Mary, Michael – Werte im Schafspelz

Ob es auch Bücher mit versteckter Kamera gibt? Verlage, die Schulreferate von Vierzehnjährigen mit noch nicht ausgereifter Bildung und Lebenserfahrung als zeitkritische Werke herausgeben und sich dann heimlich amüsieren, wenn sich die Leser hilflos winden? Diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls bei der Lektüre von „Werte im Schafspelz“ von Michael Mary. Der Verfasser will den Begriff der „Werte“ untersuchen, auf die sich die Menschen im privaten Leben wie in der Politik häufig berufen. Leider kommt er über Selbstverständlichkeiten und anschließend über eine völlig haltlose und ressentimentgeladene Meinungskanonade nicht hinaus. Man wird den Eindruck nicht los, dass der Verfasser früher einmal ganz fest an die eiserne Wirkmächtigkeit von Werten glaubte, dann bitter enttäuscht wurde und nun ein galliges „Enthüllungs“-Buch schreiben musste.

Immerhin macht sich Mary zunächst die Mühe, die wichtigsten Begriffe zu definieren sowie das Wesen und die Funktion von Werten anzudeuten. Werte sind keine unwandelbaren, eindeutigen Handlungsanweisungen. Sie sind kulturell geprägt, wandeln sich mit neuen historischen Situationen und gelten häufig nur in bestimmten Lebensbereichen wie Beruf oder Familie. Weil Werte allgemeine und theoretische Idealvorstellungen sind, können sie sogar widersprüchlich sein. Es sind noch die besten Abschnitte des Buches, wenn Mary – gerade mit Blick auf das wohlfeile Wahlkampfgetöse von Politikern – festhält, dass etwa „Gerechtigkeit“ ein sehr schwammiger und interpretationsbedürftiger Begriff ist, mit dem man je nach Vorstellung sogar zu gegensätzlichen Schlüssen kommen kann (Jedem das Seine oder jedem das Gleiche?) und dass „Freiheit“ und „Gleichheit“ letztendlich unvereinbar sind. Dass man Werte allein nicht als Handlungsgrundlage nehmen kann, ist keine neue Erkenntnis, auch wenn der Autor dies wie eine überraschende Entdeckung präsentiert. Genau deshalb bleiben Werte ja auch ungeschriebene Ideale und Orientierungsmarken und werden nie eins-zu-eins in Gesetzesform gegossen. Dass eine puristische Werteverwirklichung sogar gefährlich werden kann, wusste vor über 2000 Jahren schon der römische Staatsdenker Cicero, der erkannte, dass höchstes Recht auch in höchstes Unrecht umschlagen kann („summum ius, summa inuria“). Aber darüber findet sich in „Werte im Schafspelz“ genauso wenig ein Wort wie zu Max Webers klassischer Gegenüberstellung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik.

Die mangelnde Recherche – außer den Soziologen Niklas Luhmann und Dirk Baecker tauchen keine maßgeblichen Quellen auf – rächt sich spätestens nach den Grundlagenkapiteln. Dass Werte mitunter gelogen, geheuchelt, manipulierend eingesetzt und sogar gebrochen werden, ist bekannt. Für Mary sind Werte damit völlig wertlos und gar nicht mehr anders als im Missbrauch denkbar. Ab da wird der Text zunehmend unredlich. Mit selektiver Wahrnehmung, Unterstellungen, Klischees bastelt er sich die Welt so, dass sie zu seiner Meinung passt. Die Erkenntnis der Verhaltensforschung wird zwar erwähnt, dass man „zur Befriedigung seiner Bedürfnisse auf andere angewiesen sei“ (S. 127). Genau damit ergibt sich im Spannungsverhältnis aus Interessen und Werten eine Verhaltensgrundlage in der Vertragstreue, so dass man weder gegen sich selbst handelt noch sein Gegenüber übervorteilt. Aber zu diesem Gebiet findet sich im ganzen Text kein weiteres Wort. Auch werden mehrere wichtige Aussagen, die Professor Baecker im Interview macht, das dem Buch als Anhang angefügt ist, von Mary nicht aufgegriffen.

Bald zeigt sich, wie sehr Michael Mary vom Thema seines Buches intellektuell überfordert ist. Dass ach so aufgeklärte Kirchenkritiker dogmatische Begriffe wie Unfehlbarkeit oder unbefleckte Empfängnis regelmäßig falsch verstehen und ihre Kritik dann letztlich gegen die eigenen Bildungslücken richten, ist man ja schon gewohnt. Der Autor bildet hier keine Ausnahme, aber sogar dieses Niveau unterbietet er noch spielend. Man schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, wenn man zu den amerikanischen Gefangenenlagern in Abu Ghuraib und Guantanamo einen Satz liest wie: Für die Gefangenen „gilt das Gebot der Nächstenliebe offenbar nicht, was logisch ist, weil es sich nicht um Menschen (…) handelt, sondern um ‚Kombattanten‘, also gewissermaßen um Nichtmenschen“ (S. 97). Hier fehlt jemandem auch nur der Hauch einer Kenntnis vom internationalen Kriegs- und Völkerrecht, und den grundlegenden Begriff des Kombattanten hat er so falsch verstanden, wie es nur geht. Aber das hindert ihn nicht daran, uns in pausbäckiger Unbekümmertheit die Welt zu erklären. Fast schon erheitert liest man, wenn sich der Autor auch nicht der Bemerkung entblödet (S. 151), dass der Papst Präsident Bush nicht von den Sakramenten ausgeschlossen hat. (Vielleicht weil Bush wie die meisten US-Amerikaner Protestant ist? Ach ja: Der Papst ist übrigens katholisch.) In dieser Qualität geht es seitenweise weiter. Ob Kindermangel oder Evolutionstheorie/Kreationismus, zu etlichen vielschichtigen und komplexen Themen äußert sich Mary auf einem Niveau irgendwo zwischen „Bildzeitung“ und Internetforum. Als Leser findet man sich irgendwann in der unappetitlichen Rolle des Voyeurs wieder, der zuschaut, wie sich jemand – ähnlich der tragikomischen Fernsehfigur „Dittsche“ – an Fragen überhebt, die weit über seinen Horizont gehen, und unaufhaltsam immer lächerlicher macht.

Viel schlimmer als diese Bildungslücken ist die Tatsache, dass Mary seine Anfangserkenntnisse nicht zu Ende denkt und die Fragwürdigkeit von Werten scheinbar nur noch zum Anlass nimmt, uns einfach ohne Fundament seine Meinung aufzudrängen. Das sei nur an einem Beispiel verdeutlicht: Seit Jahren wird in regelmäßigen Abständen das gegliederte deutsche Schulsystem wegen angeblich mangelnder „Chancengleichheit“ attackiert. Der Autor hat überhaupt nicht bemerkt, dass diese Angriffe aus den immer gleichen Funktionärs- und Lobbyistenkreisen kommen und ihre Formulierungen sich verdächtig gleichen, sondern er plappert diesen Vorwurf ohne jede Begründung einfach nach. Als Werteaufklärer hätte er seine Erkenntnisse auf genau diesen Fall anwenden und darlegen müssen, wie gewisse Kreise unter dem Wortgeklingel von „Ungleichheit“ und „Benachteiligung“ eigene ideologische und Machtinteressen verfolgen. Er hätte seine Leser aufrufen müssen, sofort misstrauisch zu werden, wenn uns immer häufiger unter der Parole „Chancengleichheit“ ein neuer Obrigkeitsstaat und Nivellierung auf unterstem Niveau verkauft werden sollen – und das nicht nur auf dem Gebiet Schule. Eine Chance ist eine immer wieder neue Herausforderung, die der Einzelne bestehen kann oder auch nicht. Eine gleiche Abiturientenquote in allen Bevölkerungskreisen als Naturzustand zu unterstellen, macht den Begriff „Chancengleichheit“ sinnlos.

Auf welcher Grundlage beklagt überhaupt jemand, der eben noch Werte destruieren wollte, vermeintliche Missstände? Man kann sich nur noch auf den Standpunkt stellen: Das ist halt meine Meinung, und die brauche ich nicht zu begründen. Aber letztlich beruhen Marys Tiraden dann doch wieder auf – seinen eigenen – Werten.

Für sehr weltfremde und blauäugige Menschen mag „Werte im Schafspelz“ in der ersten Hälfte einige neue Erkenntnisse bieten. Der Rest ist unzumutbar. Schade ums Papier.

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