John Naish – GENUG. Wie Sie der Welt des Überflusses entkommen

Praktische Anleitung zum Zufriedensein

Mehr Informationen, mehr Essen, mehr Sachen, mehr Statussymbole. Heute gibt es von allem mehr, als wir jemals nutzen, genießen oder uns leisten können. Trotzdem rücken wir in der Überflussgesellschaft keinen Millimeter von der ältesten Überlebensstrategie der Menschheit ab: zu horten. Wir wollen immer mehr, auch wenn es uns krank, müde, übergewichtig, unzufrieden und arm macht. Die Welt des Überflusses zerstört jedoch unsere persönlichen Ressourcen ebenso gründlich wie die unserer Heimatwelt. (abgewandelte Verlagsinfo) Naish zeigt uns die Probleme ebenso wie die Strategien, wie wir sie bewältigen können. Praktische To-do-Listen helfen den Betroffenen ganz konkret – sofern sie sie beherzigen.


Der Autor

John Naish ist Redakteur im Gesundheits-Ressort „Body & Soul“ der Londoner „Times“ und lebt, was er predigt: Als er vor sechs Jahren kurz vor dem Burnout stand, entschied er sich gemeinsam mit seiner Frau zu einem Kurswechsel. Heute ist er der einzige „Times“ Journalist ohne Handy, verlässt sein Büro immer pünktlich und besitzt keinen Fernseher. Er lebt mit seiner Frau in Brighton, macht gerne lange Spaziergänge und sammelt japanische Motorräder. (Verlagsinfo)

Inhalte

Einleitung

170.000 Jahre lang hat die Natur das Gehirn des Menschen konditioniert, bis im Pleistzän, dem Erdzeitalter der Eiszeiten, optimal angepasste Jäger und Sammler so gut überleben konnten, dass sie sich zusätzliche Lebensräume am Polarkreis und in den Tropen erobern konnten. Das antrainierte Verhalten bestimmt aber noch heute unser unbewusstes Verhalten.

Während die alte Welt eine des Mangels war, ist die heutige im Westen eine des Überflusses. Die Regeln des Verhaltens wie Jagen und Sammeln sind nicht mehr für unser Überleben maßgeblich, sondern in einer Umgebung des Überflusses einer der Gründe, warum wir übergewichtig, krank, müde, unzufrieden und sogar arm (sorry, kein Kredit mehr!) werden.

Es ist also an der Zeit, Grenzen zu finden. Aber auch wenn sich inzwischen herumgesprochen hat, dass diese rasante Entwicklung nicht immer so weitergehen kann (Ölcrash, Klimakatastrophe und dergleichen „Nebensächlichkeiten“ mehr) und wir wissen, dass wir unserem Planeten schaden (spätestens seit „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972), reicht es nach Naishs Ansicht nicht, die Verantwortung „der Regierung“ oder „der Gesellschaft“ zuzuschieben. Naish plädiert für ein individuelles Genug auf verschiedenen Gebieten: Information, Essen, Sachen, Arbeit, Auswahl, Glück, Wachstum. Denn immer mehr zu wissen, zu arbeiten, zu besitzen macht nicht glücklich, sondern arm – nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Heimatwelt.

Diese fundamentale These legt der Autor in seiner Einleitung dar, die mit anschaulichen Beispielen an das Thema heranführt.

1) Genug Information

Gleich im ersten Kapitel verblüfft uns der Autor mit der Auskunft, dass er sein Handy entsorgt und seinen Fernseher weggeworfen habe. Handy-SMS, 400 TV-Programme mit ellenlangen Werbeblöcken (1 Jahr unserer durchschnittlichen Lebenszeit!), pro Tag hunderte von E-Mails und Newslettern, von Prospekten im Briefkasten ganz zu schweigen – wir „Infomaniacs“ sind täglich einer wahren Flut von Informationen ausgesetzt.

Seltsamerweise stöhnen wir zwar darüber, wollen sie aber auch nicht eindämmen. Insgeheim plagt uns nämlich die Angst, wir könnten als unterbelichtet, als „von gestern“ gelten, wenn wir „nicht auf der Höhe der Zeit“ sind und jedem Fitzelchen Information hinterherjagen. Auch dieses Verhalten ist dem der Jäger und Sammler geschuldet. Und jede Information versetzt uns außerdem in einen Dopaminrausch, der die Sucht nach noch mehr Infos zementiert.

Wie in jedem Kapitel gibt es auch hier nach dem PROBLEM-Teil einen LÖSUNGS-Teil. Hier finden sich Warnungen und Tipps zum Thema. (Ich werde diesen Teil nicht wiederholen; er steht in jedem Kapitel und kann als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Dies ist der Teil, der das Buch so wertvoll als Ratgeber macht.)

2) Genug Essen

Jäger und Sammler waren immer davon bedroht, von einer Katastrophe heimgesucht oder von einem stärkeren Rivalen – selbst in der eigenen Sippe – beraubt zu werden und deshalb nichts mehr zu essen zu haben. Deshalb horteten sie, wo und wann es nur ging. Selbst heute noch ist unsere Körperchemie darauf abgestimmt, Fettpolster anzulegen, wenn es uns gut geht. Selbst eine Diät erlaubt es uns nur, bis zu 10% des Körpergewichts zu verlieren, dann weigert sich der Organismus, mehr abzugeben und dreht die Hormonkanone voll auf: ESSEN! SOFORT! SO VIEL WIE MÖGLICH!

Kein Wunder, dass nach der Diät in der Regel ein Jojo-Effekt eintritt und man hinterher mehr wiegt als davor. Es gibt noch viele weitere Effekte, die unsere Essgewohnheiten und unseren Appetit beeinflussen. Man würde nicht im Traum daran denken, dass das Zusammensein mit anderen den Appetit fördert, oder?

3) Genug Sachen

Wohlhabende Menschen kaufen sich viele unnütze Dinge. Unnütz insofern, als sie diese Dinge zwar teuer bezahlen und verkaufen, aber in der Zeit dazwischen Unsummen für die Pflege und Wartung dieser Dinge ausgeben müssen: Yachten und Speedboats kosten Liegeplatzgebühren, Ferraris und Bentleys müssen regelmäßig gewartet und poliert werden – es sind alles Statussymbole und Spielzeuge. Der kleine Mann legt sich nicht Ferraris zu, sondern Flachbildfernseher und Sandwichtoaster, Designer-Zitronenpressen und Waffeleisen (die oft schon bald in der Rumpelkammer landen, manchmal sogar noch originalverpackt).

(Zwei Impulse)

Mindestens zwei Impulse wirken in den Shopaholics. Die Jagd ist wichtiger als die Beute – der Kick ist das Begehren und wird von mächtigen Hormonschüben im Hirn begleitet. Nach dem Dopaminrausch (schon wieder!) ist die Enttäuschung groß: Zum Glück lässt sich das Zeug am nächsten Montag wieder umtauschen. Bis zum nächsten Shoppingwochenende. Sammler hingegen suchen eine ständige Befriedigung ihrer Sucht, bis sie alle Artikel einer Serie besitzen. Und dann? Geht’s weiter zur nächsten. Es ist der gleiche Kick.

Der zweite Impuls betrifft den eigenen Status: Man will das gleiche Ansehen haben wie der Promi, der die Werbung für Artikel XYZ macht, sei es Daniel Craig oder Otfried Fischer. Ansehen ist gleichzusetzen mit Geliebtwerden. Man redet sich unbewusst ein: Wenn ich Artikel XYZ habe, werden mich die Personen, an denen mir besonders liegt, lieben und anerkennen. Dass dies ein Selbstbetrug ist, den die Werbeindustrie nach Kräften fördert, erkennen die Betroffenen meist erst zu spät. Darüber, woher dieses Streben nach Besitz kommt, streiten sich die Gelehrten, aber der Autor hält ein paar überzeugende Theorien parat. Häufig zieht er Forschungen über die Gehirnregionen heran, die am Verhalten beteiligt sind – faszinierend.

(Das Loswerden)

Das letzte Drittel dieses Kapitels ist dem Versuch gewidmet, den gesammelten Krempel wieder loszuwerden. Immerhin ist in den USA mal eine 62-jährige Renterin unter ihrem Berg von Krempel erstickt, als sie ihr Telefon suchte. Doch das Loswerden – nach dem kostspieligen Einlagern – ist heutzutage gar nicht so einfach, wie der Autor selbst feststellen musste. Er fuhr zu diversen Wohltätigkeitsorganisationen, aber die nehmen nichts mehr, nachdem sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. Auch bei „Freecycle“ im Internet wird man keine Röhrenfernseher mehr los, und erst recht nicht bei Emmaus, einer internationalen christlichen Wohltätigkeitsorganisation. Wahrscheinlich werden wir die Antarktis abschmelzen müssen, um mehr Platz fürs Loswerden zu bekommen. Mit Grönland klappt das Abschmelzen schon recht gut. Die Dänen können schon mal anfangen, die Müllmarken zu drucken.

4) Genug Arbeit

In den USA und zunehmend auch in Europa und Japan wächst die Zahl der Workaholics stetig an. Seit 1983 gibt es die Anonymen Workaholics (auch in Deutschland: AAS), und das nicht ohne Grund. Die Leute arbeiten mehr, um erstens ihren Status zu heben, zweitens es dem Chef recht zu machen und drittens, um sich immer bessere Ausrüstung für ihre Freizeitvergnügungen und Urlaube leisten zu können. Das ist echt verdreht: Je besser die Freizeit werden soll, desto mehr schuftet man und vernichtet dabei die Freizeit, die einem gesetzlich zusteht (Gewerkschaften haben hart dafür gekämpft).

Doch wo liegt der Punkt, an dem man sagen kann: „Dies ist jetzt aber GENUG Arbeit“? Der Punkt ist für jeden individuell. Für den Autor reichen beispielsweise 35 Wochenstunden völlig aus. Für Charles Handy, den 70-jährigen Autor eines vom Autor geachteten Ratgebers, ist es gleichgültig: Er hält nur noch diejenigen Vorträge, die er wirklich halten will, und gestaltet ansonsten seine Freizeit nach Gusto – wenn er nicht gerade dem Autoren und vielen anderen Journalisten aus aller Welt ein Interview gibt.

Der Ratgeberteil gibt Tipps zu Arbeitsstunden, zu dem Einklang mit Biorhythmus und zu etwas, das der Autor „Mini-Fluchten“ nennt: kurze Wochenendausflüge in einem Umkreis von 60 Autominuten – und niemals an einem gesetzlichen Feiertag.

5) Genug Auswahl

Wir haben heute die Qual der Wahl. Man braucht bloß mal versuchen, eine Digitalkamera oder ein Fotohandy auszuwählen: Die Auswahl ist schier grenzenlos. Was soll aber die Vielzahl der Variationen für einen Zweck haben? Schließlich stellen die vielen Artikel die Interessenten vor immer neue, immer detailliertere Entscheidungen – was für eine Last! Kaum jemand macht sich daher die Mühe, auf einer Verpackung nach den Inhaltsstoffen zu suchen oder gar deren Menge zu bewerten.

Shopaholics entstehen, die selbst unnötigste Dinge kaufen, und im Internet ist das sogar noch leichter. Das Phänomen des „Wilfings“ ist entstanden: Was war es noch gleich, was ich wollte? Angebotsverweise etwa auf Amazon.de fördern diese Zufallskäufe: „Wer Produkt A kaufte, interessierte sich auch für die Produkte B, C und D.“ Es gibt noch weitere Phänomene wie etwa jene neue Spezies Mensch, die sich einfach nicht entscheiden kann und festlegen will: Yeppies, Experimentierer. Das schlägt sich beispielsweise in ziemlich kurzen persönlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau nieder. So erging es Paul, einem Freund des Autors.

Auch hier erteilt der Autor jede Menge Ratschläge und konkrete Tipps, die jeder umsetzen kann.

6) Genug Glück

War es im Mittelalter noch kirchlicherseits verpönt, glücklich sein zu wollen, so entwickelte sich die Branche der Ratgeber fürs Glück spätestens im 19. Jahrhundert, u.a. mit Ralph Waldo Emersons berühmtem Essay „Self Reliance“ (etwa: „Verlass dich auf deine eigene Kraft und Vernunft.“) Im Laufe des 20. Jahrhundert wurde aus dem Streben nach Glück, das vielleicht eine hilfreiche Eigenschaft ist, ein ANSPRUCH auf Glück und schließlich Ende des Jahrhundert sogar eine PFLICHT zum Glücklichsein.

Kein Wunder, dass es inzwischen Massen von Ratgebern dazu gibt, wie diese Pflicht zum Glück zu erfüllen sei. Selbsternannte Gurus und Psychotherapeuten sagen ihren Jüngern und Schützlingen, auf welchen Wegen sie das Glück erreichen können. Doch erstens ist es kein evolutionärer Vorteil, glücklich und optimistisch zu sein (sorglose Optimisten verhungern, werden gefressen oder krank!), und zweitens funktionieren die angebotenen Therapien und Heilslehren schlichtweg nicht. Alle.

Leider ist es bereits ketzerisch zu behaupten, dass es keinen Sinn habe oder gar schädlich sei, nach Glück und Vollkommenheit zu streben. Solche Ketzer begannen 1994 Bücher zu veröffentlichen: Eine Supermom will nicht mehr perfekt sein, sondern bloß Kinder haben, wie es ihr passt. Sie weigert sich, unglücklich zu sein und Psychopharmaka zu nehmen, nur weil sie nicht so perfekt sein kann, wie es ihr die Ratgeber vorschreiben. Sie ist eine Ruferin in der Wüste, doch unter den Supermoms findet sie immer mehr Gleichgesinnte. Sie verweigern sich sogar dem „Konkurrenzkampf unter Eltern“, die ihre Kinder zu Perfekto-Kids erziehen wollen. Da gibt es einige Auswüchse, über die sich der Autor wundert.

Am Schluss der Rat, das Leben vor lauter Plänen, es zu verbessern, nicht zu verpassen. Man kann genug glücklich sein, ohne nach Perfektion zu streben. Und wer eine der Fragen auf dem angehängten Fragebogen mit Ja beantwortet, ist therapiesüchtig.

7) Genug Wachstum

In diesem Kapitel geht es um die Wirtschaft. Der Ökonom Keynes rettete die britische Wirtschaft in den 1930er Jahren, doch für die Zukunft stellte er sich eine völlig unrealistische Utopie vor: die Freizeitgesellschaft mit Vollbeschäftigung und Totalautomatisierung, die dem Ideal des Guten und Schönen lebt. Offensichtlich ist der homo oeconomicus, von dem Keynes und alle weiteren Wirtschaftstheoretiker ausgehen, eine Fiktion: Die Menschen handeln nicht (nur) rational, sondern entscheiden aus dem Bauch heraus. Sie sind vielmehr der „wollende Mensch“, homo expetens, wie ihn der Autor nennt: Nichts ist dem wollenden Menschen GENUG, wie es scheint.

Das wäre natürlich für unseren ausgebeuteten Planeten tödlich, denn er pfeift schon jetzt auf dem letzten Loch. Seit den 1980er Jahren leben wir auf Pump von Mutter Natur. Doch wie soll die nachhaltige Wirtschaft aussehen, fragte der Autor sämtliche verfügbaren Theoretiker – keiner hatte eine Antwort. Das ist höchst beunruhigend. Wie es scheint, kann es keinen sanften, sondern nur einen abrupten „Übergang“ zur Wirtschaft der Nachhaltigkeit geben. Oder wir kehren zurück in die Höhle, aus der wir kamen.

Am Schluss schildert der Autor noch ein paar Verhaltensweisen, wie sie der umweltbewussten Idee der Nachhaltigkeit entsprächen. Sie werden die Propagandisten der Vollbeschäftigung nicht gerade begeistern. Aber jeder kann bei sich selbst anfangen, die Vorschläge umzusetzen.

8) Nie genug

War das vorige Kapitel ziemlich deprimierend, so geht es im letzten Kapitel um die positiven Impulse im Leben. Es geht nämlich um die geistig-seelische Fähigkeit, erst einmal GENUG zu sagen und dankbar für das zu sein, was man jeden Tag erlebt. Gesundheit, Freundschaft und ein Gespräch mit den Nachbarn ist laut einer Umfrage wesentlich höher geschätzt als jedes Statussymbol – immaterielle Werte, für die jeder dankbar sein sollte, die aber nicht jeder bewusst wahrnimmt.

Bewusstheit – eine schwierige Fähigkeit, die von uns gestressten Wohlstandsbürgern systematisch unterdrückt wird. Würden wir uns nämlich unserer Lage bewusst werden, müssten wir fast unter den Schuldgefühlen gegenüber der „Dritten Welt“ und Mutter Erde zusammenbrechen. Wir leben auf Pump, ahnen es und verdrängen dieses Bewusstsein mit größtem Erfolg. Medien und Werbewirtschaft unterstützen uns beim Verdrängen mit wachsendem Erfolg.

Sie klingen wie lachhafte spirituelle Werte aus der Mottenkiste des New Age, jene Werte, die der Autor zuletzt propagiert: Dankbarkeit, Altruismus, Hingabe, ehrenamtliche Tätigkeit usw. Ja, sogar vor einem Tischgebet der Dankbarkeit schrecken er und seine Frau nicht zurück, ist es zu fassen? (nur ein Scherz) Aber seine Tipps für Kurzmeditationen kann jeder ohne Schwierigkeiten befolgen. Wer weiß, vielleicht hat der eine oder andere ja tatsächlich mal Zeit für Bewusstheit! Schließlich hat jeder nur dieses eine Leben, oder?

Mein Eindruck

Wie gesagt, schildert der Autor im ersten Teil jedes Kapitel das Problem, indem er die Summe seiner Beobachtungen, Erfahrungen und Überlegungen darlegt. Am faszinierendsten fand ich dabei alles, was über das hinausging, was man in den meisten guten Tageszeitungen lesen kann, weil es einfach zu speziell, individuell oder abgelegen ist.

Dazu gehören beispielsweise die Erkenntnisse über die Tätigkeit bestimmter Gehirnregionen im Falle bestimmter Verhaltensweisen oder Gefühlsreaktionen. Erstaunlich, was dabei zutage gefördert wurde. Diese Forschung steht noch ziemlich am Anfang, hat aber bereits die Disziplin der Neurowirtschaft hervorgebracht.

Immer wo der Autor bildlich wird, wirkt das Buch fast wie ein Roman über einen Planeten, die sich täglich ein Stück mehr dem Abgrund nähert. Immer wieder kommt es zu Wirtschaftskrisen nach Börsenkrächen: 1987, 2001 und letztes Jahr wieder – der Rhythmus wird kürzer. Doch nur wenige stürzen sich wie die Börsianer am Schwarzen Freitag 1929 aus dem Fenster. Der schwäbische Unternehmer Merkle warf sich immerhin vor den Zug, und in den USA haben mehrere Familienväter ihre gesamte Familie ausgelöscht.

Essays

Naish ist noch kein Opfer der Rezssion geworden – kein Wunder, er hat sein Buch ja schließlich schon 2007 geschrieben. Aber er hörte schon das Gras wachsen, beobachtete die Symptome bei seinen Mitmenschen, wunderte sich über die Berge von Ratgebern auf seinem Schreibtisch – und machte sich einfach einen Reim darauf. Da die Briten durch ihr Schulsystem schon seit dem 19. Jahrhundert Weltmeister im „Essay-Writing“ sind (ich habe diese Ausbildung im Aufsatzschreiben selbst genossen), vermag er es, seine Gedanken in feinen Sätzen zu formulieren.

Zum Glück schwelgt er nicht selbstverliebt im Aufsatz-Stil, sondern richtet sich direkt an den Leser, wie es einem Journalisten zukommt. Natürlich könnte er seitenweise Tabellen abdrucken, doch auch diesen Fehler begeht er nicht. So kann er die Aufmerksamkeit des Lesers halten. Wohltuend ist auch die Vielzahl von Zitaten, mit denen der Autor seine Argumente untermauert.

Ratgeber

Die letzten Seiten jedes Kapitels sind eine Art Ratgeber und warten meist (nicht immer) mit mehreren Tipps auf, die man konkret umsetzen kann. Diese Seiten, grau unterlegt und im Flattersatz gesetzt, sollte man sich herauskopieren (sorry, Mr. Copyright!) und auf den Nacht- oder Küchentisch legen: Bereit, gelesen zu werden – täglich!

Beide Kapitelteile, Problem und Ratgeber, sind natürlich nicht im „süffigen“ Unterhaltungsstil von Magazinen geschrieben, obwohl das bei einem „Times“-Redakteur naheliegt. Die Buchform erlaubt eine ernsthaftere und zugleich ausführlichere Darstellungsweise. Wer Unterhaltung sucht oder gar eine Satire, sollte einen Roman lesen, beispielsweise über das Leben von Adrian Mole.

Bilder gibt es auch keine, dafür aber jede Menge Zitatbelege. Hier finden sich für den aufmerksamen Leser noch weiterführende Erläuterungen.

Die Übersetzung

Ganz wichtig sind die Beiträge der Übersetzerin Barbara Först. Sie hat nämlich das Original nicht bloß übertragen, sondern auch für uns relevant gemacht. So finden sich in der Regel auch deutsche Zahlenangaben nach den britischen oder amerikanischen Statistiken. Diese deutschen Angaben sind im Text durchnummeriert und im Anhang als Beleg wiederzufinden.

Allerdings habe ich mich auf Seite 184 gefragt, was wohl unter „Seelengräbertum“ zu verstehen ist. Aus dem Kontext geht hervor, dass es wohl um Gurus und ihre lukrativen Lehren geht. Auf Seite 241 fehlt ein Wort. Das führt dazu, dass foglender Satz unverständlich ist: „Dies wird entweder geschehen, weil wir entsprechende […] getroffen haben, oder weil wir aufgrund der Erderwärmung und der Verknappung von Ressourcen dazu gezwungen sind.“ Was in der Lücke stehen sollte, kann sich jeder selbst überlegen: Vorkehrungen, Maßnahmen usw. Aber eine Lücke ist immer etwas peinlich, besonders auch für den Korrektor, der sie übersehen hat.

Unterm Strich

Der Journalist John Naish hat sehr viel Fakten, Beobachtungen und Theorien zusammengetragen, die den bedenklichen Zustand unserer westlichen Kultur beschreiben. Was mich immer am meisten unterhalten und interessiert hat, waren seine eigenen Erlebnisse aus erster Hand, insbesondere die Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen oder Phänomenen. Dann ist das Buch am anschaulichsten.

Aber bei solchen punktuellen, noch dazu subjektiven Belegen kann es ein Journalist belassen, will er nicht einseitig erscheinen. Deshalb entwickelt er in jedem Kapitel ein ganzes Bild, das mehrere Betrachtungswinkel aufweist, und erkundet es sozusagen. Manchmal kommt dabei ein Fazit heraus, das eine Lehre bereithält, manchmal aber auch nicht, so dass es bei Anregungen bleibt. Löblicherweise hebt er nie oberlehrerhaft den Zeigefinger und befiehlt: Das müssen Sie jetzt aber bleiben lassen!

Stattdessen bietet er im zweiten Teil jedes Kapitels Lösungen an, in Form von Tipps und Anregungen, ja sogar Checklisten, um dem Leser die Möglichkeit zu geben, selbst tätig zu werden. Es bleibt natürlich jedem selbst überlassen, die Ratschläge in die Tat umzusetzen. Werde ich das tun? Wenn ich die Gelegenheit dazu habe, ja. Und wenn ich nicht mehr zu bequem dazu bin, meine Bequemlichkeit aufzugeben.

Aber es gibt ja viele Gelegenheiten, „genug“ zu sagen: genug Arbeit für heute; mein Fernseher ist mir groß genug; ich habe genügend DVDs und CDs und Spiele und Pipapo. Das wird die Hersteller von unnötigen Dingen aber gar nicht freuen. Na, wenn schon, dann „vererbt“ man diese Dinge eben an die nächste Generation. Wenn die sie entweder noch haben will oder sie sich noch leisten kann. So ein benzinfressender Geländewagen kann nämlich ganz schön ins Geld gehen.

Hardcover: 299 Seiten
Originaltitel: Enough, 2008
Aus dem Englischen von Barbara Först
ISBN-13: 9783431037623

www.luebbe.de

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