Saramago, José – Stadt der Blinden, Die

|“[…] ein Mensch wird nicht blind, nur weil er einen Blinden ansieht, Blindheit ist eine private Angelegenheit zwischen dem Menschen und den Augen, mit denen er geboren wurde.“|

_Alles weiß_

In einer namenlosen Stadt springt eine Ampel auf grün. Ein Auto bleibt stehen, und die anderen Autofahrer hupen wild, bis die Worte des Fahrers nach außen dringen – ich bin blind! Urplötzlich hat der Mann – der erste Blinde – sein Augenlicht verloren. Die Blindheit taucht seine Welt nicht in ein tristes Dunkel, sondern in ein helles Weiß. Von nun an herrscht immer Tag für ihn. Ein anderer Mann bietet dem ersten Blinden seine Hilfe an und bringt ihn nach Hause. Dort endet seine Hilfsbereitschaft, denn er nutzt die Blindheit des Mannes aus und entwendet ihm sein Auto. Kurz darauf erblindet auch der Dieb. Zu Hause wartet der erste Blinde auf seine Frau, die ihn schleunigst zu einem Augenarzt bringt. Der Augenarzt und seine Patienten sind die nächsten, die erblinden.

Wie eine Epidemie greift die Blindheit in der Stadt um sich. Die Regierung beschließt, die Blinden und diejenigen, die mit ihnen in Kontakt waren, in einer ehemaligen Irrenanstalt zu internieren, um sie vom Rest der Bevölkerung zu isolieren. Soldaten bewachen die Anstalt und stellen den Internierten dreimal am Tag Lebensmittel vor die Tür. Doch das Essen reicht für die schnell wachsende Gruppe der Internierten hinten und vorne nicht. Lange dauert es auch nicht, bis sämtliche Toiletten verstopft sind und die Blinden ihre Notdurft verrichten, wo sie sich gerade befinden, sei es im Bett, auf dem Flur oder sonstwo. Nur eine Frau ist dort untergebracht, die das ganze Elend, den ganzen Ekel noch sehen kann – die Frau des Augenarztes, die ihre Blindheit nur vorgetäuscht hat, um ihren Mann begleiten zu dürfen. Sie ist der Rettungsanker in der Irrenanstalt, auch wenn niemand außer ihrem Mann weiß, dass sie noch sehen kann.

Die Frau des Arztes versucht unauffällig, das Leben in der Irrenanstalt zu organisieren. Doch als immer mehr Blinde eingeliefert werden, schließt sich in einem anderen Saal eine Gruppe von Männern zusammen, die sämtliche Lebensmittel für sich beanspruchen und von den anderen Internierten Wertsachen als Bezahlung einfordern. Als diese schließlich verteilt sind, verlangen die Männer Frauen als Gegenleistung. Die Situation in der Irrenanstalt läuft nun völlig aus dem Ruder …

_Anarchie, und niemand sieht zu_

Der portugiesische Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger José Saramago zeichnet in diesem Buch ein Schreckensszenario, wie man es sich niemals ausgemalt hätte. Nach und nach erblinden alle Menschen einer Stadt oder sogar eines ganzen Landes. Alle Arbeit liegt brach, niemand kann mehr Auto, Bus oder Straßenbahn fahren und auch kein Pilot lenkt mehr ein Flugzeug. Niemand kümmert sich um die Lebensmittelversorgung, und als schließlich alle Menschen erblindet sind, fällt überall der Strom aus. Die Menschen irren blind durch die Straßen – auf der Suche nach Lebensmitteln und Obdach, denn wenn sie auf der Straße erblindet sind, finden sie ihr Zuhause nicht mehr. Jede Wohnung, jedes Haus oder jeder Laden wird nun zur zeitweisen Unterkunft. Niemand hat mehr eine Heimat.

Davon ahnen die Internierten noch nichts, sie hausen unter unvorstellbaren Bedingungen, haben kein Wasser, um sich zu waschen oder etwas zu putzen. Sie hungern, weil es immer wieder Blinde gibt, die sich bei der Essensverteilung mehrfach anstellen – wer sollte es schließlich sehen und für Ordnung sorgen? Alles stinkt, alles ist verdreckt, sodass es eigentlich ein Wunder ist, dass nicht mehr Menschen in der Irrenanstalt sterben.

Die Blinden führen Krieg untereinander, sie bestehlen sich gegenseitig und misstrauen allem und jedem, denn niemand kann die anderen sehen und sie kontrollieren. Niemand sorgt für Ordnung, niemand sieht die Schuldigen. Und so wundert es nicht, dass eine Gruppe Männer die Führung an sich reißt und sämtliche Lebensmittel für sich beanspruchen kann. In der Anonymität der Blindheit und ausgestattet mit einer Pistole und einem „echten Blinden“ trauen sie sich, sich über die anderen Blinden zu erheben. Niemand sieht sie dabei und könnte hinterher gegen sie vorgehen. Doch zwei gequälte Frauen, die mehrfach brutal von den aufrührerischen Männern vergewaltigt wurden, wagen den Aufstand: Die Frau des Arztes bringt den Anführer um und sorgt für Chaos unter der Gruppe der Männer. Doch diese lassen sich das Zepter immer noch nicht aus der Hand nehmen, und so schleicht sich heimlich des Nachts eine blinde Frau mit einem Feuerzeug zu den Männern und zündet die Barrikade aus Betten im Zimmereingang an.

Nur eine Frau kann dem Elend zusehen und doch nicht helfen, da niemand wissen darf, dass sie sehen kann. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn jemand erführe, dass die Frau sehen kann. Sie müsste sich um alle Kranken kümmern, Menschen zu den nicht funktionierenden Toiletten bringen, andere Menschen trösten oder sich vermutlich vor Angriffen schützen, da andere ihr das Augenlicht neiden würden. So wird sie zur Zeugin, wie die Menschen angesichts der Blindheit zu Tieren werden. Sämtliche Menschenwürde ist verschwunden, als die Blinden beginnen, ihre Notdurft an allen möglichen und unmöglichen Stellen zu verrichten. Männer und Frauen fallen blindlings übereinander her, um sich gegenseitig Trost und Nähe zu spenden, auch wenn sie sich sonst vermutlich nie miteinander abgegeben hätten. Verzweifelt versucht die Frau des Arztes, für Ordnung zu sorgen, doch misslingt es ihr immer mehr. So flüchtet sie sich immer häufiger unter die Bettdecke, um still in sich hineinzuweinen.

_Die Macht der Sprache_

José Saramagos Schreibstil ist gewöhnungsbedürftig: Kaum Absätze sorgen für Zäsuren, die wörtliche Rede findet sich durch Kommas abgetrennt mitten im Fließtext, und keine Anführungszeichen deuten darauf hin, ob diese Worte wirklich gesagt oder nur gedacht wurden. Dieser Schreibstil (den Andrzej Sapkowski in seiner historischen Trilogie vom Narrenturm ähnlich einsetzt) fordert den Leser heraus, passt aber wunderbar zur Geschichte, denn auch dort fließen Worte ineinander, niemand kann den Sprechenden erkennen, und so wundert es nicht, dass keine handelnde Person einen Namen erhält. Bis zum Ende werden die Personen über Merkmale charakterisiert, mit denen die Blinden etwas anfangen können. Was bedeuten Namen, wenn man die Person ohnehin nicht erkennen kann? Saramagos Figuren stehen für bestimmte Rollen, nicht aber für eine individuelle Person; er will uns keine konkreten Menschen vorstellen, sondern eine grausame Situation zeichnen, in der Menschen mit ihrem Schicksal hadern und um ihr Leben kämpfen. Doch was ist das überhaupt für ein Leben?

Saramagos Sprache ist unauffällig und still, aber manchmal umso poetischer. Seine Sätze sind lang und verschachtelt und beschwören eine spannungsgeladene Atmosphäre herauf. Meist sind es die wenigen Worte, die still und unbemerkt daherkommen, die dem Leser einen Schauder über den Rücken laufen lassen, oder es sind die langen detailgetreuen Beschreibungen. So verwendet Saramago mehrere Seiten darauf, um die schrecklichen Lebensbedingungen in der Irrenanstalt zu schildern – die verstopften Toiletten oder die Gänge, die vor Dreck und Kot überschwemmt sind, Menschen, die schon aus Gewohnheit jeden Winkel des Gebäudes in ein Scheißhaus verwandeln, den Gestank, den jeder einzelne Blinde ausdünstet, sodass auch die morgendlichen Blähungen oder die schweißgetränkten Körper die Luft nicht weiter verpesten könnten.

Der Wechsel aus diesen ausschweifenden Beschreibungen und den Dingen, die nur angedeutet werden, sorgt für eine unglaublich dichte Atmosphäre. Viele Schrecken muss man sich als Leser ausmalen, und manchmal kann die Fantasie noch schrecklicher sein als die Worte, die explizit aufgeschrieben werden. In einer Szene verbrennt eine Frau, und hier beweist José Saramago sein unglaubliches Sprachgefühl, denn er nimmt sich zurück und überlässt es dem Leser selbst, wie er sich diese Situation vorzustellen hat:

|“[…] o ja, sie sind nicht vergessen, die Schreie der Wut und der Angst, das Brüllen vor Schmerz und Agonie, das sei hier erwähnt, es werden auf jeden Fall immer weniger, die Frau mit dem Feuerzeug zum Beispiel schweigt schon seit langem. […] Lieber sterbe ich durch einen Schuß als im Feuer, es schien die Stimme der Erfahrung zu sein, deshalb war es vielleicht nicht er selbst, der sprach, sondern vielleicht hatte durch seinen Mund die Frau mit dem Feuerzeug gesprochen, die nicht das Glück gehabt hatte, von einer letzten Kugel durch den blinden Buchhalter getroffen worden zu sein.“|

Das Schweigen der Frau wird den Schreien der Wut und Angst gegenübergestellt und wirkt dadurch noch dramatischer. Diese Worte, die Saramago fast schon lapidar dahingeschrieben hat, erhalten dadurch eine viel stärkere Wirkung. Erst zwei Seiten später deutet Saramago das Unglück an, das der Frau mit dem Feuerzeug widerfahren ist, denn sie ist bei lebendigem Leibe verbrannt.

Besonders gelungen empfand ich auch Saramagos Beschreibungen des Hausstaubs, der die Abwesenheit der Bewohner genutzt hat, um sich friedlich und still auf den Möbeln zu verteilen. Niemand hat ihn dabei gestört, niemand ihn aufgewirbelt oder gar abgewischt. Kein geöffnetes Fenster hat für Durchzug gesorgt und den Staub verteilt. Erst als die Bewohner zurückkamen, begann der Reinigungsprozess – Finger, die über Möbel wischten und den Staub verteilten und Spuren auf der Oberfläche hinterließen. José Saramagos Schreibstil versetzt den Leser mitten in die Szene, der Autor nimmt uns an die Hand und zeigt uns alles, das er für wichtig erachtet. So kann man tief in diese aufreibende Geschichte abtauchen.

_An der Menschlichkeit festhalten_

|“[…] jemanden mit sehenden Augen unter uns zu haben, die letzten, die geblieben sind, wenn sie eines Tages erlöschen, daran möchte ich gar nicht denken, dann wird der Faden, der uns an die Menschheit bindet, zerreißen, es wird sein, als würden wir uns einer vom anderen im Weltraum entfernen, für immer […]“|

Nur dieses eine zarte Band – die sehenden Augen der Frau des Arztes – ist es, das für einige Blinde Hoffnung bedeutet, doch auch Verzweiflung, denn die Augen sind so empfindlich – und was wäre, wenn auch diese letzten erlöschen würden? Fragen der Hoffnung, der Menschlichkeit, des Zusammenlebens, des Misstrauens und der Freundschaft sind es, die José Saramago hier aufwirft. Nie hätte ich mir die Situation so dramatisch ausgemalt, wenn plötzlich alle Menschen erblinden würden, doch natürlich müsste die Situation eskalieren – zunächst durch die Angst der noch Sehenden und dann durch das Chaos, wenn niemand sich mehr um eine geordnete Lebensmittelversorgung oder um die Elektrizität kümmern könnte. Die Menschen müssten zugrunde gehen, und wie dieses Zusammenleben dann aussehen könnte, stellt uns Saramago eindrucksvoll vor.

„Die Stadt der Blinden“ ist ein Buch, das sehr nachdenklich stimmt. Sind wir wirklich so kurz davor, unsere Menschenwürde aufzugeben und allen Mitmenschen zu misstrauen, wenn uns das Augenlicht verloren geht? Werden wir nicht nur mit den Augen blind, sondern auch mit dem Herzen? Und was bedeutet es, wenn niemand mehr sehen kann – kein Arbeiter, keine Regierung …? Dieses Buch fordert den Leser inhaltlich und sprachlich heraus, erzählt aber eine umso bewegendere Geschichte, die nachwirkt und mich tief beeindruckt hat. Ein Buch, welches das Prädikat ‚besonders wertvoll‘ definitiv verdient hat!

|Originaltitel: Ensaio sobre a Cegueira
Deutsch von Ray-Güde Mertin
398 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-499-22467-6|
http://www.rowohlt.de
[Wikipedia-Eintrag]http://de.wikipedia.org/wiki/Jos%C3%A9__Saramago

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