Schulze, Ursula (Hrsg. / Übs.) – Nibelungenlied, Das. Nach der Handschrift C der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe

Als ich etwa zehn Jahre alt war, bekam ich eine Hörspielkassette mit der Sagengeschichte über Siegfried und Hagen geschenkt, und seither lässt mich die gewaltige Geschichte von den Nibelungen nicht mehr los. Ich habe das Nibelungenlied immer wieder in verschiedenen Ausgaben gelesen, auf Mittelhochdeutsch, in neuhochdeutschen Übertragungen und als Prosa-Nacherzählungen. Und so habe ich mich besonders gefreut, als die Neuübersetzung der Verlage |Patmos| und |Artemis & Winkler| hereinflatterte.

Zur Geschichte braucht man wohl nichts mehr zu sagen. Für die zwei oder drei Leser, die sie noch nicht kennen, ganz kurz der Inhalt: Der junge König Siegfried von Xanten erwirbt die Freundschaft König Gunthers von Burgund und hilft ihm mit einer List, Brünhild zur Frau zu gewinnen. Dafür darf er Gunthers schöne Schwester Kriemhild heiraten. Eifersüchteleien der Frauen und das Misstrauen von Gunthers Lehnsmann Hagen gegen den reichen und starken Siegfried lassen Gunther und seine Brüder Hagens Plan zustimmen, ihn zu töten und später seinen sagenhaften Goldhort der rachegierigen Witwe Kriemhild zu nehmen. Als Jahre später der mächtige Hunnenkönig Etzel um Kriemhilds Hand anhält, sieht sie ihre Chance zur Vergeltung gekommen. Als Etzels Frau lädt sie den burgundischen Hofstaat nach Etzelburg ein, wo sie gnadenlos Rache nimmt, bis sie zuletzt mit ihrem großen Widersacher Hagen stirbt.

Das um 1200 entstandene, deutsche Nibelungenlied beruht teilweise auf alten germanischen Sagenstoffen sowie Erzählungen aus der Völkerwanderungszeit, deren Motive auch auf Island in einigen eddischen Liedern und in Norwegen in der Thidrekssaga bearbeitet wurden. Hinzu kamen jüngere Motive in einem mittelalterlich-ritterlichen Gewand. Unter den zahlreichen Abschriften des Nibelungenlieds liegen drei mehr oder weniger vollständige vor, von denen die Handschrift C die älteste und umfangreichste ist. Sie ist auch als Hohenems-Laßbergische, als Donaueschinger oder nach ihren heutigen Aufbewahrungsort als Karlsruher Handschrift bekannt.

Die vorliegende Ausgabe enthält die Handschrift C, vermehrt um einige Strophen aus der Handschrift A, im mittelhochdeutschen Original und in der neuhochdeutschen Neuübertragung von Ursula Schulze. Im aufgeschlagenen Buch stehen sich dabei die mittelhochdeutsche Strophe links und die neuhochdeutsche Strophe rechts gegenüber. Frau Schulze hat das Epos strophenweise in Prosa übersetzt. Natürlich geht der Zauber dieses großen Epos etwas verloren, wenn es in Prosa wiedergegeben ist. Doch diese Art der Übertragung erhält ihre Berechtigung in der Zusammenschau mit dem mittelhochdeutschen Originaltext. Strophe für Strophe wird der Inhalt in einer inhaltlich genauen Übersetzung, aber mit heute leichter verständlichen Formulierungen wiedergegeben, wodurch die Lektüre des Originals erleichtert wird. Der Schwerpunkt liegt also auf der genauen Wiedergabe des Erzählten. Ich hatte das Nibelungenlied zwar schon mal auf Mittelhochdeutsch gelesen, aber mir sind durch Frau Schulzes Übersetzung einige mittelhochdeutsche Verbformen klarer geworden.

Ein Beispiel dafür, wie die Übertragung manchmal durch eine Entfernung vom direkten Wortlaut der Bedeutung des Textes näher kommt, soll anhand der Strophe 15 gezeigt werden. Wenn Frau Ute zu Kriemhild sagt: „soltu immer hercenliche // zer werlde werden vro“, so übersetzt Ursula Schulze „solltest du jemals im Leben von Herzen glücklich werden“. „zer werlde“ ist hier mit „im Leben“ anstatt mit dem wörtlichen „in der Welt“ viel treffender wiedergegeben. Teilweise ist die Annäherung an die heutige Sprache auch leicht übertrieben: Jemanden „heimsuchen“ ist heute sicher nicht mehr Alltagssprache, wird aber immer noch verstanden und wäre damit vielleicht die bessere Übertragung von „suochen“ gewesen als das etwas nüchterne „angreifen“ (4. Aventiure). Solche Kleinigkeiten mindern aber nicht den guten Gesamteindruck dieser Begleitübersetzung.

Lobenswert sind die auch Erläuterungen im Anhang zur Textedition des mittelhochdeutschen Originals und zu den Grundsätzen der Übertragung ins Neuhochdeutsche. Hier wird der interessierte Leser wirklich ernst genommen. Der Anhang enthält weiterhin Beiträge zur Entstehung und Rezeption des Nibelungenlieds, ein Sachwortregister und eine Inhaltsangabe, die sowohl Inhalt als auch Formulierung des Textes kommentiert. Dass häufiger auf das germanische und das mittelalterliche deutsche Recht verwiesen wird, beweist die Kenntnis der Herausgeberin, denn das Nibelungenlied ist nicht vollständig ohne einige grundlegende Rechtsbegriffe zu verstehen. Zu erwähnen ist auch die Landkarte des südlichen Deutschland (S. 844f), in welche die wichtigen Orte der Geschichte und insbesondere der Zug von Worms nach Etzelburg eingetragen sind.

Diese Ausgabe ist vor allem denjenigen zu empfehlen, die das Nibelungenlied einmal im Original lesen wollen, aber Verständnisprobleme befürchten. Diese Leser können sich nun an den mittelhochdeutschen Text heranwagen (Tipp: Laut lesen! Die deutsche Sprache hat sich mehr in der geschriebenen als in der gesprochenen Form geändert.), und bei Unklarheiten steht ihnen parallel die Übersetzung in heutigem Deutsch zur Verfügung. Das Buch ist weiterhin für den Schulunterricht geeignet, weil die Übertragung in ihrer einfachen Sprache auch für junge Leser verständlich sein dürfte. Ein Leistungskurs Deutsch könnte damit an eine ältere Sprachstufe des Deutschen herangeführt werden.

Und überhaupt, diese Geschichte mit ihrer großartigen Erzählung, ihrer ständigen Steigerung der Spannung, der genauen Zeichnung der Charaktere mit ihren Entwicklungen und der unterschwelligen Anwesenheit heidnisch-naturwüchsiger Züge, besonders bei Hagen und Brünhild, unter der christlich-mittelalterlichen Oberfläche sollte jeder mal gelesen haben.

Weiterführend:

[wikipedia]http://de.wikipedia.org/wiki/Nibelungenlied
[Nibelungen-Festspiele Worms 2005]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=50
[Nibelungen-Museum Worms]http://www.nibelungen-museum.de/
[Nibelungen-Edition 1: Siegfried 1160

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