Whitfield, Kit – Wolfsspur

Die Bevölkerung unserer Erde besteht zu über neunzig Prozent aus Werwölfen, den so genannten Lykos. Die Nicht-Lykos, die „Nons“, werden abschätzig als Glatthäute bezeichnet und als Missgeburten angesehen. Sämtliche Nicht-Werwölfe müssen später bei der ASÜLA arbeiten, dem Amt zur ständigen Überwachung lykanthropischer Aktivitäten.

Zu dieser Behörde gehört auch Lola Galley, die als Anwältin und Fängerin bei ASÜLA tätig ist. Jetzt muss sie die Verteidigung eines gewissen Ellaway übernehmen, der es als Werwolf angeblich nicht mehr schaffte, bei Einbruch der Vollmondnacht einen geeigneten Schutzbunker aufzusuchen. Als Lyko überfiel er Lolas Partner Johnny Marco und biss ihm eine Hand ab. Doch der Fall erhält eine völlig neue tragische Dimension, als Johnny plötzlich erschossen wird – mit einer silbernen Kugel! Bricht hier der schon lange unterschwellig gärende Hass der Lykos gegen die Minderheit der Nons an die Oberfläche?

Kurz darauf wird bei einem Fängereinsatz, bei dem in Vollmondnächten streunende Werwölfe aufgriffen werden, auch Lolas neuer Partner, ein Praktikant, schwer verwundet. Der Täter Seligmann wird von Lola und einem weiteren Auszubildenden verhört. Wenig später wird auch dieser Azubi mit einer Silberkugel erschossen.

Lola Galley verstrickt sich nicht nur in den Machenschaften ihres eigenen Amtes, sondern muss auch die innere Kluft zwischen Nons und Lykos überwinden, um den Fall zu lösen. Dass sie sich in den Lyko Paul Kelsey, einen Sozialarbeiter, verliebt, scheint ihr zunächst dabei zu helfen. Doch dann gehört Paul plötzlich zu den Hauptverdächtigen und Lolas Welt bricht endgültig zusammen …

Eine höchst interessante alternative Realität hat Kit Whitfield hier in ihrem Debütroman entworfen, der am ehesten zur Social-Fantasy gerechnet werden muss. Die Handlung spielt in einer Großstadt in der Gegenwart, in welcher alles so ist, wie wir es kennen, nur mit dem Unterschied, dass die meisten Menschen Lykanthropen sind.

Einfühlsam versteht es Whitfield, die Kluft zwischen den Werwölfen und den „Nons“ herauszuarbeiten, und benutzt die Lykanthropie als gelungene Metapher auf unsere eigene Gesellschaft, nur dass bei Whitfield die „normalen“ Menschen die Minderheit bilden. Wurde der Werwolf bislang in der phantastischen Literatur meistens als Einzelgänger oder Verfluchter dargestellt, so dreht die Autorin dieses Mal den Spieß um und zeigt dem Leser eine Welt, in der es von Nachteil ist, ein gewöhnlicher Mensch zu sein. Wobei diese Normalität gänzlich im Auge des Betrachters liegt und in Whitfields Vision eben darin besteht, die Gabe der Metamorphose zu besitzen. Allerdings können die Werwölfe ihre Verwandlung nicht steuern, sondern sind gänzlich dem Mondzyklus ausgeliefert.

Gekonnt zeigt die Schriftstellerin auf, wie paradox eine Gesellschaft auf Andersartigkeit reagieren kann. Obwohl die „Nons“ verpönt und geächtet werden, sind sie ein wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Systems. Damit sich die Lykanthropen während der Vollmondnächte nicht gegenseitig zerfleischen oder Nons anfallen, müssen sie sich bei Vollmond in Schutzbunker flüchten, wo sie sich in Ruhe austoben können. Vereinzelte Streuner werden von Angehörigen der ASÜLA eingefangen. Gerade deshalb ist die Minderheit der Nicht-Werwölfe für eine Gesellschaft, die sich bei Vollmond fast komplett in eine Horde wilder Tiere verwandelt, von unermesslichem Wert. Hier zeigt die Schriftstellerin realitätsnah die Schizophrenie dieser Gesellschaft. Da die Mehrheit sich in Werwölfe verwandelt, wird abschätzig auf jene hinabgeschaut, die diese Fähigkeit nicht besitzen und somit unnormal sein müssen. Verhaltensweisen, die auch auf unsere Lebensgemeinschaft durchaus zutreffend sind und immer wieder beobachtet werden können.

Die Protagonistin des Romans, Lola Galley, ist eine solche „Non“ und bei der ASÜLA als Anwältin und Fängerin beschäftigt. Als Nicht-Werwölfin hat sie wie alle Nons keine leichte Kindheit gehabt, und auch in ihrem Berufsleben leidet sie unter ihrer Andersartigkeit. Whitfield hat es hervorragend verstanden, den zynisch-depressiven Charakter von Lola glaubhaft herauszuarbeiten. Lola berichtet ihre Erlebnisse aus der Ich-Perspektive, was die Suche nach dem Täter spannender gestaltet, da der Leser genauso im Dunkeln tappt wie die Protagonistin selbst, dafür wird er aber auch mit den düsteren und schwermütigen Gedanken Lolas hautnah konfrontiert. Das macht die Lektüre bisweilen ein wenig langatmig und trostlos, denn Optimismus gehört nicht zu den Eigenschaften von Whitfields Hauptfigur.

Wer aufgrund von Titel, Cover oder auch dem Klappentext einen reißenden Werwolf-Schocker im Stil von „Der Mr.-Hyde-Effekt“ oder „Underworld“ erwartet, wird sicherlich enttäuscht sein. Dieses Buch lotet das gesamte Spektrum der Möglichkeiten aus, die ein solches alternatives Szenario zu bieten hat, und vermeidet die simple Darstellung von Gewalt und Action. Der Roman ist stellenweise sehr beklemmend, wenn die Verhörmethoden der ASÜLA geschildert werden, die stellenweise starken Gestapo-Charakter aufweisen. Auch hier wird die Ohnmächtigkeit der Minderheit der Nons gegenüber der Mehrheit der Werwölfe deutlich. Die Angehörigen der ASÜLA nutzen die Verhöre oftmals, um Frust und Hilflosigkeit abzubauen. Der Leser wird direkt mit der dunklen Seite der menschlichen Seele konfrontiert, wenn sich selbst die Ich-Erzählerin Lola solcher Methoden bedient, auch wenn sie mit Gewissensbissen zu kämpfen hat.

Die Eingliederung in ein Genre war selten so schwer wie bei diesem Werk, und die oben erwähnte „Social-Fantasy“ wird diesem Buch nicht ganz gerecht. Es ist kein Horror-Roman, keine Kriminalgeschichte und auch keine „Fantasy“. Es steckt sowohl ein Liebesroman als auch eine gelungene Gesellschafsstudie in diesem Werk. Ein hochaktueller und sehr brisanter Roman, der mit Sicherheit nicht verfilmt werden wird.

Die Aufmachung ist dem Verlag hervorragend gelungen. Als Relief erhebt sich der Titel unter einem vollen, strahlenden Mond, über den sich die blutigen Kratzer eines wilden Prankenhiebs erstrecken. Hier wird dem Leser vielleicht eine gänzlich andere Story suggeriert, aber im Nachhinein ist das Motiv dennoch passend ausgewählt worden und funktioniert als Gleichnis zur angeschlagenen Seele einer Nicht-Werwölfin.

_Fazit:_ Ein faszinierender Erstling aus der Feder von Kit Whitfield. Die alternative Realität, in der die meisten Menschen in den Vollmondnächten zu Werwölfen mutieren, wird hier als gelungene Metapher auf die heutige Gesellschaft und ihre Reaktion auf Minderheiten angewendet. Wolfsspur ist kein Horror-Roman, sondern vereint vielmehr die Hauptgenres der Literatur zu einem düsteren, pessimistischen Werk voller Gefühl und Spannung. Dem innerlich zerrissenen Charakter der Protagonistin wird dabei viel Aufmerksamkeit geschenkt.

„Wolfsspur“ ist ein Buch für Freunde anspruchsvoller Fantasy- und Horrorliteratur; Fans von Kriminal- und Liebesgeschichten kommen ebenfalls auf ihre Kosten. Allerdings hat der Roman auch seine Längen, und der Zynismus und Pessimismus der Hauptfigur bleiben nicht ohne Wirkung auf den Leser.

http://www.heyne.de

_Florian Hilleberg_

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