Antonie Rietzschel – Dreamland Deutschland?

Dreamland Deutschland? Das erste Jahr nach der Flucht. Zwei Brüder aus Syrien erzählen

Deutschland zwischen „Wir schaffen das“ und „Wir sind das Volk“
Die Ankunft von mehr als einer Million Flüchtlingen hat Deutschland verändert – und Deutschland hat die Menschen, die hierhergekommen sind, verändert. Die syrischen Brüder Yousef und Mohanad leben seit Ende 2014 in Oelde. Sie sind aus Syrien vor Terror und Krieg geflohen, haben große Gefahren überwunden, um sich ein neues Leben aufzubauen. Dies ist ihre berührende Geschichte und zugleich das packende Porträt des Einwanderungslandes Deutschland im Jahr 2016 – zwischen Pegida und Willkommenskultur. (Verlagsinfo)

Inhalt und Eindrücke

Mehr als ein Jahr hat die Journalistin Antonie Rietzschel es sich zur Aufgabe gemacht, zwei junge Brüder aus Syrien zu begleiten. In Mailand lernt Rietzschel Mohanad und Yousef kennen, als diese versuchen, ihre Flucht nach Deutschland fortzusetzen. Dreamland Deutschland(?) – zum Titel des Buches geworden, sagt doch eine Menge über die Erwartungen und Träume der beiden jungen Männer aus, die vor Krieg und Terror in der eigenen Heimat Syrien zuvor geflohen waren.

Doch Rietzschel spart zunächst nicht ihre eigene Beschäftigung mit dem Flüchtlingsthema aus und zeichnet anhand von Meinungsverschiedenheiten innerhalb der eigenen Familie ein Bild, wie es die Stimmung in der Gesellschaft von eben diesem Dreamland Deutschland nicht besser wiederspiegeln könnte: eine große Welle der Hilfsbereitschaft versus Pegida-Aufmärsche und Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte. Das Thema polarisiert stark, kaum ein Büro, Freundeskreis oder öffentlicher Raum kommt in diesen Tagen ohne kontrovers geführte Diskussionen aus.

In sieben Kapiteln hat die Autorin nun exemplarisch die persönliche Geschichte der Brüder Mohanad und Yousef aufgeschrieben: angefangen in deren syrischer Heimat, in der Yousef seinen Militärdienst leistete, während Mohanad, der jüngere Bruder, ein Studium absolvierte und eigentlich ein ganz normales Studentenleben führte. Sie erzählt auch von der Familie, den Eltern und der jüngeren Schwester, die Beide so schrecklich vermissen. Von der Lage im Land, die sich immer mehr zuspitzte und schließlich nur noch ein Leben in Angst vor Verfolgung und Terror bedeutete. Wie so viele andere Menschen, die noch folgen werden, machen die Brüder sich – zunächst getrennt voneinander – auf den weiten und beschwerlichen Weg in ein sicheres Leben. Sie treffen sich in der Türkei und versuchen von dort aus die gefährliche Route nach Europa auf dem Seeweg fortzusetzen.

Die Schilderungen von Mohanad und Yousef, über Schleusern und Torturen, über Unsicherheit und Ängsten, nicht zuletzt vor der Polizei – die Geschichte könnte exemplarisch vermutlich für das Schicksal hunderttausender Menschen stehen und berührt nicht nur darum zutiefst. Mit großem Glück schaffen es die Beiden bis nach Italien. Doch der Weg ins erträumte Land ist immer noch weit und es scheint fast unerreichbar. Die Angst vor Entdeckung durch die Polizei ist ständiger Reisebegleiter, nicht zuletzt die Regeln der sogenannten Dublin-Verordnung machen besonders dem jüngeren Bruder Angst. Was, wenn am Ende nicht Deutschland sondern etwa Italien Asyl gewähren muss?
Schließlich erreichen sie allen Unsicherheiten zum Trotz und fast ohne einen Cent in der Tasche doch noch Deutschland. Nach kurzem Aufenthalt in einer der sogenannten Erstaufnahmeeinrichtungen und einer weiteren Sammelunterkunft werden sie der nordrheinwestfälischen Kleinstadt Oelde zugewiesen und beziehen zusammen mit wenigen anderen Geflüchteten Zimmer in einer örtlichen Flüchtlingsunterkunft.

Ein bisschen Alltag stellt sich ein, zwischen Kleiderkammer und Tafel erleben die Zwei die deutschen Bürger als hilfsbereit und freundlich. Die neue Heimat ist ein sehr überschaubarer Ort, in dem sie sich bald schon gut orientieren können. Endlich scheint es auch mit dem Lernen der Sprache voranzugehen, als sie einen Volkshochschulkurs Deutsch besuchen dürfen. Doch noch immer steht die Entscheidung zum Asylverfahren für die Brüder aus, schwebt die drohende Abschiebung nach Italien über ihnen wie ein Damoklesschwert. So verschieden Rietzschel die Brüder bisher charakterisiert hat, umso unterschiedlicher gehen Yousef und Mohanad auch mit der Situation um. Während Yousef sich in sein Schicksal fügt, droht Mohanad fast am Warten und Bangen zu verzweifeln.

Neue Medien wie Facebook, Youtube und Whatsapp machen zwar die Kommunikation mit der Familie in Syrien möglich, doch manche Nachrichten von dort machen die Sorgen der Brüder nur noch größer. Erfreulich hingegen die Unterstützung, die ihnen in allen Lebenslagen durch Freiwillige in Deutschland entgegengebracht wird. Sei es bei der Besorgung von Alltagsgegenständen, bei der Begleitung zu Behördengängen oder einfach nur für Ratschläge jeder Art. Denn das Leben in Deutschland mag zwar sicher sein – dennoch ist es ganz anders als Mohanad und Yousef es sich vorgestellt hatten und allemal anders als in der arabischen Heimat.

Nicht zuletzt durch die Hilfe inzwischen lieb gewonnener Menschen gelingt es schließlich, einen positiven Asylbescheid für beide Brüder zu erwirken. Ein wichtiger Meilenstein, der zumindest für Mohanad etwas Ruhe einkehren lässt. Der Auszug in eigene Wohnungen und die Suche nach Praktika/ Arbeitsstellen birgt dafür neue Herausforderungen für die Jungs, die inzwischen sogar anderen Geflüchteten selbst mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Zwischen den einzelnen Kapiteln liefert Rietzschel mit Einschüben zusätzlich immer wieder sachliche Informationen zu verschiedenen Themen, wie z.B. Ablauf des Asylverfahrens. Ein „Faktencheck Zuwanderung“ ergänzt am Ende des Buches mit vielseitigen Details.

Fazit:

Antonie Rietzschel ist es gelungen, eine besondere Geschichte aufzuschreiben, die stellvertretend für die Schicksale sehr vieler Menschen stehen könnte. Die Art, wie sie die Brüder Mohanad und Yousef zu Wort kommen lässt, stellt vieles mit dem Leser an: Stellenweise ist die Geschichte unglaublich traurig, manchmal zum Schmunzeln und gelegentlich war ich ziemlich gerührt. Auf alle Fälle aber, ist das Erzählte schnörkellos und authentisch und regt gerade deshalb zum Nachdenken an.

Trotz aller Debatten um kulturelle Unterschiede, Kriminalität der Flüchtlinge und Probleme der Kommunen, sollte schließlich ein entscheidender Punkt niemals vergessen werden: Immer sind es MENSCHEN, die zu uns kommen. Menschen nämlich, die genau wie jeder einzelne von uns ihre ganz persönliche Geschichte mitbringen, die nicht selten von Ängsten und Unsicherheiten geplagt werden und ihre eigenen Vorstellungen, Träume und Ziele haben.

Ich habe persönlich schon oft erlebt, wie Berührungsängste (auch bei mir übrigens) genau da abgebaut wurden, wo aus dem starren Begriff „Flüchtling“ ein personifiziertes Gesicht wurde. Die Lektüre der Geschichte der beiden Brüder, so wie Antonie Rietzschel sie mitten aus dem Leben aufgeschrieben hat, kann auch Ihr erster Schritt dahin sein. Lesen, verstehen, Anteil nehmen, darüber nachdenken und in der nächsten Diskussion vielleicht mit diesen Gedanken im Kopf alles ein wenig anders betrachten.
Die zusätzlichen Fakten zum Thema ergänzen das Buch außerdem sinnvoll.

Taschenbuch: 250 Seiten
ISBN-13: 978-3446448186

www.hanser-literaturverlage.de

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