Max Allan Collins – Chicago 1933

collins heller01 chicago 1933 cover kleinDas geschieht:

Anfang der 1930er Jahre hat die Großstadt Chicago einen weithin üblen Ruf. Die Behörden sind mindestens so kriminell wie das organisierte Verbrechen. Zwar sitzt Al Capone seit einiger Zeit hinter Gittern, doch er zieht von dort weiterhin an den Fäden. Sein Imperium verwaltet Frank Nitti, der dafür sorgt, dass der Dollar weiterhin rollt. Nun hat ausgerechnet Bürgermeister Anton Cermak, der korrupteste Beamte der Stadt, dem Verbrechen den Kampf angesagt, denn Chicago wird 1933 die Weltausstellung ausrichten. Den zahlreichen Besuchern aus aller Welt soll eine ‚saubere‘ Stadt präsentiert werden.

Cermak geht auf für ihn typische Weise vor: Er stellt einen Killertrupp aus ihm hörigen Polizisten zusammen und lässt sie die lästigen Gangster einfach umbringen. Zuerst erwischt es Nitti. Doch unter den Beamten, die ihm eine Falle stellen, ist der ahnungslose Nate Heller, ein Mann, der sich nicht kaufen ließ. Er soll als Sündenbock dienen, falls etwas schief geht – und genau das geschieht: Von drei Kugeln getroffen, überlebt Nitti das Attentat.

Der angewiderte Heller schmeißt seinen Job hin und eröffnet eine Privatdetektei. Cermak bedrängt ihn darüber zu schweigen, was er gesehen hat. Keinen Groll gegen Heller hegt Nitti, der den Kampf gegen den Bürgermeister aufnimmt. Dies kommt im Gefängnis Capone zu Ohren, der diesen Plan für Wahnsinn hält und um sein Reich bangt. Der listige Schurke heuert Heller an: Der Detektiv soll Cermak beschatten und vor dem Killer schützen, den Nitti auf ihn angesetzt hat. Doch der Bürgermeister reist nach Florida, um sich dort mit US-Präsident Roosevelt zu treffen. Die Stadt wimmelt vor Presseleuten und neugierigen Bürgern. In dieser Menge kann sich ein Attentäter gut verbergen, und so kommt es zur Katastrophe, die für Heller zum Auftakt eines ganz persönlichen, tragisch endenden Rachefeldzugs wird …

Die Vergangenheit wird lebendig

Der historische Kriminalroman (oder besser: Historienkrimi, da er die Vergangenheit in der Rückschau nur als Kulisse benutzt; im angelsächsischen Sprachraum gibt es den wunderbar treffenden Ausdruck „period piece“) erfreut sich im 21. Jahrhundert weiterhin großer Beliebtheit. Dieses Subgenre verdankt seine Beliebtheit zu einem nicht geringen Teil Max Allan Collins, der sich Mitte der 1970er Jahre daran machte, es auf ein Niveau zu heben, das weit über das Spiel mit der Geschichte hinausging. Collins‘ Figuren definieren sich nicht über drollige Hüte oder exzessives Zigarettenrauchen. Sie stehen mit beiden Beinen fest in ihrer Zeit, deren aus heutiger Sicht exotische Gegenwart sie als völlig normal empfinden.

Collins gelingt in „Chicago 1933“ das Kunststück, auch seinen Lesern genau diesen Eindruck zu vermitteln. Er hat sich intensiv in die Historie der Stadt eingearbeitet – in einem Nachwort zählt er nur einen Teil der Werke auf, die er zu diesem Zweck studierte – und kennt sich aus. Sein Wissen drängt er uns jedoch nie auf; er lässt es unaufdringlich einfließen und schafft dadurch die einmalige Atmosphäre, die diesen Roman zu einem Pageturner werden lässt. „Chicago 1933“ wirkt absolut authentisch, zumal der Verfasser sich einen Plot ausgedacht hat, der sich so nur in dieser Vergangenheit abgespielt haben könnte.

Der Aufwand hat sich gelohnt. Collins‘ Chicago der 1930er Jahre ist kein Abklatsch der alten „Untouchables“-Serie, in der ratternde Tommy-Guns, übertrieben elegant gekleidete Mobster und blutige Bandenkriegen die Szenen bestimmten. Das organisierte Verbrechen scheute zu allen Zeiten allzu großes Aufsehen. Die Kriminalität fand auf höheren Ebenen hinter den Kulissen statt. Einmalig ist Collins‘ Geschick in der Darstellung einer komplexen Schattenwelt, in der Polizei, Justiz und Verwaltung einer Millionenstadt ebenso kriminell sind wie die Gangster, die sie nur angeblich jagen, während sie tatsächlich Hand in Hand mit ihnen arbeiten. Scheinheiligkeit und erkauftes Schweigen bestimmen den Alltag in Chicago, der deshalb nicht weniger brutal ist als von der Presse dramatisiert.

Der Krimi als Chronik

Chicago ist eine Stadt der Widersprüche, die durch die Weltwirtschaftskrise noch betont werden. Riesige Slums entstehen, bevölkert von den Armen und Arbeitslosen, die den reichen Visionären an der Spitze der Gesellschaftspyramide geradezu verhasst sind, weil sie noch stärker als die Gangster das behauptete Bild einer modernen Metropole trüben. Man verdrängt sie, statt sich ihrer Probleme anzunehmen. Stattdessen lässt man in Chicago eine Weltausstellung stattfinden. Während die Kommune ihre Lehrer seit Monaten nur noch mit Wechseln ‚entlohnt‘, werden viele Dollarmillionen in die gigantische Kulisse einer Stadt der Zukunft gepumpt, die nach wenigen Monaten wieder abgerissen wird: Die Weltausstellung steht für Collins als Symbol für einen Ort und eine Epoche, in der die Welt aus den Fugen geraten ist.

Schon im ersten Teil der Nate-Heller-Serie fungiert der Detektiv nicht nur als Kriminalist, sondern auch als fiktiver Chronist, den der Verfasser an Brennpunkte der realen Geschichte schickt. Es hat nie einen Insider wie Heller gegeben, der ‚zufällig‘ stets dort auftauchte, wo der Krieg zwischen Anton Cermak und Frank Nitti in seine nächste Runde ging. Collins erfindet ihn, was sein Recht als Schriftsteller ist, so wie er auch das (zum Zeitpunkt der Niederschrift von „Chicago 1933“) nie wirklich geklärte Rätsel um Cermaks Tod ‚löst‘. Es spricht für ihn und sein Quellenstudium, dass seine Version überaus plausibel wirkt.

In diesem Hexenkessel wirkt ein Privatdetektiv – der klassische Schnüffler – sogar im Jahre 1933 reichlich anachronistisch. Nate Heller ist trotz seiner persönlichen Integrität kein Mann mit einer Mission. Er will als Ermittler arbeiten und damit sein Geld verdienen. Nur dem Willen des Verfassers verdankt er es, dass er dabei ständig auf dünnes Eis gerät. So steht denn Heller, der Detektiv, nie im Mittelpunkt des Geschehens, sondern Heller, der Spielball und Zeuge von Ereignissen, die er in der Regel nicht bestimmen kann.

Keine Figur, sondern ein Mensch

Wie beschreibt man einen integeren Mann, ohne ihn als langweiligen Gutmenschen dastehen zu lassen? Der Schurke wirkt in der Regel interessanter als der Held. In „Chicago 1933“ treten viele Schurken auf, und es sind einprägsame Gestalten. Dennoch kann sich Nate Heller als Hauptperson behaupten. Collins investiert viel Arbeit in seine Figur und kreiert in den ersten Kapiteln eine Heller-Biografie, die bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Wir erfahren, woher dieser Nate Heller stammt und wie er zu dem wurde, was er ist: ein Mann, der von unten kommt und nach oben will, ohne dabei kriminell zu werden.

Die Vorarbeit zahlt sich aus. Nate Heller ist keine Figur, sondern wird Mensch; ein Mensch, den wir sympathisch finden, obwohl oder weil er weder naiv noch ohne Fehler ist. Heller ist in Chicago aufgewachsen, einer Stadt, die ihm nie etwas geschenkt hat. Die allgegenwärtige Korruption ist für ihn eine traurige Selbstverständlichkeit. Er will nicht mit ihr leben, aber er kann es, ohne sich allzu sehr zu verbiegen. Das ist ein ständiger Tanz auf dem Drahtseil, bei dem er immer wieder ins Straucheln gerät, denn Heller verschlägt es wie gesagt stets dorthin, wo es gefährlich ist. Spätestens der Vorfall, den ihn zur Kündigung veranlasste, macht ihn zum „true detective“ des Originaltitels: zum Mann zwischen den Welten. Heller muss sich Cermak und seine Schergen vom Leib halten und pflegt Umgang mit Frank Nitti und Al Capone, ohne sich in deren Organisation einzureihen. Darüber hinaus ist sein bester Freund ausgerechnet Elliot Ness, jener „Unbestechliche“, der Capone aus dem Verkehr zog.

Seiltanz über dem Löwenkäfig

Heller muss diplomatisch sein, darf niemanden ernsthaft verärgern, sich aber gleichzeitig nicht vereinnahmen lassen. Gleichzeitig versucht er, sich auf dem Höhepunkt der schlimmsten Wirtschaftskrise aller Zeiten eine neue Existenz aufzubauen. Heller ist ein politisch gebildeter Mann, der genau erkennt, dass diese Krise primär die Unschuldigen und Hilflosen trifft, während jene, die sie verantwortet haben, unbeschadet daraus hervorgingen, weil ihnen das Gesetz, das sie eigentlich treffen müsste, praktisch gehört. Dieses Wissen verbittert Heller und gibt ihm die Kraft seinen eigenen Weg zu gehen.

Der Historienkrimi ist berühmt für sein „name-dropping“. Auch Nate Heller kreuzt den Weg vieler realer Personen der Zeitgeschichte. Collins integriert diese Begegnungen nahtlos in die Handlung. Wenn Heller Al Capone, Frank Nitti, Anton Cermak, Franklin D. Roosevelt, den Schauspieler George Raft, den Boxer Barney Ross, den Journalisten Walter Winchell, den Sportreporter (und späteren US-Präsidenten) Ronald Reagan und andere Prominente trifft, wirkt das nie forciert und wird nie übertrieben. Sie gliedern sich in das Gesamtensemble ein, das neben ihnen problemlos bestehen kann.

Wer sich sämtliche Pluspunkte noch einmal vor Augen führt, wird sofort verstehen, wieso die „Private Eyes Writers of America“ diesen Roman 1984 mit einem „Shamus Award“ auszeichneten. „Chicago 1933“ ist ein wunderbares Buch, und die Traurigkeit darüber, es ausgelesen zu haben, wird glücklicherweise durch die Vorfreude auf weitere fabelhafte Nate-Heller-Romane ersetzt.

Autor

Max Allan Collins wurde 1948 in Muscatine, US-Staat Iowa, geboren. Er entwickelte als Kind ein ausgeprägtes Interesse an Comics, entdeckte aber auch generell seine Liebe zur Populärkultur: zum Thriller, zur Musik, zum Fernsehen und zum Film. In den ersten beiden Jahren als Student arbeitete Collins als Reporter. Ab 1971 unterrichtete er Englisch an einem College. 1977 gab er dies auf und etablierte sich als freier Schriftsteller. Sechs Jahre zuvor hatte er seinen ersten Roman verkaufen können: „Bait Money“ (dt. „Köder für Nolan“) wurde zugleich das Debüt seines ersten Serienhelden Nolan, der als professioneller Dieb ständig mit der Polizei wie mit der Unterwelt in Konflikt gerät.

1975 schuf Collins seine bisher bekannteste und erfolgreichste Figur. Ursprünglich war der Privatdetektiv Nathan Heller als Held einer Comic-Serie geplant, die jedoch ihre Premiere nicht erlebte. Die aufwändigen Recherchen versetzten den Schriftsteller in die Lage, Heller 1983 mit „True Detective“ (dt. „Chicago 1933“) einen ebenso voluminösen wie eindrucksvollen ersten Auftritt zu verschaffen. Wie selten zuvor im Genre gelang Collins die Einbettung des klassischen Schnüfflers in das historische Umfeld der frühen 1930er Jahre.

Im Comic-Bereich feierte Collins erste Erfolge als Texter für den Klassiker „Dick Tracy“, der seit 1931 läuft. Collins führte die Serie an ihre Ursprünge zurück und zu neuem Ansehen. Er textete auch für „Batman“ und schuf mit dem Zeichner Terry Beatty die erfolgreiche Comic-Serie „Ms. Tree“ um eine weibliche Privatdetektivin.

1990 entdeckte Collins ein neues Betätigungsfeld: Als Dick-Tracy-Spezialist wurde er engagiert, das Buch zum Film von und mit Warren Beatty zu verfassen. Auch zwei Fortsetzungen flossen aus seiner Feder. Seitdem schreibt Collins immer wieder „tie-ins“ – u. a. für alle „CSI“-TV-Serien –, die durch ihre sorgfältige Machart und ihre Lesbarkeit auffallen.

Die Nathan Heller Serie:

(1983) True Detective (Chicago 1933 – Bastei-Lübbe-Verlag Nr. 13015)
(1984) True Crime (Gangsterbräute 1934 – Bastei-Lübbe-Verlag Nr. 13036)
(1986) The Million Dollar Wound (Gangsterkrieg 1942 – Bastei-Lübbe-Verlag Nr. 13104)
(1988) Neon Mirage (Las Vegas 1946 – Bastei-Lübbe-Verlag Nr. 13261)
(1991) Dying in the Post War World [Storys] (kein dt. Titel)
(1991) Stolen Away (Kidnapping – Bastei-Lübbe-Verlag Nr. 13460)
(1994) Carnal Hours (kein dt. Titel)
(1995) Blood and Thunder (Blut und Donner – DuMont Noir Nr. 17)
(1996) Damned in Paradise (kein dt. Titel)
(1998) Flying Blind: A Novel about Amelia Earhart (kein dt. Titel)
(1999) Majic Man (kein dt. Titel)
(2001) Angel in Black (kein dt. Titel)
(2001) Kisses of Death (kein dt. Titel)
(2002) Chicago Confidential (kein dt. Titel)
(2011) Bye-bye, Baby (kein dt. Titel)
(2011) Chicago Lightning: The Collected Nathan Heller Short Stories (kein dt. Titel)
(2012) Target Lancer (kein dt. Titel)
(2012) Triple Play. A Nathan Heller Casebook [Storys] (kein dt. Titel)
(2013) Ask Not (kein dt. Titel)

Taschenbuch: 361 Seiten
Originaltitel: True Detective (New York : St. Martin’s Press 1983)
Übersetzung: Jürgen Langowski
http://www.luebbe.de

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