Doyle, Arthur Conan / Gruppe, Marc – Sherlock Holmes – Das Zeichen der Vier (Krimi-Klassiker 2)

London 1888: In Mary Morstans Leben ereignet sich Merkwürdiges. Alljährlich erhält sie anonym ein wertvolle Perle zugesandt. Nun hat ein Unbekannter sie auch noch zu einem Treffpunkt bestellt. Besteht ein Zusammenhang mit ihrem vor zehn Jahren spurlos verschwundenen Vater?

Sherlock Holmes und Dr. Watson tun ihr Bestes, den mysteriösen Fall ihrer jungen Klientin aufzuklären. Dabei geraten sie in ein gefährliches Abenteuer um einen märchenhaften Schatz. Schon bald gibt es den ersten Toten. Die Tatwaffe: ein vergifteter Dorn. Wer benutzt denn sowas?!

_Der Autor_

Sir Arthur Conan Doyle lebte von 1859 bis 1930 und gelangte mit seinen Erzählungen um den Meisterdetektiv Sherlock Holmes zu Weltruhm. Dabei begann der Mediziner, der eine eigene Praxis hatte, erst 1882 mit dem Schreiben, um seinen Einkommen aufzubessern. Neben mystischen und parapsychologischen Themen griff er 1912 auch die Idee einer verschollenen Region (mit Dinosauriern und Urzeitmenschen) auf, die von der modernen Welt abgeschnitten ist: „The Lost World“ erwies sich als enorm einflussreich und wurde schon 13 Jahre später von einem Trickspezialisten verfilmt. Bereits 1913 ließ Doyle eine Fortsetzung unter dem Titel „The Poison Belt“ (dt. als „Im Giftstrom“, 1924) folgen.

_Die Sprecher_

Sherlock Holmes, Privatdetektiv: Joachim Tennstedt (dt. Stimme von John Malkovich)
Dr. John H. Watson, Militärarzt: Detlef Bierstedt (dt. Stimme von George Clooney u.a.)
Mrs. Smith, Bootsvermietersgattin: Arianne Borbach (dt. Stimme von Uma Thurman)
Thaddeus Sholto, Privatier: Peer Augustinski (dt. Stimme von Robin Williams)
Mrs. Hudson, Holmes‘ Haushälterin: Regina Lemnitz (dt. Stimme von Kathy Bates)
Inspektor Jones: Christian Rode (dt. Stimme von Christopher Lee)
u. v. a.

Die orchestrale Musik stammt von Manuel Rösler, Ko-Produktion, Buch & Regie steuerte Marc Gruppe bei, Aufnahme und Abmischung erfolgten durch Bionic Beats.

_Handlung_

Die Chronologie der Ereignisse wird in der berühmten Erzählung bzw. im Hörspiel ziemlich verschachtelt und häppchenweise vorgelegt. Daher versuche ich, ein wenig Licht in diesen Dschungel zu bringen, ohne das Meiste zu verraten.

Es waren einmal zwei dicke Freunde, die als Gefängnisaufseher auf den anglo-indischen Andamanen-Inseln arbeiteten: Sholto und Morstan. Durch glückliche Umstände gelangten sie in den Besitz eines großen Schatzes, den sie sich brüderlich teilen wollten. Doch es kam alles ganz anders …

Am 18. April 1882 kehrt Bartholomew Sholto vom Studium in sein Elternhaus Pondycherry Lodge in der Nähe von London zurück. Sein Zwillingsbruder Thaddeus ist froh, ihn wiederzusehen, denn in letzter Zeit leidet ihr Vater an einem beunruhigenden Verfolgungswahn. Er hat zwei Preisboxer als Leibwächter eingestellt, nachdem er Eindringlinge am Fenster gesehen habe. Insbesondere Einbeinige lasse er verfolgen. Da bringt der Butler einen Brief aus Indien, der Major Sholto in Angst und Schrecken versetzt: Eine Gruppe, die sich „Das Zeichen der Vier“ nennt, hat darin gedroht, sich das, was er geraubt habe, zurückzuholen und ihn für seinen Verrat zu bestrafen. Er erleidet einen Schwächeanfall, flüstert noch ein paar letzte Worte von einem „Schatz“ und einer Mary Morstan – und gibt den Löffel ab.

1888, sechs Jahre später.

Eben jene Mary Morstan besucht Sherlock Holmes und Dr. John Watson, einen jungen mittellosen Militärarzt, in Holmes‘ Büro in London, Baker Street 221B. Holmes hat sich mal wieder eine seiner, wie Watson sagen würde, „entsetzlichen“ Kokainspritzen gesetzt und ist folglich bester Laune. Diese hebt sich noch viel mehr angesichts des wunderschönen Geschöpfes, das durch seine Tür tritt. Denn im Gegensatz zu manchen Darstellungen in gewissen Filmen ist Holmes kein Griesgram, sondern ein weltzugewandter Genießer, dem nichts lieber ist als eine Herausforderung seiner formidablen geisten Fähigkeiten. Nach Zeiten mentalen Hungers bietet Mary Morstan ihm nun eine leckere Geistes-Mahlzeit: ein Rätsel!

Die Ärmste schlägt sich seit dem Verschwinden ihres Vaters im Jahre 1878 als Gesellschafterin bei Mrs. Cecil Forrester durch, doch seit 1882 erhält sie von einem unbekannten Gönner alljährlich eine wunderschöne Perle geschickt, so dass sich ihr Lebensstandard ein wenig gehoben hat.

Watson und Holmes, die ihre daraus gefertigte Halskette in Augenschein nehmen dürfen, sind völlig von den Socken: edelste Ware, no doubt! Aber deswegen ist Miss Mary nicht hier. Sie hat eine Einladung zu einem geheimen Treffen erhalten. Sie dürfe zwei Freunde, aber keinerlei Polizeibeamte mitbringen. Ob die beiden Herren wohl so nett wären?

Und ob sie wären! Vorsichtshalber nimmt Holmes aber seinen zuverlässigen Revolver mit. Ein Kutscher sammelt sie am Treffpunkt auf und fährt sie in die schlechteren Viertel Süd-Londons. Als ein Inder sie in das Haus einlässt, staunen alle Bauklötze: ein veritabler Palast wie aus dem Orient. Wem gehört die noble Hütte? Es ist Thaddeus Sholto und er hat eine lange Geschichte zu erzählen.

Doch als sie in Pondicherry Lodge eintreffen, um Mary den ihr rechtmäßig zustehenden Schatz zu zeigen, kommen sie zu spät. Jemand ist ihnen zuvorgekommen, was dem armen Bartholomew gar nicht gut bekommen ist: In seinem Hals steckt ein Dorn mit einem tödlichen Gift …

Doch wie konnte der Täter in einen komplett abgeschlossenen Raum eindringen und – vor allem – wieder entkommen? Holmes stellt sich endlich das ersehnte Rätsel: ein klassisches |locked room mystery|!

_Mein Eindruck_

Natürlich ist es von diesem bis zur Ergreifung der Täter noch ein weiter Weg. Und ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass sich auch das Anhören der restlichen Handlung lohnt. Die Gehörgänge kommen voll auf ihre Kosten – siehe meine Abschnitte „Musik“ und „Geräusche“. Endlich erfahren wir am Schluss auch, wie alles begann, irgendwo am anderen Ende des Empires, als ein unvorsichtiger Kaufmann seinem Kollegen etwas von einem Schatz zuflüsterte.

Natürlich ist eine Schatzjagd immer ein netter Aufhänger für eine flotte Story, und umso mehr für das viktorianische Publikum, das das angesehene „Strand Magazine“ las, in dem Doyle seine Storys veröffentlichen konnte. Abenteuer, Gefahr, ein waschechter Kannibale – beim Jupiter! Es gibt genügend Unterhaltsames in der Story, um einen Roman daraus zu spinnen.

Doch Doyle lässt auch eine gewisse Kritik an den erschreckenden Zuständen auf den Gefängnisinseln eben dieses British Empires einfließen. Die Schlussrede des Täters ist voller Anklagen, die offenbar allesamt gerechtfertigt sind. Er stellt sich natürlich selbst als Opfer hin, aber es war sicher nicht ungewöhnlich, dass britische Aufseher wie Sholto und Morstan den ihnen ausgelieferten Häftlingen sämtliche Habseligkeiten abnahmen, die sie besaßen. Und dazu gehörte eben auch die Information über den Schatz in der Stadt Agra, wo das Tadsch Mahal steht.

Die Gier nach dem Gold ist das ausschlaggebende Thema hinter der ganzen Schatzsuche. Und bevor die Truhe geöffnet wird, fragt sich vielleicht der eine oder andere Zuhörer, ob der Schatz nicht besser drin bleiben sollte als noch mehr Menschen ins Unglück zu stürzen, beispielsweise die liebliche Miss Morstan …

|Die Sprecher & Rollen|

Es gibt vier Hauptfiguren, die auch stimmlich herausragen. Am besten gefällt mir Joachim Tennstedt als Sherlock, denn was er in diese Figur hineinlegt, ist sehr sympathisch und humorvoll – so als würde ein strahlender John Malkovich völlig entspannt aufspielen (liegt’s am Koks?). Holmes‘ einziger Fehler ist seine Ablehnung des weiblichen Geschlechts oder vielmehr des Umgangs mit dessen Vertretern. Das soll aber weniger an latenter Homosexualität liegen, als vielmehr an seiner Abneigung gegen jede Art von emotionaler Sentimentalität. Lang lebe der reine Geist.

Dr. John Watson, 36, ist das genaue Gegenteil seines Freundes: jovial, freundlich, frauenfreundlich und durchweg emotional. Leider sind seine logischen Schlüsse von dementsprechend unzulänglicher Qualität. Das war zu erwarten. Seine wachsende Liebe gilt Miss Mary Morstan, die selbst ein patentes Frauenzimmer zu sein scheint, denn sie besteht darauf, auf die Verfolgungsjagd nach den Verbrechern mitzukommen.

Der größte Humorfaktor ist indes die eines Peter Ustinov würdige Figur des Inspektor Jones von der Londoner Kripo. Nicht nur sind Jones‘ logische Schlüsse noch wesentlich schlechter als die Watsons, obendrein hat er auch noch die sprachliche Eigenart, sich vor jedem Schlusswort eines Satzes auf merkwürdigste Weise zu räuspern – ein nach innen gewandtes Räuspern, das höchst lachhaft klingt. Ich könnte mich wegschmeißen, wenn ich den Typ höre.

Aber auch Peer Augustinski soll nicht unterschlagen werden. Er spielt in der Rolle des Thaddeus Sholto keine unerhebliche Rolle bei der Beschaffung des Schatzes für die arme Miss Morstan. Wer sich die Stimme von Robin Williams vergegenwärtigt, bekommt eine Ahnung von den vielfältigen Möglichkeiten, einen herzkranken reichen Mann von gut dreißig Jahren zu spielen, der an einer Wasserpfeife schmaucht und eine Räuberpistole aus Indien erzählt. Als Inspektor Jones ihn verhaftet, hat Sholto/Augustinski die Möglichkeit, den entsetzten Unschuldigen zu spielen – aber ist er wirklich unschuldig?

|Die Musik|

Nach einem Intro, das der Titelsequenz eines Spielfilms entspricht, hören wir die Musik laufend im Hintergrund, wenn nicht gerade Geräusche sinnvoller sind, etwa beim Abendessen oder bei einer Verfolgungsjagd im Hafen. Deshalb erklingt die Musik mit voller Kraft erst wieder im „Abspann“, quasi als Rausschmeißer. Es ist Musik, die einem kleinen Spielfilm angemessen ist: niemals aufdringlich, sondern stets unterstützend. Kein Wunder, dass viele Motive aus einem Fundus von Samples genommen wurden – siehe den Vermerk im Booklet.

|Die Geräusche|

Eine schier unglaubliche Vielfalt von Geräuschen verwöhnt das Ohr des Zuhörers. Der Eindruck einer real erlebten Szene entsteht oft, aber nicht immer. Es ist natürlich etwas schwierig, jene Wasserpfeife klanglich umzusetzen, die Thaddeus Sholto schmaucht, als er Watson, Holmes und Miss Morstan empfängt. Zum Ausgleich gibt es jedoch eine groß inszenierte Verfolgungsjagd auf der Themse, in der der Toningenieur sämtliche Register ziehen kann: vom Dampfzischen, Maschinenstampfen, Wasserplätschern und Möwengeschrei bis hin zu den Revolver-Schüssen Holmes‘ und dem Zischen eines Giftpfeils – das volle Programm. Dazu stelle man sich noch die entsprechende Schreie und Rufe der beteiligten Figuren vor, und man hat eine komplette Krimiszene.

_Unterm Strich_

„Das Zeichen der Vier“ ist eine durchweg gelungene Hörspiel-Umsetzung der klassischen Holmes-Erzählung. Die Story ist, wie nicht anders zu erwarten, durchweg spannend, witzig und bis zum Schluss tempo- und actionreich inszeniert. Hinzu kommen ein Schuss Romantik (Watson & Morstan – ob das klappt?) und erfrischende Ironie. Holmes‘ Auftritt in täuschender Verkleidung ist sicher ein Highlight der verblüffenden Effekte, und humorvolle Szenen halten das Zwerchfell auf Trab.

Wenn alle Hörspiele der Holmes-Reihe so gut inszeniert sind, kann ich sie uneingeschränkt empfehlen.

|The sign of four, ca. 1888
128 Minuten auf 2 CDs|