Nevo, Eshkol – Wir haben noch das ganze Leben

_Story:_

Alle vier Jahre werden die vier Jugendfreunde Churchill, Amichai Ofir und Juval für eine kurze Zeit fanatisch; in allen schwierigen Lebenssituationen ist es ihnen bis hierhin gelungen, ihre Leidenschaft für den Fußball zu teilen und die Weltmeisterschaften um das begehrte Leder gemeinsam zu verfolgen. Dies ist 1998, zur Zeit des Weltereignisses in Frankreich, nicht anders. Gemeinsam schauen sie in ihrer Tel Aviver Wohnung das Finale und nutzen auf Anraten Amichais die Gelegenheit, ihre persönlichen Ziele und Träume zu notieren, um sie bei der nächsten WM dann auch für alle anderen publik zu machen und zu bewerten.

Jedoch entpuppen sich die hier verankerten Sehnsüchte und Hoffnungen schon bald als Traumschlösser, die mit dem Alltag der Endzwanziger kaum mehr zu vereinbaren ist. Vor allem Juval, der sich sein Familienglück wünscht, muss eine schwere Zeit durchleben, da sich seine Geliebte Jaara eines Tages für seinen besten Freund Churchill entscheidet. Aber auch Ofir, der mit seinem Job in der Werbebranche unzufrieden ist, und Amichai müssen schwere Schicksalsschläge durchleben und verlieren ihre Ziele zwischenzeitlich gänzlich aus den Augen. Es scheint Churchill vorbehalten, sein Glück zu finden und für seine Zielstrebigkeit und Offenheit belohnt zu werden: Doch auch ihn ereilt der Einbruch, zunächst im beruflichen Alltag, dann auch in der Liebe – ganz zur Freude von Juval, der seinem Freund diesen Fehltritt nie wirklich verzeihen konnte. Doch was ist wirklich stärker? Ist es die Freundschaft unter vier gleichgesinnten Männern oder doch die von Missgunst und Leid erfüllten Einstellungen, die sich zwischen jenen beiden Sportereignissen ansammeln? Vier Jahre später bekommt das Quartett schließlich die lang ersehnte Möglichkeit, das Leben der jüngeren Vergangenheit Revue passieren zu lassen …

_Persönlicher Eindruck:_

Eshkol Nevo hat mit seinem aktuellen Roman definitiv etwas Besonderes, irgendwie aber auch Eigenartiges geschaffen. „Wir haben noch das ganze Leben“ ist kein Buch, welches von Spannung, einer nachvollziehbaren Stimmungskurve oder rasanten Wendungen lebt – auch wenn es hier vor allem auf emotionaler Ebene genügend sphärische Wechsel gibt, die hiermit vergleichbar wären. Allerdings hat der Autor völlig andere Ambitionen, eigene Sehnsüchte und Ansprüche an sein Schriftwerk, die viel tiefer gehen als es so mancher beeindruckende Thriller oder Krimi je erreichen könnten.

Nevo taucht ab in die Welt vier gleichaltriger Männer, die so viele Leidenschaften teilen, darunter die des Fußballs, die sie auch in den außergewöhnlichsten Situationen zu einer Zusammenkunft bewegen. Selbst Krankenhausaufenthalte und die Berufung zur Armee haben ihn dies nicht nehmen können und somit einen Fixpunkt geschaffen, an denen sich die Freundschaft als oberflächlicher gemeinsamer Nenner immer klammern kann. Ausgehend hiervon erstellt der Autor das Profil eines jeden einzelnen von ihnen, angefangen beim selbstbewussten, teils auch überheblichen Churchill über den rationalen Ofir bis hin zu Juval und Amichai, die wesentlich sensibler sind, gerade deswegen aber auch zu den schicksalsgeplagten Personen im Rahmen der Handlung avancieren. Und was Nevo aus diesen Charakteren, die an sich so gewöhnlich und bodenständig sind, denen jegliche Extravaganz abgeht, herausholt, ist zunächst beeindruckend, später einzigartig und am Ende einfach nur faszinierend.

Was dieses Buch so einzigartig macht, ist die Art und Weise, wie man mit den vier tragenden Säulen, sprich den Hauptfiguren, umgeht. Sie sind so gewöhnlich, absolut nicht befremdlich, in irgendeiner undefinierbaren Form aber doch unnahbar, da sie mit ihren persönlichen Tiefschlägen leben müssen und Situationen durchleben, die an sich so alltäglich sind, die aber am Ende doch so bewegend und schwierig sind, weil sie dann wieder sehr individuell und einzigartig bleiben. Man kann sich sehr gut in den dominanten Churchill hineinversetzen, dem selbstbewussten, manchmal auch egoistischen Menschen, der seine Ziele vielleicht am deutlichsten vor Augen hat und nicht so viel investieren muss, um diese auch zu erreichen.

Er ist ein fortschrittlicher Typ, oftmals auch verwöhnt und mit dem größten Durchsetzungsvermögen ausgestattet, gerade deswegen aber auch so anfällig für Misserfolge und Rückschläge, sodass seine Entwicklung vielleicht auch am ehesten nachzuvollziehen ist. Dem gegenüber steht der introvertierte Juval, ein von Melancholie und gelegentlichen Selbstzweifeln angetriebener Charakter, der viele positive Grundzüge in sich trägt, mit denen man auch sofort sympathisiert. Und dennoch bleibt er ein bekannter Fremder, eine Romanfigur, mit der man sich anfreundet, deren Leid man teilt, zu dem aber doch eine sehr angenehme Distanz gewahrt wird, die einem nie das besondere Element raubt. Und so kann man auch mit den übrigen Protagonisten fortfahren: Sie wirken vertraut, dies aber nur bis zu einem gewissen Punkt, von dem an man dann auch wieder zu spüren bekommt, dass ihre Persönlichkeit speziell bleibt und vielleicht doch nicht so einfach mit hiesigen Lebenssituationen vergleichbar sind, da so viele Faktoren diese Geschichte bestimmen, die in unserer Gesellschaft heute verloren gegangen sind oder einfach nicht mehr mit mancher, anti-emotionaler Entwicklung in Einklang zu bringen sind, die den Europäer des 21. Jahrhunderts bestimmen.

Insofern wagt Eshkol Nevo einen kontinuierlichen Rückzug zur Basis des Menschlichen, bringt Probleme auf den Punkt, die so nah und doch so fern sind, vereint diese in den Persönlichkeitsstrukturen dieser vier Menschen und erzählt währenddessen noch eine wunderschöne Geschichte, die zum Träumen einlädt, aber auch nie den Gedanken verliert, wie hart und ernst der Alltag ist und immer sein wird. Dass die politischen Entwicklungen in Israel hierbei auch eine bestimmte Rolle spielen, die vereinzelten Erwartungen ans Leben der vier Männer aus Tel Aviv stark von den unsrigen differenziert werden und Werte aufgegriffen werden, die stellenweise wie ein Relikt aus einer vergessenen Zeit anmuten, unterstreicht diesen außergewöhnlichen Eindruck eines Buches, welches vielleicht Personen wie Du und Ich in den Vordergrund bringt, aber an entscheidenden Stellen immer so weit abhebt, dass man das eigentlich Gewöhnliche als etwas Spektakuläres, Intensiver, aber leider nicht mehr permanent Greifbares wahrnimmt – und in der Selbstreflektion auch so akzeptieren muss.

Wenn die vier Herren sich schließlich zur WM 2002 in ihrem Wohnzimmer sammeln und die offengelegten, schriftlich verankerten Träume ins Gespräch bringen, wähnt man sich am Ende einer Traumreise durch den Alltag – und am Ziel eines vierjährigen Erlebnisses mit allen Höhen und Tiefen, die das Leben mit sich bringt. Die Wirkung dessen in Worte zu fassen, scheint derweil unmöglich. Doch „Wir haben noch das ganze Leben“ ist wohl am besten mit den banalen Begriffen ’schön‘ und ‚beeindruckend‘ zusammenzufassen. Und all dies mit der hier gebotenen Kontinuität aufrechtzuerhalten, ohne einen Einbruch in einer vermeintlich langatmigen Passage zu erleben oder bei der verzweifelten Suche nach Spannung aufzugeben, macht Nevos Titel zu einer sehr universellen Arbeit, in die sich wirklich jeder Liebhaber der modernen, gesellschaftlich inspirierten Belletristik auf Anhieb verlieben wird. Ganz bestimmt!

|Broschiert: 440 Seiten
Originaltitel: Mashala echat yamina
ISBN-13: 978-3423247900|
[www.dtv.de]http://www.dtv.de

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