Marc Gruppe: Ein Skandal in Böhmen (Sherlock Holmes 12)

DIE FRAU triumphiert über den Meisterdetektiv: Wettstreit der Meister

Seit seiner Heirat ist Dr. Watson zu seinem eigenen Bedauern nur noch sporadisch zu Gast in der Baker Street 221 B. Eines Abends führt ihn sein Weg jedoch mal wieder in die Straße seiner Junggesellenzeit und er wird sogleich in den aktuellen Fall seines Freundes Sherlock Holmes hineingezogen. Dieser hatte mit der Abend-Post einen Brief bekommen, in dem ein Unbekannter seinen Besuch ankündigt … (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörspiel ab 12 Jahren.

Die Autoren

Sir Arthur Conan Doyle lebte von 1859 bis 1930 und gelangte mit seinen Erzählungen um den Meisterdetektiv Sherlock Holmes zu Weltruhm. Dabei begann der Mediziner, der eine eigene Praxis hatte, erst 1882 mit dem Schreiben, um seinen Einkommen aufzubessern. Neben mystischen und parapsychologischen Themen griff er 1912 auch die Idee einer verschollenen Region (mit Dinosauriern und Urzeitmenschen) auf, die von der modernen Welt abgeschnitten ist: „The Lost World“ erwies sich enorm einflussreich und wurde schon 13 Jahre später von einem Trickspezialisten verfilmt. Schon 1913 ließ Doyle eine Fortsetzung unter dem Titel „The Poison Belt“ (dt. als Im Giftstrom, 1924).

Marc Gruppe ist der Autor, Produzent und Regisseur der erfolgreichen Hörspielreihe GRUSELKABINETT, die von Titania Medien produziert und von Lübbe Audio vertrieben wird. Genau wie dort erscheinen auch „Die geheimen Fälle des Meisterdetektivs“ meist im Doppelpack.

Folge 1: Im Schatten des Rippers
2: Spuk im Pfarrhaus
3: Das entwendete Fallbeil
4: Der Engel von Hampstead
5: Die Affenfrau
6: Spurlos verschwunden
7: Der Smaragd des Todes
8: Walpurgisnacht
9: Die Elfen von Cottingley
10: Der Vampir von Sussex / Das gefleckte Band / Der Fall Milverton / Der Teufelsfuß (Neuausgabe)
11: Das Zeichen der Vier (4/2014, Neuausgabe)
12: Ein Skandal in Böhmen (4/2014)

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Rollen und ihre Sprecher:

Sherlock Holmes: Joachim Tennstedt (dt. Stimme von John Malkovich)
Dr. John H. Watson: Detlef Bierstedt (dt. Stimme von George Clooney u.a.)
Mrs Hudson: Regina Lemnitz
König von Böhmen: Pascal Breuer
Irene Adler: Traudel Haas
Godfrey Norton: Johannes Raspe
Hausdame: Liane Rudolph
John, Kutscher: Tim Schwarzmaier
Priester: Manfred Lehmann
Taschendiebe: Marc Gruppe und Jannik Endemann
Kutscher: diverse
Pöbel: diverse, u. a. Stephan Bosenius

Regie führten die Produzenten Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden in den Planet Earth Studios statt. Alle Illustrationen – im Booklet, auf der CD – trugen Ertugrul Edirne und Firuz Askin bei.

Handlung

Als Dr. Watson mal wieder in der Baker Street 221B vorbeischaut, wurde er von einer verzweifelten Mrs. Hudson empfangen. Holmes kokst schon wieder! Und das, obwohl der Meisterdetektiv selbst von königlichen Herrschaften um Rat gebeten wird – viel erfolgreicher kann er nicht mehr werden. Was also ist mit ihm los? Als Watson nachfragt, stellt sich heraus: Wieder mal plagt Holmes die Unbeschäftigtheit seines brillanten Geistes.

Abhilfe schafft ein neuer Auftrag. Der Besucher ist offenbar nicht nur gut betucht, sondern hat auch eine äußerst heikle Angelegenheit auf dem Herzen: Die verflossene Geliebte Irene Adler, ihres Zeichens Opernsängerin, ist im Besitz eines kompromittierenden Fotos von sich selbst – und seiner kgl. Hoheit, dem König von Böhmen. Watson staunt nicht schlecht, als Holmes Wilhelm Sigismund von Ormstein vorstellt.

Nun wandelt Seine Hoheit auf Freiersfüßen, doch die norwegischen Eltern der Braut sind sehr sittenstreng. Sollte das Foto auftauchen, wär’s nebbich mit der angepeilten Familiengründung. Und Frau Adler hat derlei bereits angedroht. Sie hat auch bereits sieben Versuche erfolgreich abgeschmettert, sich besagtes Foto anzueignen. Was für eine Herausforderung! Holmes ist begeistert und sagte gerne zu, nicht so sehr wegen des selbstredend fürstlichen Honorars, als vielmehr wegen der Aussicht, gegen eine derart kluge Frau antreten zu können.

Seine Verkleidung als alter Knacker und Reverend wird selbst vom getreuen Watson nicht auf Anhieb durchschaut. Wieder mal zahlt sich Holmes‘ Zeit am Theater aus (vgl. dazu „Walpurgisnacht“), als er sich an die Villa heranpirscht, die Irene Adler am Hyde Park bewohnt. Es sieht so aus, als wolle die deutsche Operndiva einen englischen Rechtsanwalt namens Norton heiraten – das könnte kompliziert werden. Zusammen mit Watson bereitet er den entscheidenden Einsatz vor, um das Versteck des Fotos herauszubekommen.

Als ihn ein junger Mann als „Sherlock Holmes“ anredet, obwohl er doch verkleidet ist, hätte er eigentlich gewarnt sein müssen. Jemand hat ihn offenbar durchschaut. Aber wer könnte das sein?

Mein Eindruck

Es geht also um DIE FRAU, jene Irene Adler, die keineswegs eine Superagentin ist, sondern einfach eine schlaue, energisch handelnde Opernsängerin. Hier zeigt sich der schon zur Jahrhundertwende verbreitende Respekt der Engländer vor den Deutschen, die ihnen auf (fast) allen Weltmeeren und in der Industrie die Vorherrschaft streitig machen wollten. Als die Teutonen auch noch das irakische Erdöl in Reichweite bekamen (durch die Bagdadbahn), mussten die Briten und Franzosen handeln – sie erklärten Kaiser & Sultan den Krieg.

Braves Böhmen, du hast es besser! Zum Glück liegt es nicht mehr, wie noch zu Shakespeares Zeiten, am Meer, sondern weit im Inland. Dennoch ist der Leser bzw. Hörer verblüfft, von einem böhmischen Königshaus zu hören, welches sich trotz der Existenz einer gewissen k.u.k. Monarchie zu behaupten gewusst hat. Bravo, Böhmen!

Man sieht also: Es geht um lauter Aufmüpfige in diesem ungewöhnlichen Kriminalfall. Watson wird Zeuge eines groß angelegten Plans, die Fotografie zu beschaffen – und dann von dessen grandiosem Scheitern. Actionreicher Höhepunkt ist auch in akustischer Hinsicht der Rauchanschlag auf Irene Adlers Residenz. Gleich darauf rasen die Kutschen nur so durch die Stadt.

Diesem Höhepunkt sind zwei ironische Schmankerln vorgeschaltet, die den Hörer ordentlich auf die Folter spannen. Der erste Holmes‘ Bericht von der sonderbaren Trauung der beiden Turteltäubchen Adler und Norton in der St. Monica’s Church – mit ihm als unfreiwilligen Trauzeugen. Das ist Ironie pur, denn eigentlich wollte er das Paar ja nur beschatten.

Die zweite Spannungsbremse, aber einen Höhepunkt der Situationskomik bildet das Festmahl, das Holmes und Watson, die beiden Supernasen, von Mrs. Hudson aufgetischt bekommen. Aah, kalter Rinderbraten mit der Spezialsoße des Hauses! Es hebt ein Spachteln und Schmausen an, dass die Soße fast aus den Lautsprechern trieft. Der Verwöhnung von Watsons Gaumen folgt jedoch die dicke Kröte, die er schlucken muss: Er soll eine Bombe werfen …

Die Sprecher/Die Inszenierung

Dr. Watson nimmt die Stelle des zweifelnden gesunden Menschenverstandes gegenüber Holmes ein, welcher ein getriebener Junkie der Vernunftarbeit zu sein scheint. Watson, der Gemütsmensch, entwickelt aufgrund seiner Menschlichkeit rasch Beschützergefühle für die liebliche und furchtsam und sanft sprechende Mary Marston.

Es gibt vier Hauptfiguren, die auch stimmlich herausragen. Am besten gefällt mir J. Tennstedt als Sherlock, denn was er in diese Figur hineinlegt, ist sehr sympathisch und humorvoll – so als würde ein strahlender John Malkovich völlig entspannt aufspielen (liegts am Koks?). Holmes‘ einziger Fehler ist seine Ablehnung des weiblichen Geschlechts oder vielmehr des Umgangs mit dessen Vertretern. Das soll aber weniger an latenter Homosexualität liegen, als vielmehr an seiner Abneigung gegen jede Art von emotionaler Sentimentalität. Lang lebe der reine Geist. Die vorliegende Episode liefert den einzigen Gegenbeweis.

Dr. John Watson, 36, ist das genaue Gegenteil seines Freundes: jovial, freundlich, frauenfreundlich und durchweg emotional, außerdem glücklich verheiratet. Leider sind seine logischen Schlüsse von dementsprechend unzulänglicher Qualität. Das war zu erwarten. Seine wachsende Liebe gilt seiner Frau Mary Morstan, die selbst ein patentes Frauenzimmer zu sein scheint. Leider tritt sie in dieser Episode nicht auf.

Bemerkenswert wie immer ist der Auftritt von Regina Lemnitz als Mrs. Hudson. Wie jeder Sherlock-Fan weiß, ist sie das moralische Gewissen, an dem jeder Fall gemessen wird – und ganz besonders ihr Mieter Holmes. Sie ist auch eine gute Seele, wie ihr vertrauliches Gespräch mit Watson deutlich macht. Das dieses Gespräch im Flur hinter der Haustüre stattfindet, ist es mit Hall unterlegt.

Es gibt mit dem König von Böhmen eine bedeutende Nebenrolle. Pascal Breuer entledigt sich seiner Aufgabe als rund dreißigjähriger Monarch recht souverän. Und Irene Adler? Schließlich schlägt sie Holmes in seinem eigenen Spiel. Traudel Haas weiß ihr mit einer Altstimme die nötige Weltgewandtheit, Klugheit zu verleihen, ohne dabei die Emotionalität einer Lady zu unterdrücken. Ihr gehört auch das letzte Wort: Sie lacht.

Die Musik

Dies ist kein Remake alter Folgen, sondern eine neue Folge. Zu hören ist Musik, die einem kleinen Spielfilm angemessen ist: niemals aufdringlich, sondern meist unterstützend. Die Musik wird vom Piano, dem Synthesizer und tiefen Bässen geprägt. Der Klang ist klar und deutlich definiert. Die tiefen Bässe werden immer dann eingesetzt, wenn Gefahr im Verzug ist. Das Intro, eine Art flott-dezente Teemusik, bildet den heiter-beschwingten Auftakt zur Handlung.

Die Geräusche

Eine schier unglaubliche Vielfalt von Geräuschen verwöhnt das Ohr des Zuhörers. Der Eindruck einer real erlebten Szene entsteht in der Regel immer. Gebell, Papier, Tassen, Kaminfeuer, Uhrenticken, Türenquietschen – all diese Samples setzt die Tonregie sattsam ein, um einer Szene eine Fülle von realistisch klingenden Geräuschen zu vermitteln. Sogar „Holmes“ pafft vernehmlich an seiner großen Pfeife.

Das Booklet

Die Titelillustration zeigt die entscheidende Szene, die den vorläufigen Höhepunkt der Exposition bildet: Der König wird entlarvt.

Im Booklet sind die Titel des GRUSELKABINETTS verzeichnet sowie Werbung für den verstorbenen Illustrator Firuz Askin zu finden. Die letzte Seite zählt sämtliche Mitwirkenden auf. Die innere Doppelseite listet sämtliche Titel von Titania Medien auf.

Hinweise auf die nächsten Hörspiele im Frühjahr 2014:

Nr. 84: John Willard: Die Katze und der Kanarienvogel Teil 1 (nach dem Theaterstück)
Nr. 85: dito: Die Katze und der Kanarienvogel Teil 2
Nr. 86: Robert E. Howard: Die Kreatur
Nr. 87: H.H. Ewers: Alraune
Nr. 88: William Wymark Jacobs: Die Affenpfote (1902)
Nr. 89: Per McGraup: Heimgekehrt

Unterm Strich

Es war wohl der Holmes-Darsteller Jeremy Brett, der seinerzeit für die BBC die definitive Reaktion auf Irene Adler ablieferte: Respekt, mit einem Quentchen Missvergnügen. Geschlagen im eigenen Spiel – na, so was! Kein Wunder, dass die einzige Fotografie von einem Frauenzimmer, die er besitzt, die Adler zeigt. Zugleich ist das Foto eine Art Trophäe, denn sie ist der MacGuffin***, um den sich die ganze Handlung dreht – und wer ihn kriegt, ist zumindest symbolisch der Sieger.

Etwas geknickt geht denn auch Holmes am Schluss der Handlung von dannen, und das ist eigentlich der passende Schluss. Wer einen Paukenschlag mit maskulinem Triumph erwartet, befindet sich auf dem falschen Dampfer. Hier geht es um den Wettstreit zweier ebenbürtiger Geister, und die Spannung erwächst daraus, wer am Schluss den Kürzeren zieht. Da Holmes einen genialen Plan in die Tat umsetzt und mit kgl. Rückendeckung antritt, sollte man seinen Sieg auf ganzer Linie erwarten. In dieser Erwartung wird der Hörer jedoch angenehm enttäuscht.

Zwei nette Szenen (s. o.) bereiten den großen Holmes’schen Angriff auf das feindliche Lager vor: Die Trauungsszene ist sehr ironisch und die Essensszene mit den schmausenden Detektiven sehr komisch. Nachdem die Spannung dadurch hinausgezögert worden ist, kann endlich die Action zu ihrem Recht kommen. Irene Adler hat jedoch wider Erwarten das letzte Wort: ein Lachen. Mir hat diese Episode recht gut gefallen, aber ich hätte mir mehr Action und einen weiteren Auftritt von Irene Adler gewünscht.

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Die Sprecherriege für diese neue Reihe ist höchst kompetent zu nennen, handelt es sich doch um die deutschen Stimmen von Hollywoodstars wie John Malkovich (Tennstedt) und George Clooney (Bierstedt).

***: Siehe dazu Alfred Hitchcocks Definition des MacGuffins: Ein Objekt oder eine Information, hinter der alle her sind, die aber selbst im Grunde keinen Wert besitzt, beispielsweise der Malteser Falke in Hammetts Krimiklassiker.

Der Autor vergibt: (3.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (2 Stimmen, Durchschnitt: 3,50 von 5)

Audio-CD mit ca. 65 Minuten Spielzeit
Info: A scandal in Bohemia

www.titania-medien.de