Zwanzig Jahre nach der globalen Apokalypse versuchen die wenigen Überlebenden Fuß in einer zivilisationslosen Welt zu fassen, was vor allem denen Probleme bereitet, die sich an die Zeit vor dem Tag Null erinnern, wobei sie verdrängen, dass sie auch damals mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatten … – Die Autorin verzichtet weitgehend auf die typischen „Post-Doomsday“-Elemente, sondern beschwört eine Stimmung des Verlustes. der Trauer und der Hoffnung herauf. Vergangenheit und Gegenwart wechseln einander ab, um zu unterstreichen, was sich geändert hat und was erhalten blieb.
Das geschieht:
Vor zwanzig Jahren kam die Apokalypse in Gestalt der „Georgischen Grippe“ als Pandemie über die Menschheit. 99% aller Männer, Frauen und Kinder sind binnen weniger Wochen gestorben; kein Kontinent blieb verschont. Staaten und Grenzen gibt es nicht mehr, Reisen müssen zu Fuß oder mit Pferd und Wagen bewältigt werden. Da sämtliche Technik ausgefallen ist, sank das Zivilisationsniveau auf den Stand des Mittelalters zurück.
In den nun beinahe menschenleere Weiten des nordamerikanischen Kontinents haben sich wenige kleine Siedlungen halten können. Nachdem Panik und Gewalt dem Massensterben folgten, hat sich die Situation beruhigt. Dennoch werden Auswärtige mit Misstrauen empfangen – oder vertrieben.
In der Grenzregion zwischen den USA und Kanada zieht die „Fahrende Symphonie“, eine Schauspielertruppe, von Dorf zu Dorf. Nach dem Ende aller Massenmedien bringen sie ein wenig Unterhaltung in das von Alltagsarbeit erfüllte Leben, weshalb die Gruppe normalerweise freundlich empfangen wird. Deshalb merkt man zu spät, dass man in einen Ort gekommen ist, der vom „Propheten“ und seinen Jüngern beherrscht wird. Heimlich setzt sich die „Symphonie“ ab, doch eine junge Frau, die zwangsweise mit dem „Propheten“ verheiratet werden sollte, reist als blinder Passagier mit.
Der „Prophet“ betrachtet dies als persönliche Beleidigung und verfolgt mit seinen Schergen die Schauspieler, die das zu spät merken. Die Gruppe wird getrennt. Wer nicht gefangengenommen wird, versucht sich zum „Zivilisationsmuseum“ durchzuschlagen, einem legendären Ort, an dem die Relikte und das Wissen der untergegangenen Welt gehütet werden. Leider kennt auch der „Prophet“ diese Stätte, weshalb der Marsch dorthin zum Wettlauf um Freiheit und Leben wird …
Apokalypse ohne Gewaltorgien
Eine „ganz andere“ Geschichte soll hier erzählt werden. Liest man den Inhaltsüberblick, mag man daran zweifeln. In der Tat ist dieser Teil der Handlung nicht so neu, wie uns Autorin Mandel und vor allem die Werbung gern weismachen möchten. Dem steht ein zunächst ebenfalls nicht unbedingt origineller Kunstgriff gegenüber: Die Autorin greift immer wieder auf die Zeit vor der Apokalypse zurück. Dies sind aber keine simplen Rückblenden. Die Vergangenheit stellt eine inhaltlich mit der Gegenwart verschmolzene Ereignisebene dar.
Die ‚Gleichzeitigkeit‘ von Vergangenheit und Gegenwart ist für diese Geschichte von elementarer Bedeutung. Üblicherweise beschränken sich Rückblenden im „Post-Doomsday“-Genre auf die Zeit kurz vor der jeweiligen Katastrophe. Die Vorgeschichten der Protagonisten werden aufgerollt, zumal diese im Guten oder im Bösen über sich hinauswachsen, um den Folgen der Apokalypse zu trotzen, die traditionell in einem Neo-Barbarentum à la „Mad Max“ gipfelt.
Mandel weitet diese Vorgeschichte/n weit aus. Dabei weicht sie von bewährten Mustern ab, indem sie ihre Figuren stets fernab der ‚Front‘ zeigt. Zwar überrollt die Todesgrippe auch sie, doch sie gehören nie zu denen, die als Ärzte, Soldaten oder einfach vom Schicksal (bzw. vom Verfasser) Gebeutelte dorthin geworfen werden, wo apokalyptisch Geschichte geschrieben wird. Stattdessen bleiben die Protagonisten passiv als ‚normale‘ Helden oder Schurken, obwohl sie durchaus um ihr Leben kämpfen. Was (allzu) oft im Zentrum solcher „Post-Doomsday“-Romane steht und eine echte Handlung nicht selten ersetzen soll, bleibt hier jedoch untergeordnet und wird zudem keineswegs heroisch verklärt: Der Tod kommt in der Regel als jämmerliches Ende, was den ebenfalls gar nicht schillernden Zentral-Bösewicht einschließt.
Verlust und Neubeginn
Mandel greift stattdessen eine weniger spektakuläre aber wichtige Frage auf: Welchen Effekt hat der Untergang der Zivilisation auf die Menschheit bzw. für jene Individuen, die sie in diesem Roman vertreten? Zwar schildert auch Mandel, wie sich die Rest-Gesellschaft außerhalb der von Groß- zu Leichenstädten gewordenen Metropolen neu formiert. Wiederum lässt sie das eher nebenbei einfließen. Sie konzentriert sich auf den geisterhaften Fortbestand der vergangenen Zivilisation, die bei ihr nicht von Pionieren einer neuen Ära kurzerhand abgehakt wird.
Für Mandel besitzt die verlorene Vergangenheit – die für den Leser die Gegenwart darstellt – eine Strahlkraft, die den Blick-in-die-Zukunft-Enthusiasmus der üblichen Post-Apokalyptiker Lügen straft. Früher war keineswegs alles schlechter, sondern vieles besser. Deshalb trauern bei Mandel die Überlebenden, die diese Vergangenheit noch selbst erlebt haben, ihr glaubhaft hinterher. Zudem sind sie eine wertvolle Ressource für die Zeit nach dem Untergang, denn nur sie wissen, was verlorenging und erhalten werden sollte. Die Kinder der Apokalypse kennen dagegen keine Hightech; wenn das Wissen der Vergangenheit nicht durch die Überlebenden in Taten umgesetzt wird, geht es endgültig verloren, und es beginnt ein Zeitalter echter Barbarei.
Immer wieder kehrt Mandel in die Vergangenheit zurück. Wenn wir ihre Figuren nach der Pandemie wiedertreffen, sind diese dort durch ihre Erinnerungen verankert. Das „Zivilisationsmuseum“ symbolisiert die Sehnsucht nach einer verlorenen Welt, die ungeachtet damals empfundenen Alltagsüberdrusses letztlich die bessere war. Mandel listet sicherheitshalber buchstäblich auf, worauf man stolz war = worüber man froh sein sollte: Die Zivilisation wird oft und gern kritisiert, während man ihre Vorteile für so selbstverständlich hält, dass man sie als solche nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Erst der Verlust führt zum Moment der Erkenntnis; eine Erfahrung, die Mandel mehrfach und plausibel in Worte zu fassen weiß.
Verloren in einer riesig gewordenen Welt
Das „Zivilisationsmuseum“, eine Sammlung von Artefakten, die sowohl über die Vergangenheit informieren, als auch die Überlebenden durch ihren Anblick trösten, stellt Mandel als eine Möglichkeit dar, die Katastrophe zu verarbeiten. Die Mitglieder der „Fahrenden Symphonie“ haben eine andere Methode gefunden. Sie erhalten die Vergangenheit lebendig, indem sie Theaterstücke aufführen. Meist sind es Stücke von William Shakespeare, die ihnen den größten Erfolg bringen. Damit bestätigt Mandel die Ansicht vieler (Theater-) Fachleute, Shakespeare habe sämtliche menschlichen Konflikte spielerisch auf den Punkt gebracht und in seinem Gesamtwerk thematisiert.
Die Resonanz der Restbevölkerung ist groß, was der „Symphonie“ ihr Auskommen in einer ansonsten auf Selbstversorgung basierenden Gesellschaft sichert und gleichzeitig die Sehnsucht nach Zerstreuung unterstreicht. Fernsehen, Radio und Internet werden von denen, die diese Medien noch kennen, glühend vermisst.
Seinen Originaltitel „Station Eleven“ gab diesem Roman ein Comic, der immer wieder Erwähnung findet und dessen Handlung und Figurenpersonal sich in der Handlung widerspiegelt. Mandel ist ein ehrgeiziges Kind der modernen Literaturkritik, weshalb sie einen wahren Meteoritenhagel mehr oder weniger verfremdeter Verweise auf ihre Leser niederprasseln lässt. Dass sie hier manchmal deutlich angestrengt Klimmzüge versucht, ist einer der wenigen Minuspunkte dieses Romans, zu denen sich die Leugnung der Tatsache addiert, dass Mandel eben doch vieles aus der trivialen Phantastik übernommen hat. Was dort zum Klischee gerann, funktioniert hier nicht wirklich besser, wie exemplarisch der „Prophet“ belegt. Mandel bemüht sich, ihn nicht als Buhmann, sondern als tragische Gestalt zu schildern. Dennoch wirkt der „Prophet“ nicht realistischer als reine Populär-Schurken wie der „Governor“ oder der Psychopath Negan aus der Comic- bzw. TV-Serie „The Walking Dead“, die auf intellektuelle Relevanz ausdrücklich verzichtet.
Jenseits der Lobeshymnen, die Mandel – zur Freude eindimensionaler Marketing-Strategen eine hübsche, ‚zarte‘ Frau und deshalb als Autorin von zusätzlicher Werbewirksamkeit – für die Schöpfung eines literarischen Meisterwerks feiern, bleibt „Das Licht der fernen Tage“ eine Lektüre, die Bekanntes so erfolgreich bereichert, dass dem Ergebnis Cover-Dummsprech wie „hoffnungslos düster, schrecklich zart und tragisch schön“ erspart werden sollte.
Autorin
Emily St. John Mandel wurde 1979 in Comox geboren, einem Ort auf Denman Island vor der Westküste der kanadischen Provinz British Columbia. In Toronto besuchte sie ab 1997 eine Schule für Zeitgenössischen Tanz, zog später nach Montreal und schließlich nach New York.
Ein erster Roman – der Mystery-Thriller „Last Night in Montreal“ – erschien 2009. Für „Station Eleven“ (dt. „Das Licht der letzten Tage“) wurde Mandel 2013 mit dem Arthur C. Clarke Award für den besten im Vorjahr zum ersten Mal in Großbritannien veröffentlichten Science-Fiction-Roman ausgezeichnet.
Mit ihrem Mann lebt Emily St. John Mandel in Brooklyn, New York City.
Taschenbuch: 409 Seiten
Originaltitel: Station Eleven (New York : Alfred A. Knopf/Random House LLC/Penguin Random House 2014)
Übersetzung: Wiebke Kuhn
www.piper.de
Der Autor vergibt: