ist er gut, aber gleichzeitig korrupt: ein gelangweilter Mann mit selbstzerstörerischen Zügen, der sich im Beruf, aber auch bei seiner Familie und seinen Freunden vorsätzlich in Schwierigkeiten bringt und das heimlich zu genießen scheint.

Als Leser versteht man gut, wieso Krajewski von Mock nicht lassen mag, obwohl er ihn ursprünglich nach vier Romanen ‚entlassen‘ wollte. Er passt in die unruhigen Zeiten, in die ihn der Autor wirft. Mocks Unberechenbarkeit wird unterstrichen durch den Verzicht auf eine chronologische Abfolge seiner Fälle: Während „Tod in Breslau“, der erste Teil der Serie, 1933 spielt, springt [„Der Kalenderblattmörder“ 5001 zurück ins Jahr 1927. „Gespenster in Breslau“ geht weitere acht Jahre zurück, während wir in „Festung Breslau“ den Mock von 1945 erleben. Mit „Pest in Breslau“ geht es zurück nach 1923. Die nüchterne und das Schwelgen in historischem Lokalkolorit meidende Form der Darstellung, die Krajewski – der sich lieber als Handwerker denn als Schriftsteller bezeichnet – bevorzugt, macht auch auf diese Romane neugierig.

Die Eberhard-Mock-Serie:

(1999) Tod in Breslau (btb Verlag Nr. 72831)
(2003) [Der Kalenderblattmörder 5001 (dtv Nr. 21092)
(2005) Gespenster in Breslau (dtv Nr. 21150)
(2006) Festung Breslau (dtv premium Nr. 24644)
(2007) Pest in Breslau (dtv premium Nr. 24727)

_Impressum_

Originaltitel: Widma w mieście Breslau (Warschau : Wydawnictwo W. A. B. 2005)
Übersetzung: Paulina Schulz
Deutsche Erstausgabe: August 2007 (Deutscher Taschenbuch Verlag/Dtv premium 24608)
317 Seiten
EUR 14,50
ISBN-13: 978-3-423-24608-8

Als Taschenbuch: Juli 2009 (Deutscher Taschenbuch Verlag Nr. 21150)
317 Seiten
EUR 8,95
ISBN-13: 978-3-423-21150-5
http://www.dtv.de

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