R. Austin Freeman – Das Auge des Osiris

Das spurlose Verschwinden eines reichen Mannes und sein absurdes Testament lösen die Frage nach dem Verbleib aus, die mit strikter Logik und der modernsten Kriminaltechnik des frühen 20. Jahrhunderts auf gänzlich unerwartete Weise beantwortet wird … – Ein früher Klassiker der Kriminalliteratur erweist sich als gemächlich und abschweifend aber spannend und erstaunlich witzig erzählter „Whodunit?“, dessen Neuauflage den deutschen Krimifans eine nostalgische Lektüre ermöglicht.

Das geschieht:

London im Spätsommer des Jahres 1904: Der Gerichtsmediziner, Dozent und Kriminalist Dr. John Thorndyke wird von seinem ehemaligen Studenten Paul Berkeley über einen bizarren und damit interessanten Fall in Kenntnis gesetzt: Vor zwei Jahren ist der angesehene Ägyptologe John Bellingham nach seiner Rückkehr von einer Forschungsexpedition spurlos verschwunden. Zuletzt sah man ihn als Besucher im Haus seines Cousins George Hurst, und im Garten seines Bruders Godfrey fand man seinen geliebten Skarabäus-Anhänger.

Zurück blieb nur Johns vertracktes Testament: Godfrey ist sein Erbe, doch antreten kann er es nur, wenn Johns Leiche auf einem der Friedhöfe bestattet wird, die er genau vorschrieb. Ansonsten – und nur dann – soll George erben. Ohne Leiche kann Johns Letzter Wille allerdings nicht vollstreckt werden; eine verfahrene Situation, zumal Godfrey inzwischen verarmt ist.

Thorndyke ist fasziniert: Dieses Problem will er lösen! Sein junger Geschäftspartner Jervis sowie Berkeley unterstützen ihn. Dreh- und Angelpunkt der Ermittlung ist die Frage nach dem Verbleib von John Bellingham. Dieses Rätsel scheint sich endlich zu lösen, als an verschiedenen Plätzen sorgfältig ausgelöste Menschenknochen gefunden werden, die sich zum Skelett eines älteren Mannes zusammenfügen lassen. Der letzte Beweis dafür, dass dies John sterbliche Überreste sind, kann jedoch zunächst nicht geführt werden.

Es bleibt dem streng logisch denkenden und systematisch ermittelnden Dr. Thorndyke überlassen, die gleichzeitig kargen und zahlreichen Indizien zu einem Fall zu schürzen, der sich als ebenso sensationell wie wunderlich herausstellt …

Warum verschwand Dr. Thorndyke?

Etwa 150 Jahre ist die moderne Kriminalliteratur alt; an sich keine besonders lange Zeitspanne, doch da das Genre recht schnelllebig ist, geriet in diesen anderthalb Jahrhunderten viel außer Sicht, das zeitgenössisch für Aufsehen sorgte. Die Romane von R. Austin Freeman gehören dazu. Vor allem in Deutschland ist sein Werk allgemein vergessen und nur mehr wenigen Spezialisten bekannt. Dabei war dies einst anders; Freeman gehört zu den Autoren, deren Romane hierzulande recht prompt übersetzt und veröffentlicht wurden. Das änderte sich erst mit dem II. Weltkrieg; ein Schicksal, das Freeman mit vielen angelsächsischen und plötzlich ‚feindlichen‘ Schriftsteller-Kollegen teilte. Während die Krimis von Agatha Christie, John Dickson Carr oder S. S. van Dine – um nur drei Beispiele zu nennen – nach 1945 allerdings erneut aufgelegt wurden, blieb Freeman fast vollständig außen vor.

Galt er als zu alt bzw. zu altmodisch, ein Relikt aus der Frühzeit des Krimis, dem anders als z. B. Arthur Conan Doyle kein Kult-Klassiker à la Sherlock Holmes gelungen war? Wie „Das Auge des Osiris“ beweist, wäre diese Haltung ein grober Fehler. Dr. Thorndyke ist kein Holmes, das trifft zu, doch seine Fälle lesen sich noch ein Jahrhundert nach ihrer Niederschrift mindestens ebenso unterhaltsam.

„CSI vor 100 Jahren“ lesen wir auf dem Cover der aktuellen Neuausgabe. Das ist einerseits blanke Werbung, die verständlich wirkt angesichts der Herausforderung, einen Roman aus dem Jahre 1911 einer Leserschaft des 21. Jahrhunderts nahe zu bringen. Andererseits trifft diese Aussage den Nagel durchaus auf den Kopf. Noch deutlicher als der bereits erwähnte Sherlock Holmes ist John Thorndyke ein Jünger der Wissenschaft – übrigens nicht nur der Natur-, sondern auch der Geisteswissenschaften. Sehr modern betrachtet Thorndyke die Dinge gern ganzheitlich: Zum „Erklären“ gehört das „Verstehen“. Kriminalistik ist zu einem Gutteil Biologie, Chemie oder Physik, aber hinzu treten auch Aspekte der Geschichte, der Kunst oder der Philosophie.

Der Geist triumphiert – mit naturwissenschaftlicher Hilfe

Was dies in der Umsetzung bedeutet, führen uns Freeman und Thorndyke nach gegenwärtigem Verständnis womöglich ein wenig zu ausführlich vor Augen. Als Leser sind wir es heute nicht mehr gewöhnt, dass uns ein Kriminalist seine Thesen quasi tabellarisch vorstellt, um sie dann Punkt für Punkt mit uns durchzugehen. Der Krimi der Ära Freeman ist dem „fair play“ noch überaus stark verbunden. Thorndyke ermittelt zusammen mit seinen Lesern. Wenn er dennoch schneller als wir zur Auflösung kommt, so gestehen wir ihm dies aufgrund seiner kriminalistischen Vorbildung zu: Er hat die uns vorgelegten Indizien besser und schneller deuten können.

Wobei wir die komplexen Ausführungen über die Bestimmung des Todeszeitpunkts oder pathologischen Exkurse, kurz: die gerichtsmedizinischen Interna eben dank CSI & Co. im 21. Jahrhundert problemlos nachvollziehen. Das Grundsätzliche der Polizeiarbeit ist zudem zeitlos. Der zeitgenössische Leser bedurfte noch der ausführlichen Erklärungen, mit denen Dr. Thorndyke nie geizt.

Eine gewisse Herausforderung stellt dagegen der juristische Aspekt des „Osiris“-Falls dar. Es fällt schwer, an die Gültigkeit eines Testaments zu glauben, wie John Bellingham es aufsetzte. Dies ist jedoch wichtig, weil es für die Handlung elementare Bedeutung besitzt. Vielleicht hilft es, wenn man sich an moderne Gerichtsverfahren erinnert, deren Ausgang jeglicher Logik oder gar Gerechtigkeit zu spotten scheinen; schwierig sein dürfte das nicht … Notfalls hilft aber ein Einschub: Freeman lässt den Anwalt Jellicoe über den Unterschied zwischen „alltäglicher“ und „juristischer“ Realität sinnieren. Anschließend hat man immerhin einen deutlichen Eindruck von der teuflischen Paradoxie, die besagtem Testament innewohnt.

Abwarten und Tee trinken

Die Welt des frühen 20. Jahrhunderts mag den Zeitgenossen rasant und anspruchsvoll erschienen sein. Auf uns wirkt eher gemächlich, was wir über den Alltag dieser Zeit erfahren. Das spiegelt sich in der Struktur dieses Romans wider: „Das Auge des Osiris“ ist kein ‚reinrassiger‘ Krimi. Falls eine entsprechende Definition 1911 überhaupt schon existierte, hat Freeman sie bewusst ignoriert: „A Detective Romance“ lautet der Untertitel – und genau das ist dieser Roman.

Der Liebesgeschichte von Paul Berkeley und Ruth Bellingham gibt Freeman mindestens ebensoviel Raum wie dem kriminalistischen Rätsel. Auf den ersten 100 Seiten steht die der zeitgenössischen Konvention entsprechenden, d. h. streng reglementierten Werbung sogar im Vordergrund. Die Lösung des Bellingham-Rätsels ist ebenso intellektuelle Herausforderung wie die ritterliche Rettung einer Frau (und ihres Vaters) aus der Not; dem gegenüber steht die Frage nach Schuld und vor allem nach Sühne interessanterweise eher im Hintergrund.

Auf die Mischung aus „detection“ und „romance“ muss man einlassen. Nur dann betrachtet man die Lovestory nicht als Fremdkörper, sondern erkennt sie als integrales Element des Geschehens, wie Freeman es konstruierte. Geduld ist auch sonst eine Tugend, denn Thorndyke ermittelt genau und notfalls langsam. Das Ergebnis zählt, der Weg dorthin währt so lange wie es dauert. Niemand scheint dem Ermittler im Nacken zu sitzen. Thorndyke ist unabhängig. Nicht einmal der Polizei ist er offenbar Rechenschaft schuldig. Er arbeitet nicht mit Kommissar Badger zusammen, sondern parallel an ‚seinem‘ Fall. An einen Informationsaustausch denkt er sichtlich nicht; in diesem Punkt liegt Thorndyke wiederum ganz auf der Linie mit Sherlock Holmes.

Längst vergangen aber zeitlos

„Das Auge des Osiris“ erzählt seine Geschichte formal und inhaltlich im Stil einer längst vergangenen Epoche. Dennoch möchte man diesen Roman nicht altmodisch nennen. Immer wieder überrascht Freeman mit Einfällen, die auch heute ihre Wirkung nicht verfehlen.

Gern unterstellt man der Vergangenheit beispielsweise eine geistige und moralische Rückständigkeit. Das Verständnis von der Frau als rechtloses Anhängsel des chauvinistischen Mannes ist vor allem in den Historienkrimi eingeflossen. Ruth Bellinghams zurückhaltende Art scheint diese Aschenputtel-Rolle zu bestätigen. Tatsächlich trifft dies überhaupt nicht zu: Ruth sorgt für den Unterhalt ihrer kleinen Familie; sie leistet wissenschaftliche Recherchearbeit und ihre Leistungen werden von ihrem Vater, von Paul Berkeley und auch von Dr. Thorndyke anerkannt. Noch einen Schritt weiter geht Freeman mit der Figur der Mrs. Oman, die nicht nur selbstständig ihren Laden führt, sondern im Gespräch kein Blatt vor den Mund nimmt und mit Spitzen gegen die von sich allzu eingenommene Männerwelt nicht spart. Solche Passagen lesen sich ungemein modern.

Erstaunlich mutet der leichte Ton an, mit dem Freeman Dr. Thorndyke ‚anrüchige‘ Themen ansprechen lässt, von denen man eigentlich annahm, dass sie 1911 als unschicklich galten. Im Zusammenhang mit dem Auftauchen einer zerstückelten Leiche lässt sich Thorndyke sehr beredt über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten aus, eine Leiche verschwinden zu lassen. Man kann ihm Undeutlichkeit ganz sicher nicht vorwerfen. Einnehmend ist – der Kalauer sei hier gestattet – ein knochentrockener Humor, der sehr schwarz werden kann; auch raue Seziersaal-Scherze sind offensichtlich keine Innovation der CSI-Ära.

Thorndykes überfällige Rückkehr

Angesichts der beschriebenen Qualitäten mutet es merkwürdig an, dass R. Austin Freeman in Deutschland weiterhin auf seine Wiederentdeckung wartet. „Das Auge des Osiris“ ist nach beinahe zwei Jahrzehnten der erste Roman dieses Verfassers, der zumindest eine Neuauflage erfährt; an eine Erstveröffentlichung der vielen bisher nie übersetzten Thorndyke-Romane ist wohl erst recht nicht zu denken.

Im Rahmen der Reihe „Fischer Crime Classic“, die in Zusammenarbeit mit dem Online-Magazin „Krimi-Couch.de“ herausgegeben wird, kehrt „Das Auge des Osiris“ endlich zurück in die Buchläden. Dem Roman folgen zwei Artikel des Redakteurs Lars Schafft, der unter dem Titel „Gestatten? Thorndyke, Knochenjäger“ das Werk kriminalliteraturhistorisch verortet, was er im Anschluss durch eine allgemeine „Einführung in die Welt der englischen Whodunits“ ergänzt.

Autor

Richard Austin Freeman wurde am 11. April 1862 in Marylebone, einem Stadtteil von London, als jüngstes von fünf Kindern eines Schneiders geboren. Über seine Kindheit und Jugend ist wenig bekannt. Die Quellen werden erst dichter, nachdem Freeman 1880 eine chirurgische Ausbildung im Middlesex Hospital begann, die er 1886 erfolgreich abschloss. 1887 ging Freeman, inzwischen verheiratet, als junger Arzt in die westafrikanische Kronkolonie Goldküste (heute Ghana). Dort erkrankte er schwer am Schwarzfieber, das er nur knapp überlebte. Seine Gesundheit verbot den weiteren Aufenthalt in Afrika.

Invalid kehrte Freeman 1891 nach London zurück. Als Mediziner fand er nur mühsam sein Auskommen. Zunehmend widmete er sich deshalb der Schriftstellerei. Unter dem Pseudonym Clifford Ashdown und in Zusammenarbeit mit einem Freund, dem Gefängnisarzt und Anwalt John James Pitcairn (1860-1936), erschien 1902 sein Debütroman „The Adventures of Romney Pringle“. Weitere Kollaborationen mit Pitcairn folgten, bis Freeman 1907 dem Solo-Krimi „The Red Thumb Mark“ (dt. „Der rote Daumenabdruck“) veröffentlichte. Hier hatte Dr. John Evelyn Thorndyke seinen ersten Auftritt. Bis 1942 folgten 30 Romane und Storysammlungen.

In der Person des Dr. Thorndyke ließ Freeman seine naturwissenschaftliche Bildung einfließen, die er geschickt mit dem zeitgenössischen kriminalistischen Wissen verknüpfte. Seine betont sachlichen Schlussfolgerungen kann Thorndyke stets mit soliden Beweisen untermauern, die er sich in oft langwierigen und komplizierten Laborsitzungen (über die er sein Publikum ausgiebig informiert) forschend und ableitend verschafft hat. Angeblich hat Freeman jedes Experiment selbst durchgeführt, bevor er Thorndyke darüber berichten ließ.

Die späteren Thorndyke-Fälle wirken zunehmend formelhaft; die neuen Vertreter des Genres Kriminalromans ließen einen seiner Pioniere buchstäblich alt aussehen. Freeman konnte sich indes eine Nische sichern, die ihm ein treues Publikum und seinen Lebensunterhalt sicherte.

R. Austin Freeman starb am 28. September 1943 in seinem Haus in Gravesend, einer Hafenstadt in der Grafschaft Kent, wo er seit 1903 mit Gattin Annie und seinen beiden Söhnen lebte.

Taschenbuch: 356 Seiten
Originaltitel: The Eye of Osiris. A Detective Romance (London : Hodder & Stoughton 1911/New York : P. F. Collier & Son 1911 [unter dem Titel „The Vanishing Man”])
Übersetzung: Sonja Hauser
http://www.fischerverlage.de

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