Ed McBain – Dead Man’s Song

Ein Routine-Mordfall führt die Beamten des 87. Polizeireviers auf die Spur eines Verbrechens, das zwar tief in der Vergangenheit wurzelt, jedoch in der Gegenwart bis zur Auflösung für weitere Leichen sorgt … – Der 50. Band der legendären Serie um besagtes Polizeirevier zelebriert nicht das Jubiläum, sondern bietet, was die Leser kennen und schätzen: einen solide geplotteten, spannend entwickelten, schnellen Kriminalroman der klassischen Schule.

Das geschieht:

Andrew Hale war alt, krank, allein und hauste ärmlich, weshalb er gute Gründe gehabt hätte, seinen Lebensfaden zu kappen bzw. sich mit dem Gürtel seines Bademantels zu erhängen; so fand ihn jedenfalls Tochter Cynthia, die nach ihm sehen wollte.

Der Fall scheint klar, die Polizei vom zuständigen 87. Revier der Großstadt Isola ist eher routinemäßig vor Ort. Den erfahrenen Beamten Steve Carella und Meyer Meyer kommen allerdings Zweifel, als sie die Leiche untersuchen: Hale kann nicht in seinem Bett gestorben sein. Die Tochter wird verhört und gibt zu, den Vater bereits tot gefunden, aus der Schlinge genommen und ins Bett geschleppt zu haben. Auf diese Weise wollte sie in den Genuss einer väterlichen Lebensversicherung kommen, die bei Selbstmord nicht ausgezahlt würde.

Auch das ist nicht die Wahrheit. Eine Untersuchung der Leiche ergibt, dass Hale mit einer hohen Dosis des Beruhigungsmittels Rohypnol betäubt wurde, bevor man ihn aufgehängt hat. Hier leugnet Cynthia sowohl Schuld als auch Wissen; das Gegenteil kann ihr nicht nachgewiesen werden.

Hartnäckig aber erfolglos werden die Ermittlungen vorangetrieben. Endlich scheint sich ein Durchbruch abzuzeichnen: Danny Gimp, ein Informant, will Carella für 5000 Dollar darüber aufklären, wieso Andrew Hale gestorben ist sowie was der Mörder in seiner Wohnung gesucht und gefunden hat. Bevor Gimp reden und sich die stolze Summe verdienen kann, bringt man ihn spektakulär zum Schweigen,

Unterdessen untersucht im 88. Revier Oliver „Fat Ollie“ Weeks den Mord an Althea Cleary, die auf brutale Weise erstochen wurde. Es dauert einige Zeit, bis Weeks, der zwar ein Widerling aber keineswegs unfähig ist, eine Verbindung zu den Morden an Hale und Gimp erkennt. Weeks tauscht sich mit Carella und Meyer aus. Gemeinsam enthüllen die Ermittler die bizarre Vorgeschichte eines Verbrechens, das vor mehr als 70 Jahren begann, lange verborgen blieb und nun ebenso abrupt wie mörderisch auflebt …

Das Leben auf alltäglich niederträchtigem Niveau

Zwar gibt es durchaus Krimi-Serien, die sogar mehr als 50 Bände zählen und trotzdem von nur einem Autor verfasst wurden – oder eher fabriziert, denn eine lange Laufzeit mit hoher Episodenzahl geht in der Regel auf Kosten des Niveaus. Hinzu kommt das Problem, dass der feste Leserstamm Änderungen des grundsätzlichen Konzepts gar nicht und sachte Modernisierungen nur in engen Grenzen gestattet: Jeder Krimi einer Serie soll einerseits Neues bieten und andererseits für das Bewährte sorgen.

Es ist also ein schlüpfriges Seil, auf dem Serien-Autoren balancieren, und deshalb außergewöhnlich, dass jemand wie Ed McBain sich nicht nur oben hielt, sondern dabei außerdem Kunststücke vorführte, mit denen er sein Publikum ein halbes Jahrhundert kopfstark an sich fesseln konnte.

McBain war ein meisterlicher Erzähler, dem immer etwas einfiel. Als Routinier, der sämtliche Facetten der Unterhaltungsindustrie kannte, wusste er sofort, wie er das Jubiläum begehen wollte und sollte: Er schrieb einfach einen weiteren Roman, der gleichzeitig der 50. Band ‚seiner‘ Serie wurde. Also gibt es keine Reminiszenzen an die Vergangenheit eines Mikrokosmos‘, der in mehreren Jahrzehnten kontinuierlich wuchs ist und deshalb eine beachtliche Eigen-Chronik aufwies. Die hätte McBain mehr oder weniger elegant in eine Rahmenhandlung zwingen können. Hat er aber nicht und gut daran getan.

Gier, Liebe & Hass

„Dead Man’s Song“ präsentiert einmal mehr den eigentlich deprimierenden Blick dorthin, wo die Seelenschatten besonders dunkel sind. Nach McBains Ansicht war dafür keineswegs der Einsatz ebenso irrer wie genialer Serien- und Massenmörder erforderlich, die ihre Opfer möglichst grässlich zu Tode foltern. Stattdessen stützte sich der Autor auf den Alltag, der bekanntlich der Vorhof zur Hölle sein kann. Er besetzte seine Geschichte mit besonders perfiden Zeitgenossen – den Angehörigen der Familie, die als potenzieller Brutkessel mit hohem Explosionsfaktor gilt.

Niemand ist sich näher, und niemand kann seinem Gegenüber deshalb so wehtun wie ein Familienmitglied. Liebe und Hass werden oft über Jahre oder gar Generationen aufgestaut, um sich irgendwann zu entladen. Dies kann spektakulär geschehen und belebt dann die Medien. Schwieriger wird es, wenn die Entfremdung schleichend und unauffällig abläuft wie im Fall der Familie Hale. Freilich ermitteln in diesem Fall die Beamten Carella und Meyer, die nicht ausgebrannt und zynisch aber erfahren und misstrauisch sind. Auf die Ablehnung der trauernden Tochter reagieren sie deshalb höflich, ohne in ihren Nachforschungen nachzulassen.

Viele Sackgassen später rentiert sich die oft frustrierende Hartnäckigkeit. Als früher Meister des „police procedurel“ hat McBain den wenig glanzvollen Alltag jenseits aufregender Verfolgungsjagden und medienbeachteter Festnahmen nie ignoriert, sondern ihn zum integralen Bestandteil seiner Geschichten gemacht. Weil er es verstand, auch das Selbstverständliche in packende Worte zu fassen, kommt in diesen Passagen keinerlei Langeweile auf. Stattdessen beginnt sich eine Spur herauszukristallisieren, der die Beamten dann langsam aber mit zunehmender Sicherheit folgen.

Wenn sie meinen, schon alles zu kennen …

Mögen sich die Ermittlungen methodisch auch gleichen, sorgt McBain im Finale seiner Krimis stets für eine Überraschung. Hier ist die Familientragödie nur die Spitze eines Eisbergs, der tief in die Vergangenheit reicht. Parallel dazu nimmt McBain seine Leser mit in die trüben Gewässer der modernen ‚Kunst‘. Man muss diesen Begriff hier einfach in Anführungsstriche setzen, weil (nicht nur) der Verfasser eher eine Unterhaltungsindustrie am Werk sieht, die nach dem Prinzip „Wo gehobelt wird, fallen Späne“ agiert. Diebstahl ist in diesem Umfeld nur dann ein Verbrechen, wenn man dabei erwischt wird: McBain, der als Autor auch für Film und Fernsehen arbeitete, wusste sicherlich, worüber er schrieb.

Wie üblich lässt McBain die Handlung auf mehreren Ebenen und zunächst parallel laufen. Verbindungen werden erst nach und nach deutlich. Der Autor sorgt dafür, dass selbst diejenigen Leser, die genau damit rechnen, aufgrund eigentlich widersprechender Szenarien wieder zu zweifeln beginnen. Wie könnte der grelle Mordfall Althea Cleary mit dem stillen Ende von Andrew Hale zusammenhängen? Dahinter steckt eine Geschichte, die so schräg ist wie das Leben, dem bekanntlich die Fiktion manchmal nur vorsichtig folgt, weil die Realität sie allzu unglaubwürdig abhängt.

Dazu passt eine Figur wie „Fat Ollie“ Weeks. McBain hat ihn erst spät dem bekannten Ensemble zugesellt. Weeks gehört zudem nicht dem 87. Revier an. Er geht dorthin, wo Carella & Co. nicht gehen können, weil ihre Charaktere weitgehend fixiert sind. Als McBain seine Serie startete, war es nicht möglich, einen so offensichtlich bzw. offen rassistischen, chauvinistischen, reaktionären Cop zu schildern. Gleichzeitig ist Weeks keineswegs dumm oder unfähig, was es noch schwieriger macht ihn zu hassen. Stattdessen grinst man unwillkürlich, wenn „Fat Ollie“ wieder eine seiner unglaublichen ‚Weisheiten‘ von sich gibt – ein Grinsen, das einem nicht selten im Gesicht gefriert, wenn McBain den dahintersteckenden Ernst offenbart.

So ist es kein Wunder, dass die Serie um das 87. Polizeirevier ihr Jubiläum nicht nur feierte, sondern hinter sich ließ. Dass nur noch vier Bände folgten, lag keineswegs an plötzlicher Erfolglosigkeit, sondern am Tod des Verfassers, der ansonsten sein Garn weitergesponnen hätte. Hierzulande werden wir den Schlussakkord wohl nicht mehr hören. „Dead Man’s Song“ war der letzte deutsch übersetzte und veröffentlichte Roman um das 87. Revier, während andere Serien, die trotz (oder wegen) Bockmist-Niveaus höhere Verkaufszahlen generieren, in die Kettenbuchläden gepumpt werden.

Autor

Ed McBain wurde als Salvatore Albert Lombino am 15. Oktober 1926 geboren. Dies war in den USA in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kein Name, der einem ehrgeizigen Nachwuchsschriftsteller hilfreich gewesen wäre. Also ‚amerikanisierte‘ sich Lombino 1952 zu Evan Hunter und schrieb Literatur mit Botschaft und Anspruch, darüber hinaus Kinderbücher und Drehbücher.

Da sich der Erfolg in Grenzen hielt, wählte Vollprofi Hunter ein neues Pseudonym und verfasste als „Ed McBain“ den ersten der von Anfang an als Serie konzipierten Kriminalromane um das 87. Polizeirevier. Schnelles Geld sollten sie bringen und ohne großen Aufwand zu recherchieren sein. Deshalb ist Isola mehr oder weniger das Spiegelbild von New York, wo Lombino im italienischen Ghetto East Harlems groß wurde. Aber Hunter bzw. McBain kochte nicht alte Erfolgsrezepte auf Er schuf ein neues Konzept, ließ realistisch gezeichnete Polizisten im Team auf ‚echten‘ Straßen ihren Job erledigen. Das „police procedural“ hat er nicht erfunden aber entscheidend geprägt.

1956 erschien „Cop Hater“ (dt. „Polizisten leben gefährlich“). Schnell kam der Erfolg, es folgten bis 2005 54 weitere Folgen dieser Serie, der McBain niemals überdrüssig wurde, obwohl er weiter als Evan Hunter publizierte und als McBain die 13-teilige Serie um den Anwalt Matthew Hope verfasste. Mehr als 100 Romane umfasste das Gesamtwerk schließlich – solides Handwerk, oft genug Überdurchschnittliches, geradlinig und gern fast dokumentarisch in Szene gesetzt, immer lesenswert -, als der Verfasser am 6. Juli 2005 einem Krebsleiden erlag.

Gebunden: 320 Seiten
Originaltitel: The Last Dance (New York : Simon & Schuster 2000)
Übersetzer: Uwe Anton
www.edmcbain.com

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