Guy Cullingford – Der Zauberer von Soho

cullingford-zauberer-coverDie Empfangsdame eines maroden Hotels in London verdächtigt einen Gast des Frauenmordes. Damit steht sie allein, zumal der mutmaßliche Mörder ein fähiger Bühnenmagier ist, der sich mit diversen Tricks aus der Affäre zu ziehen versucht … – Ein Krimi aus der „guten, alten Zeit“, betulich geschrieben und fast zu komplex geplottet, aber unwiderstehlich nostalgisch mit trockenem Witz und exzentrischen Figuren: ein Klassiker eben, der mühelos die Zeitläufe übersteht.

Das geschieht:

Das Hotel „Bellevue“ im Londoner Stadtteil Soho hat im Krönungsjahr der jungen Königin Elizabeth II. 1953 seine guten Tage lange hinter sich. Nur dank der Starrsinnigkeit der Eigentümerin, der verschrobenen Madame Lefevre, und seiner niedrigen Preise hält es mühsam seine Pforten geöffnet. Frequentiert wird es vor allem von chronisch erfolglosen Varietékünstlern auf der Durchreise, denen Madame Sondertarife einräumt.

Gut in den Mikrokosmos schrulligen Hotelpersonals und exzentrischer Gäste fügt sich Miss Jessie Milk ein, die seit kurzem an der Empfangstheke des „Bellevue“ sitzt. Sie ist nicht mehr jung und dennoch naiv; ein spätes Mädchen vom Land, das nur diesen Job finden konnte und heillos überfordert ist.

Zu den Dauergästen des Hauses gehören der grämliche Bühnenzauberer Gene Gorman, seine biedere Gattin Stella und die hübsche, aber recht unkultivierte Assistentin Gay Shelley. Die beiden Frauen bekriegen einander heftig, wobei Gay schön und Stella vermögend ist. Gern würde die Gattin die Nebenbuhlerin verdrängen, doch Gay hat deutlich gemacht, dass sie sich dies nie gefallen lassen würde.

Dann ist Stella eines Tages plötzlich verschwunden. Offenbar ist sie spurlos aus ihrem von innen verschlossenen Zimmer verschwunden. Miss Milk verdächtigt den Zauberer. Nachdrücklich aus ihrem Alltagstrott gerissen, beobachtet sie Gorman nunmehr genau. Der schlaue Magier ist ihr indes über, und kurz darauf verschwindet auch Gay. Als wenig später Stellas Leiche gefunden wird, ist Jessie Milk von Gormans Schuld überzeugt. Leider hat der sich ein perfektes Alibi verschafft, und die Polizei tappt im Dunkeln. Erst der Zufall bzw. die unwiderstehliche Anziehungskraft, die Königin Elizabeth auf ihre Untertanen ausübt, hilft Miss Milk, einen beinahe perfekten Mörder in die Enge zu treiben …

Perfekter Mord im schäbigen aber verschlossenen Raum

Was lässt den einen Kriminalroman zum Klassiker reifen, während der andere in Vergessenheit gerät? Wieso kennt jede/r Leser/in Agatha Christie, doch kaum jemand Guy Cullingford? Die Qualität gibt keineswegs den Ausschlag, wie die Lektüre des hier vorgestellten Werks eindeutig belegt. „Der Zauberer von Soho“ ist englische Krimikunst vom Feinsten. Plot, Kulisse und Figurenzeichnung gehen dank der schriftstellerischen Fähigkeiten der Autorin jene bemerkenswerte Einheit ein, die den angelsächsischen „Whodunit“ der Spitzenklasse kennzeichnet. Nie wurde schnöder Mord so elegant, ernsthaft und dennoch heiter in Szene gesetzt wie von den Meistern – und erstaunlich vielen Meisterinnen – dieses Genres.

„Der Zauberer von Soho“ kann da – zumindest in der ungekürzten, neu übersetzten Ausgabe des Diogenes-Verlags – wie schon gesagt locker mithalten, obwohl der Purist sich wahrscheinlich über das Mäandrieren der Story um einen Plot mokiert, der mehr Leitstern als fixes Ziel ist. Cullingford hält sich nicht mit einer Einführung des Handlungsortes auf, sondern führt direkt ins Geschehen. Die Schilderung des bizarren Alltags im heruntergekommenen „Bellevue“ macht uns Leser mit den Hauptfiguren und ihren exotischen Manieren und Manierismen bekannt. Erst im zweiten Kapitel liefert uns Cullingford Hintergrundinformationen. Da hat sie uns längst am Haken und dirigiert uns nach Belieben dorthin, wo sie uns sehen möchte, während sie mit trockenem Humor ihr aberwitziges Garn spinnt.

„Rote Heringe“ werden ausgelegt

Dem gelegentlichen Krimileser mag es viel zu lange dauern, bis endlich ein Verbrechen geschieht. Deshalb abzuspringen wäre schade, denn Cullingford verbirgt in ihren zahlreichen Abschweifungen diverse Hinweise – „red herrings“ – auf das, was kommen wird. Die Mordtat steht hier nicht am Beginn der Geschichte, sondern fließt quasi ein. Bis es soweit ist, gießt die Verfasserin mit den lang und breit geschilderten ersten Arbeitswochen der Jessie Milk das Fundament für ein Geschehen, das nachträglich durchaus konsequent erscheint.

Wer da im „Bellevue“ mordet, ist im Grunde kein Rätsel. „Der Zauberer von Soho“ ist in diesem Punkt kein klassischer Rätsel-Krimi. Die Geschichte mündet im Duell zwischen dem Täter und Miss Milk, einer scheinbar für diese Rolle denkbar ungeeigneten Person, die allerdings alle Beteiligten sowie die Leser überrascht.

Schattenseiten der Unterhaltung

Künstler sind gelitten, wenn sie auf der Bühne ihr Programm abspulen und anschließend spurlos verschwinden, denn sobald die Scheinwerfer erlöschen, gelten sie dem Durchschnittsbürger als fahrendes = in finanziellen Dingen und moralisch lockeres Volk, dem keinesfalls zu trauen ist. Dieses unschöne Vorurteil greift Cullingford auf, macht es sich aber nicht zu Eigen, sondern spielt geschickt mit ihm.

Die Realität sieht ohnehin anders aus, das Künstlerleben ist zumindest für die Gäste, die im „Bellevue“ absteigen, ganz und gar kein Zuckerschlecken. Für wenig Geld ziehen sie unstet durch das Land. Haben sie Glück, kommen sie so gerade über die Runden, aber in der Regel gibt es immer wieder finanzielle Durststrecken, sind Erfolglosigkeit und Pleite sind stets präsente Wegbegleiter. Etwaige Träume von Ruhm & Reichtum hegen diese Fließbandarbeiter der Unterhaltung längst nicht mehr. Der magenbittere Magier Gorman zieht seine eigenen Konsequenzen und handelt entsprechend.

Ein Leben wie dieses prägt. Cullingford führt ihre Figuren nicht als grelle Aliens vor, sondern schildert sie ebenso witzig wie einfühlsam als Menschen mit einer unkonventionellen Berufung und einem ungewöhnlichen Beruf. ‚Anders‘ zu sein ist hier keine Schwäche.

Ein Reservat für Außenseiter

Künstler bleiben notgedrungen unter sich – die Arbeitszeiten bringen es mit sich – und kultivieren auf diese Weise ihre Eigenheiten. Allerdings trifft dasselbe auf das Personal des „Bellevue“ zu. Das alte Hotel dient auch hinter den Kulissen als Auffangbecken für diverse Randexistenzen. Die Eigentümerin weigert sich, die triste Gegenwart zu sehen, sondern gaukelt sich vor ihrem geistigen Auge das „Bellevue“ der Vergangenheit vor, die eigentlich schon mit dem I. Weltkrieg ihr Ende fand. Ihre ältere Tochter wirkt leicht irrsinnig, der ‚Praktikant‘ ist schon seit sechs Jahren im Dienst. Zum Personal gehören außerdem ein Koch, der seinen Job am liebsten von denen erledigen lässt, die sich von ihm einschüchtern lassen, und eine eisenharte Putzfrau ohne Furcht aber mit viel Tadel. Diese Menschen komplettieren die ‚Familie‘, die im Kampf gegen die Außenwelt im „Bellevue“ zusammenfindet.

Jessie Milk passt besser hierher als sie sich selbst eingestehen würde, wäre sie dazu in der Lage, ist sie geistig doch sehr schlicht gestrickt. Mit großen Augen und in Vertretung der Leser betritt sie diese in Seltsamkeit erstarrte kleine Welt. Verzweifelt versucht sie deren Regeln zu begreifen. Das gelingt ihr schneller als erwartet: „Der Zauberer von Soho“ erzählt auch von der Emanzipation der Jessie Milk, die sich im „Bellevue“ nicht nur behauptet, sondern auch auf Mörderjagd geht und sogar eine späte Liebe erfährt. Cullingford versteht es, die graue Maus zur sympathischen Figur aufzuwerten.

Die Maus, die brüllte

Gleichzeitig wird sie zur unerwarteten Gegnerin für einen Mörder, der sich für ein wenig zu schlau gehalten hat. Hinter der Naivität der Jessie Milk steckt auch ein nüchterner Intellekt, der sich nicht beirren, sondern höchstens manipulieren lässt. Freilich beschwört genau das neue Gefahr herauf, die im Duell der Empfangsdame mit dem „Zauberer von Soho“ gipfelt inmitten des Trubels der Krönungsfeierlichkeiten, was die Verfasserin so spannend zu gestalten weiß, dass uns das harsche Urteil angelsächsischer Kritiker über Cullingford als Krimi-Autorin überrascht: „Can write, can‘t plot“ wird der weiter oben erwähnte Purist womöglich unterschreiben. Lässt man sich als Leser/in indes nicht von Genregrenzen einengen, kann „Der Zauberer von Soho“ seinen nostalgisch charmanten Unterhaltungswert voll ausspielen.

Autorin

Kriminalschriftsteller weiblichen Geschlechts sahen sich in der „guten, alten Zeit“ recht häufig vor das Problem gestellt, von ihrem chauvinistischen Publikum nicht ernst genommen zu werden. So argumentierte jedenfalls mancher Verleger, der deshalb seinen Krimi-Ladies – offensichtlich feminine Bestsellerautoren wie Agatha Christie, Dorothy Sayers oder Patricia Wentworth geflissentlich ignorierend – nahe legte, sich ein maskulin klingendes Pseudonym zuzulegen. Auf diese Weise wurde aus Constance Lindsay Taylor (1907-2000) „Guy Cullingford“.

Geboren in Dovercourt/Essex, begann sie ihre schriftstellerische Karriere bereits 1928. Zunächst schrieb sie Gedichte, Kurzgeschichten und Zeitschriftenartikel. Nachdem sie 1930 geheiratet hatte, zog sie sich für viele Jahre ins Privatleben zurück. Erst 1948 kehrte Taylor zurück. Nunmehr schrieb sie Kriminalromane, deren erster 1948 erschien („Murder with Relish“). Nachdem die Kinder allmählich erwachsen wurden, widmete sie sich in den 1950er Jahren erneut verstärkt der Schriftstellerei. Ab 1952 erschienen Taylors Werke unter Pseudonym. Gelüftet wurde das Geheimnis, als „Guy Cullingford“ dem „Detection Club“, der „Crime Writers Association“ sowie der „Writers Guild of Great Britain“ beitrat.

Nach 1960 vergrößerten sich die Abstände zwischen neuen Cullingford-Thrillern kontinuierlich. Mit dem nach zwölfjähriger Pause erschienenen „Bother at the Barbican“ verabschiedete sich Taylor 1991 von ihren Lesern. 93-jährig ist sie 2000 verstorben.

Taschenbuch: 333 Seiten
Originaltitel: Conjurer’s Coffin (London : Hammond 1954/New York : J. B. Lippincott Company 1954)
Übersetzung: Irene Holicki
http://www.diogenes.de

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