Perry, Anne – Würger von der Cater Street, Der

London, 1881: Die dreiundzwanzigjährige Charlotte Elison ist eine Tochter aus gutbürgerlichem Haus, die mit ihren emanzipierten Ansichten immer wieder ihre Familie vor den Kopf stößt. Ihre ältere Schwester Sarah ist mit dem gutaussehenden Dominic verheiratet, die siebzehnjährige Emily ist ähnlich dickköpfig wie Charlotte, hält aber viel mehr an Konventionen fest. Charlotte schwärmt heimlich seit der ersten Begegnung für Dominic, was sie um des Familienfriedens willen verbirgt.

Zum Entsetzen der Bevölkerung geschehen in der Cater Street mehrere Frauenmorde. Junge Mädchen werden mit einer Drahtschlinge erwürgt, vom Täter gibt es keine Spur. Das Motiv gibt Rätsel auf, da die Frauen weder vermögend waren noch vergewaltgt wurden. Als auch ein Dienstmädchen der Ellisons ermordet wird, die in einer Nebenstraße wohnen, werden sie in den Fall verwickelt. Der ermittelnde Polizist Inspector Pitt stellt der Familie zu ihrem Ärger unangenehme Fragen. Vor allem Familienoberhaupt Edward Ellison stört sich an dem direkten und selbstbewussten Inspector, der ungeachtet seines niedrigen gesellschaftlichen Ranges immer wieder nachhakt.

Brisant ist auch sein auffallendes Interesse an Charlotte, was diese zunächst als unverschämt empfindet. Doch allmählich entwickelt sie selbst ein gesteigertes Interesse an dem Fall, zumal das letzte Opfer aus ihren eigenen Kreisen stammt. Beunruhigend ist auch, dass sich Emily neuerdings ausgerechnet für den zwielichtigen Lord Ashworth interessiert, der in der Halbwelt verkehrt. Und sogar Charlottes Vater Edward und Dominic scheinen etwas zu verbergen …

Fünfundzwanzig Bücher über ihr Gespann Charlotte und Thomas Pitt hat Anne Perry mittlerweile veröffentlicht. Für alle, die sich mit dieser Reihe befassen wollen, bildet dieser Band den Ausgangspunkt, um mit den Figuren vertraut zu werden und zu erfahren, wie sich das spätere Ehepaar Charlotte und Thomas Pitt überhaupt kennenlernte.

|Spannung und Atmosphäre|

Wenige Jahre, bevor Jack the Ripper das reale London in Angst versetzen wird, treibt ein Würger in der gutbürgerlichen Cater Street sein Unwesen. Vor allem das unerkannte Motiv beunruhigt die Bevölkerung, denn die Opfer scheinen nicht viel miteinander gemein zu haben. Bald wagt sich keine Frau mehr allein auf die Straße und Misstrauen zieht sich durch die ganze Stadt. Bekannte verdächtigen sich gegenseitig, denn die Polizei vertritt die Theorie, dass es sich um eine Person handelt, die im öffentlichen Leben völlig unverdächtig wirkt – vielleicht sogar ein Geisteskranker, der außerhalb seiner Anfälle gar nichts von seinen Taten weiß. Das macht die Morde umso beunruhigender und für die Polizei umso schwerer zu lösen.

Besonders heikel wird es, als sich auch Charlottes Schwager Dominic und ihr Vater Edward eigenartig verhalten. Vor allem Edward reagiert zunehmend gereizt auf die häufigen Befragungen des Inspectors, weicht aus und wird bei einem falschen Alibi ertappt. Trotz dreißig Jahren guter Ehe zweifelt seine Frau Caroline plötzlich an ihrem Mann und fürchtet sich davor, dass er mit den Morden zu tun haben könnte. Dazu kommt der innere Zwiespalt, ob sie sein falsches Alibi unterstützen oder dem Inspector die Wahrheit sagen soll. Charlotte verdächtigt zusätzlich den ominösen Lord Ashworth, den Emily für sich zu gewinnen sucht. Sie bangt nicht nur darum, dass der verrufene Lord ihre Schwester unglücklich machen könnte, sondern traut ihm zu, der Würger zu sein …

Trotz der Kriminalhandlung steht aber die Porträtierung der viktorianischen Gesellschaft im Vordergrund. Ansehen ist alles, die Stände bleiben gewöhnlich unter sich, Frauen haben sich zurückzuhalten und vor allem hübsch auszusehen. Charlotte ist mit Anfang zwanzig beinah schon eine alte Jungfer und mit ihrer Offenheit eine denkbar ungeeignete Partie. Die Eigenheiten der konservativen Gesellschaft werden immer wieder auf die Spitze genommen, sei es durch die schadenfrohen Lästereien beim Kaffeeklatsch über scheinbare Skandale oder empörte Reaktionen auf Charlottes ungehöriges Interesse an Tageszeitungen.

|Gelungene Charaktere|

Schon in diesem ersten Band spürt der Leser, dass sich mit Charlotte Elison und Inspector Pitt eine interessante Kombination gefunden hat. Charlotte ist kein Prototyp des viktorianischen Zeitalters; sie verabscheut den Standesdünkel und gibt nicht viel auf oberflächliche Konventionen. Sie spricht aus, was sie denkt, auch wenn sie mit ihrer Ehrlichkeit ihr Gegenüber vor den Kopf stößt, stört sich nicht an Gerede und zeigt echtes Interesse an den Geschichten über die Armenwelt Londons, die ihr von Pitt nahegebracht werden. Die Sympathie des Lesers ist ihr sicher, da Charlotte einerseits alles andere als makellos-langweilig ist, aber auch nicht aufdringlich oder gar zickig. Reizvoll ist auch ihr Verhältnis zu ihrem Schwager Dominic. Von der ersten Begegnung an hat sie für ihn geschwärmt und die Heirat mit ihrer Schwester mit gemischten Gefühlen betrachtet. Noch heute, Jahre später, gerät sie in seiner Gegenwart in Verlegenheit und hofft gleichzeitig, dass niemand, am wenigsten ihre Schwester, davon je etwas erfahren möge. Im Laufe der Handlung muss Charlotte allerdings ihre Meinung zu Dominic ein wenig revidieren und zum ersten Mal erkennen, dass sich ihre Gefühle getäuscht haben.

Auch Pitt hat man wegen seiner unkonventionellen Art schnell ins Herz geschlossen. Ein solider Polizist, der keine Scheu vor der höheren Gesellschaft kennt und sich von Arroganz nicht abschrecken lässt; stattdessen begegnet er Herablassung mit Souveränität und Belustigung. Eine mysteriöse Figur ist der schwer einzuschätzende Lord Ashworth. Gutaussehend und charmant, wie er ist, wählt ihn die naive und sture Emily als zukünftigen Ehemann aus. Allerdings munkelt man, dass der reiche Herr ein Spieler sei, der sich gerne in zwielichtigen Etablissements herumtreibt – und in Emily wahrscheinlich nur ein kurzes Vergnügen sieht.

|Ein paar kleine Schwächen|

Zwar ist die Verbindung aus viktorianischem Gesellschaftsroman und Krimi reizvoll, allerdings steht der Krimi-Teil vergleichsweise im Hintergrund. Es dauert eine Weile, bis die Taten des Würgers Charlotte und ihre Familie direkt betreffen, und bis dahin steht der viktorianische Alltag im Fokus. Das Ende ist dagegen etwas zu knapp gehalten. Schön wäre gewesen, nach dem großen Finale samt Auflösung noch einmal den Rest von Charlottes Familie zu erleben, stattdessen folgt ein abrupter Schluss. Und auch wenn alle den Fall betreffenden Fragen geklärt sind, gibt es doch einen Handlungsstrang, der etwas in der Luft schwebt, anstatt richtig zu Ende geführt zu werden. Die letzten Geschehnisse werden auf zu wenige Seiten gedrängt und wirken eher wie ein Aufhänger für den Nachfolgeband, anstatt den Roman abzuschließen. Diese Punkte verhindern, dass dieser Roman der ganz große Wurf geworden ist, doch für ein Debütwerk ist Anne Perry seinerzeit ein guter Krimi gelungen.

_Unterm Strich_ ist der erste Krimi aus der Inspector-Pitt-Reihe, der die Leser ins viktorianische London führt, gelungen. Die Hauptfiguren sind interessant, die Spannung ist weithin gegeben, allerdings entwickelt sich die Krimihandlung recht schleppend und das Ende ist in allen Belangen etwas zu knapp geraten.

_Die Autorin_ Anne Perry wurde 1938 als Juliet Hume in London geboren. 1954 beging sie gemeinsam mit ihrer besten Freundin einen Verzweiflungsmord an deren Mutter, der ihnen eine Haftstrafe einbrachte. Der Fall wurde als „Heavenly Creatures“ verfilmt. Nach ihrer Entlassung nahm Perry ihren heutigen Namen an und beann in den sechziger Jahren zu schreiben. 1979 veröffentlichte sie mit „The Cater Street Hangman“ ihren ersten Roman. Seither hat sie Dutzende von Büchern in mehreren Reihen herausgebracht. Am bekanntesten sind ihre Inspector-Pitt- und Privatdetektiv-Monk-Romane, die jeweils im viktorianischen London spielen.

http://www.dumont-buchverlag.de/

_Mehr von Anne Perry auf |Buchwurm.info|:_

[„Feinde der Krone“ 1723
[„Die Verschwörung von Whitechapel“ 1175

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