Weißmann, Karlheinz – Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus

Vor 30 Jahren starb der bedeutende Anthropologe Arnold Gehlen, der zu Lebzeiten sehr bekannt war und heiß diskutiert wurde, mittlerweile aber fast vergessen scheint. Der Göttinger Historiker Karlheinz Weißmann, der auch an der anspruchsvollen Vierteljahresschrift „Sezession“ mitwirkt, will in seinem Buch „Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus“ diesen Kopf wieder in Erinnerung rufen und einer – durchaus kritischen – Diskussion zuführen. In Zeiten, die durch Terrorismus, große politische Verwirrung bis in die Regierungen und strukturelle Arbeitslosigkeit geprägt sind (einige Medien sprechen gerne vom „Ende der Spaßgesellschaft“), scheint auch die Nachfrage nach den völlig unromantischen und unpopulären Ideen Gehlens zum Menschen und seiner Gemeinschaftsordnung zu steigen. Weißmanns Buch ist der zweite Band aus der Reihe „Perspektiven“, die Denker vorstellt, die von der Mainstream-Debatte gerne übersehen werden. Es gliedert sich in einen biographischen Abriss, vier Kapitel zu zentralen Begriffen aus Gehlens Denken und einen Abschnitt über das Dilemma politischer Philosophen, Gedanken zu veröffentlichen, denen zu viel Öffentlichkeit schaden könnte.

Die biographischen Angaben beschränken sich überwiegend auf Gehlens akademisches Leben, seine Lehrstühle, seine Lehrer und Schüler. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Kapitels ist sein zwiespältiges Verhältnis zum Nationalsozialismus. Bei äußerer Anpassung behielt er in seiner Lehre eine Eigenständigkeit, die regimetreuen Kritikern oft ein Dorn im Auge war. Auch später in der BRD wurde er vom offiziellen akademischen Betrieb eher misstrauisch beäugt, während sich Wirtschaft und Verbände um seine Vorträge rissen. Der Mensch Gehlen bleibt in diesem Kapitel jedoch etwas blass.

Die thematischen Kapitel beruhen auf zentralen Begriffen und Hauptwerken Gehlens. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Darlegung seiner eigenen Hauptgedanken. Vorgänger und Anregungen werden unterschiedlich intensiv behandelt. In jedem Kapitel folgt darauf die Vorstellung der unterschiedlichen – zustimmenden wie ablehnenden – Reaktionen, die von verschiedenen Seiten vorgetragen wurde. Dass der Kritik so viel Platz eingeräumt wird, ist berechtigt, da Gehlen sich von sachlicher, konstruktiver Kritik durchaus beeindrucken ließ und daraufhin manchmal seine Schriften in jüngeren Auflagen umformulierte.

Ausgangspunkt in Gehlens Denken ist die rein analytische Betrachtung des Menschen in der Welt, wie er sie vor allem in seinem Hauptwerk „Der Mensch“ (zuerst 1940) formulierte. Er gilt als einer der Mitbegründer der modernen Anthropologie. Für ihn war der Mensch einerseits das gegenüber dem Tier instinktarme und schwache „Mängelwesen“ und andererseits der intelligente, d. h. der berechnende und sein eigenes Verhalten steuernde „Prometheus“. Es wird erläutert, wie seine Vorstellungen vom „Mängelwesen“ – vermutlich der bekannteste Begriff Gehlens – von antiken Philosophen und Herder angeregt war. Weißmann legt hier dar, wie Gehlen sich u. a. auf neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse stützte und dabei von der (schulmäßigen) Philosophie abwandte. Obwohl Professor für Philosophie, sah er seine Anthropologie schließlich ausdrücklich als Abkehr von der Philosophie, so wie sie die Naturwissenschaften bereits wenige Jahrhunderte zuvor vollzogen hatten.

Seine Institutionenlehre hat Gehlen vor allem in „Urmensch und Spätkultur“ ausgebreitet. Schon an diesem Buchtitel wird deutlich, dass Gehlen die Institutionen, angefangen bei Ehe, Familie und religiösen Riten, als Hervorbringungen des prähistorischen Menschen sieht, der noch sehr stark den Mächten der Natur ausgeliefert ist und mit den Institutionen eine Entlastung im Kampf ums Überleben aufbaut. Der späte Mensch in diesen Institutionen entfremdet sich der ursprünglichen Lage, verliert den Bezug zu ihnen und verkennt ihre Bedeutung. Wieder gelingt es Weißmann, Gehlens Ansätze von den Naturwissenschaften und der Psychologie und seine Abwendung von einer spekulativen Philosophie deutlich zu machen. Es wird dabei klar, dass man sich hier auf einer Stufe befindet, auf der nichts mehr endgültig bewiesen oder widerlegt, sondern allenfalls noch in schlüssigen Theorien formuliert werden kann. Nicht zuletzt deswegen ist dieses Kapitel sicher das stärkste des Buches, denn Weißmann schafft es sehr gut, Entwicklung, Aufbau und Systematik von Gehlens Vorstellungen zu vermitteln.

Im letzten thematischen Kapitel werden Gehlens Intellektuellenkritik sowie seine Begriffe „Kristallisation“ – für Gehlen die Versteinerung eines durch Technik und Wirtschaftstätigkeit geprägten Systems, die ein völlig neues Zeitalter einläutet – und „Moral und Hypermoral“ (so sein letztes Werk von 1969) vorgestellt. Erst durch die wieder klar verständliche Darlegung dieser Gedanken wird deutlich, warum das Ganze unter der Überschrift „Die Geschichte“ läuft. Durch eine kurze Erläuterung dieser Zuordnung zu Beginn wäre klarer geworden, dass Arnold Gehlen diese Gedanken in und für eine ganz bestimmte Epoche entwickelt hat. Wie der Verfasser ausführt, hat die ständige Auseinandersetzung des Gegenwartsdenkers Gehlens noch im Alter zu Änderungen in seinem Weltbild geführt.

Abschließend enthält das Buch eine Bibliographie einschließlich Sekundärliteratur und eine Zeittafel zu Gehlens Leben und Werk.

Weißmann wird seinem Anspruch, Gehlen als „Vordenker eines neuen Realismus“ vorzustellen, in zweierlei Hinsicht gerecht: Einmal zeigt er ihn als einen Gegner jeglicher Utopien und Idealismen, zum anderen als äußerst eigenständigen Kopf, der ungewöhnliche Gedanken entwickelt und sich quer zu irgendwelchen Denktraditionen stellt, wenn er sich damit auf der richtigen Spur zur Erfassung der Wirklichkeit glaubt.

Diese Schrift ersetzt mit ihren knapp 120 Seiten natürlich keine umfangreiche Monographie, ist aber als kurze und prägnante Einführung sehr zu empfehlen. Hier wird ein Denker, der nicht gerade zu den ständig zitierten Köpfen gehört, kompetent, verständlich und kritisch vorgestellt.