Gene Wolfe – Endangered Species. Phantastische Erzählungen

Phantastische Erzählungen des Seltsamen und Wunderbaren

Diese Story-Sammlung ist eine Zusammenfassung von Gene Wolfes Produktion in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren (1968 bis 1988). Diese Zeitspanne macht sie mit über 500 Seiten ziemlich umfangreich und als Querschnitt bedeutsam. Aber immerhin finden sich hier einige Leckerbissen wie etwa die preisgekrönte Novelle „Silhouette“, die den Band abschließt.

Der Autor

Gene Wolfe ist einer der großen Stilisten der Science Fiction. Insbesondere seine Kurzgeschichten sind meisterlich feinsinnige Gratwanderungen zwischen Realität und Phantasie, die zum Nachdenken anregen. Zu seinen wichtigsten Story-Sammlungen gehören „The Island of Dr. Death and Other Stories“ (1980, siehe meinen Bericht) sowie „Endangered Species“ (1989). Und natürlich das bekannte „Book of Days“ (1981).

Seine wichtigsten SF-Romane gehören den drei Zyklen um die Sonne an – die neue, die lange und die kurze:

DAS BUCH DER NEUEN SONNE

1) Der Schatten des Folterers (siehe meinen Bericht)
2) Die Klaue des Schlichters
3) Das Schwert des Liktors
4) Die Zitadelle des Autarchen
5) Die Urth der Neuen Sonne

DAS BUCH DER LANGEN SONNE

1) Die Nachtseite der Langen Sonne (siehe meinen Bericht)
2) Der See der Langen Sonne
3) Der Caldé der Langen Sonne
4) Der Exodus aus der Langen Sonne

THE BOOK OF THE SHORT SUN (unübersetzt)
1) On Blue’s Waters
2) In Green’s Jungles
3) Return to the Whorl

Weitere SF-Romane:
1) Frees Vermächtnis
2) Operation Ares (siehe meinen Bericht)
3) Der fünfte Kopf des Zerberus (siehe meinen Bericht)

Wichtige Fantasyromane sind:

1) MYTHGARTHR 1: Der Ritter (dt. bei Klett-Cotta)
2) MYTHGARTHR 2: Der Zauberer (dt. bei Klett-Cotta)
3) Soldat des Nebels (dt. bei Heyne; Band 1 eines Zyklus’ aus bislang 3 Romanen)
4) Peace (1975, unübersetzt)

DIE ERZÄHLUNGEN

1) A Cabin on the Coast (1981)

Timothy Ryan Neal ist der Sohn eines amerikanischen Senators und steht kurz davor, Lissy zu heiraten, ohne seinen Vater davon zu benachrichtigen. Er hat für sich und Lissy einen Strandbungalow – sie nennt es eine „Hütte“ – an der Pazifikküste gemietet, um auszuspannen und der Liebe zu frönen. Er geht gerne schwimmen, sie aber nicht. Als er eines Tages morgens ein Bad nimmt, entdeckt er ein dunkles Schiff auf dem Meer. Im nächsten Moment ist es wie ein Spuk verschwunden.

Als er am nächsten Morgen erwacht, findet er von Lissy keine Spur, weder in der „Hütte“ noch im Meer oder auf dem Strand. Das Auto steht noch da, ihre Sachen sind noch da. Ein Besuch bei der Polizei ist erfolglos, doch gibt ihm der Cop eine Idee ein: Wie könnte Lissy unbemerkt das Bett verlassen haben, um dann bei einem Bad im Meer zu ertrinken? Vollkommen absurd.

Es bleibt ihm nur eine Wahl: dem unbekannten Spukschiff einen Besuch abzustatten. Dort wird er bereits von einer Art Klabautermann erwartet…

Mein Eindruck

Der Klabautermann hat Pläne mit Tim: Er soll ihm im Austausch für Lissy 20 Jahre lang dienen. Im Unterschied zu Lissy soll er sich danach an diese Zeit erinnern können. Die ganze Sache klingt zunächst ganz annehmbar, doch als Tim zurückkehrt muss er feststellen, worin der Haken bei diesem Deal besteht…

Die Story erinnert an eine amerikanisierte Version der alten irischen Sagen um den Leprechaun oder Klabautermann. Ich war aber auch eine SF-Erzählung aus den 1940er Jahren erinnert, die ich jetzt aber nicht benennen kann. Das Hauptthema ist in beiden Fällen der Dienst an einem Vertreter der Anderwelt, der mehr oder weniger fatale Auswirkungen auf das Leben des Dieners nach seiner Rückkehr hat. Die Pointe ist natürlich in den letzten Sätzen zu finden und versetzt der Hauptfigur wie auch dem nichts Böses ahnenden Leser einen Tiefschlag. Wunderbar.

Diese Story erschien erstmals 1981 in der deutschen Anthologie „Tor zu den Sternen“ von Peter Wilfert.

2) The Map (1984)

Es ist die Welt der müden alten Sonne, in der nun Severian als Autarch herrscht (siehe oben). Unter der Metropole Nessus fließt der Strom Gyoll hinunter zum Delta, wo die Ruinen versunkener Städte liegen soll. Ein Adliger, ein sogenannter Optimat, hat eine Karte gefunden und meint, sie weise ihm den Weg zu einem der Schätze aus alter Zeit.

Damit er zu diesem legendären Ort gelangen kann, heuert er einen Flussschiffer namens Eata an, der gerade klamm ist. Natürlich verrät er diesem sein Vorhaben nicht, aber durch Beobachtung und Schlussfolgerung kommt Eata bald dahinter, was dieser Typ namens „Simulatio“ vorhat. Er warnt ihn vor den Omophagen – Kannibalen, die auch Menschenfleisch nicht verschmähen. Doch der Optimat schlägt alle Warnungen in den Wind und begibt sich nur mit einem Speer bewaffnet in die Wildnis eines Insel. Er kommt nicht weit…

Mein Eindruck

Dies ist eine Story aus dem Universum des „Buchs der Neuen Sonne“, und für den Leser erweist es sich als überaus hilfreich, schon mal einen der Romane aus diesem Zyklus gelesen zu haben. Außerdem bringt die Kenntnis der lateinischen und altgriechischen Sprachen große Vorteile: Der Autor hat viele seiner neuerfundenen Wörter aus diesen Sprachen entliehen, so etwa die Währung für Münzen (Crisos = chrysos = Gold; Aes = Erz = billiges Eisen, usw.).

Durch diese wenigen Eigenheiten erzwingt die Erzählung geradezu den Eintritt in ihr eigenes Universum. Wer damit aber nichts anfangen kann, bleibt draußen. Die Aussage der Story ist scheinbar einfach, aber es findet ein Austausch von Sympathien und Interessen statt. Am Ende ist es nicht der Adlige, der die Oberhand behält, sondern der einfache Schiffer.

3) Kevin Malone (1980)

Ein Liebespaar aus mehr oder weniger gutem Hause ist von seinen jeweiligen Familien ausgestoßen worden – die klassische Romeo-und-Julia-Situation. Rasch stellt sich Geldnot ein, und unser Erzähler muss etwas unternehmen, bevor Marcella ihn verlässt. Auf eine Zeitungsannonce hin besuchen sie ein herrschaftliches Anwesen namens The Pines, wo sie einfach nur logieren sollen. Priest, der Butler, gibt nur wenig Auskunft, wer der mysteriöse Herr ist, dem er dient und der sie eingeladen hat.

Jeden Morgen finden sie jeweils 50 Dollar auf ihrem Nachttisch – eine ansehnliche Belohnung für die nicht gerade anstrengende Aufgabe, einfach nur im Haus zu wohnen und sich bedienen zu lassen. Die Sommertage vergehen in eitel Müßiggang, doch der Herbst setzt Marcella und unserem Chronisten zu. Nach einem Zechgelage fordern sie Priest ultimativ auf, dass sich sein Herr ihnen zeige.

Die Terrassentür öffnet sich, ein Mann erscheint und ein Windstoß bläst die Vorgänge ins Zimmer. Ein Sturm ist im Anzug. Der Mann nennt sich Kevin Malone, Herr über The Pines und ein Wirtschaftsimperium, kurzum: ein Selfmademan. Auf die Frage, welche Aufgabe seine Besucher hier erfüllen, erzählt er erst seine Lebensgeschichte, bevor er mit der Wahrheit herausrückt. Nun müssen sie leider gehen, denn durch die Kenntnis der Wahrheit können sie nicht mehr ihre Aufgabe erfüllen…

Mein Eindruck

„Kevin Malone“ erzählt die Geschichte von Adam und Eva in völlig neuem Gewand und mit einer witzigen Deutung ihrer Vertreibung. Das Paar ist dem Gott dieses Paradieses nur solange von Nutzen, wie es sich im Stande seiner Unschuld bzw. Unwissenheit befindet: Es sind Marionetten, die sich nur dann „natürlich“ verhalten können, solange sie nicht wissen, dass sie Marionetten sind.

Der Sündenfall ist unausweichlich, doch diesmal gibt es eine Abweichung. Während unser Erzähler das Anwesen verlassen muss, zieht Marcella es vor, hier als staubwischendes Hausmädchen den Rest ihrer Tage zu fristen. Sie scheut offenbar die Verantwortung, für sich selbst sorgen zu müssen. Lieber in Unfreiheit dienen, als in Freiheit zugrunde gehen. (Dazu hätte Miltons Luzifer einiges zu sagen.)

Doch wie steht es um die Freiheit und Unschuld dieses Kevin Malone, fragt unser Chronist. Kann es ein Mann wie er nicht ahnen, dass er besessen ist und selbst nur eine Rolle spielt?

4) The Dark of the June (1974)

Professor Harry Nailer ist Witwer und fürchtet, nach seiner Frau May nun auch seine erwachsene Tochter June zu verlieren. Mit ihren 23 Jahren läuft sie den ganzen Tag im Negligé herum und ist geschmückt mit Leuchtschmuck. Als er abends eine Abschiedsnachricht von ihr auf seinem Kopfkissen findet, macht er sich auf die Suche nach ihr. Die Cops weigern sich nämlich, nach einer Erwachsenen zu suchen.

Er fährt in die große Stadt, gerät an Zuhälter und dringt schließlich in das Haus ein, wo die Leute Abschied nehmen. Sie verwandeln sich in NINs, entkörperlichte Wesen, die geisterhaft umherschweben. Da er sich einmischt, muss er einen verdeckten Ermittler und noch einen Cop zusammenschlagen. Auf dem 3D-Vid hat er eine Botschaft von June erhalten: Sie sei zu Hause. Wird nun alles gut? Es sieht nicht so aus…

Mein Eindruck

Dies ist eine Geistergeschichte, mit dem kleinen Unterschied, dass es den Geistern nicht wie sonst üblich um Rache und Gerechtigkeit geht, sondern um das simple Aufgeben des lästigen Körpers. So als sei die körperliche Existenz zuviel der Verantwortung. Sie schließen sich der Bewegung „not in nature“ an, den NINs. Offenbar hat dies auch Nailers Gattin getan, nun will ihr die Tochter folgen. Harrys Suche nach ihr, der Kampf im Haus des Abschiednehmens – alles ist vergebens. Die Existenz ist ephemer geworden, und dafür eignen sich Elfen und Geister besser. Eine sehr traurige Erzählung.

5) The Death of Hyle (1974)

Dies ist die indirekte Fortsetzung von „The Dark of the June“. Harry Nailer wünscht sich, seiner Tochter June nachfolgen zu können, und begibt sich das Haus des Abschieds: Auch er will ein NIN werden. Tatsächlich klappt die Sache, doch bevor er sich verabschiedet, lernt er in Laurel Baker eine bemerkenswerte und vor allem schöne, liebenswerte Frau kennen. Ihr wichtigstes Kennzeichen neben einer Laterne: eine weiße Stirnlocke in ihrem sonst schwarzen Haar…

Mein Eindruck

Dies ist eine recht anspruchsvolle Fortsetzung – und hat ihrerseits eine Fortsetzung (oder zwei). Der Umstand, dass er nur noch ein Auge hat und dieses von einer schwarzen Kappe bedeckt, wird in der zweiten Fortsetzung („Thag“) bedeutsam.

6) From the Notebook of Dr. Stein (1974)

Die drei NINs verschlägt es aus dem Jahr 1997 zurück ins Jahr 1935, wo sie sich im Kopf der Opernsängerin Donna W. befinden. Donna befindet sich in der Praxis des titelgebenden Psychiaters Dr. Stein. Auf einmal redet sie mit anderen Stimmen, nämlich mit denen von Harry Nailer, June Nailer und Laurel Baker. Die drei NINs sind hierher gelangt, weil sie sich des Vehikels eines Thags bedienen, einer ephemeren Kreatur, die Energie saugt – und möglicherweise abgibt.

Leider glaubt Dr. Stein, der aus Deutschland eingewandert ist, es mit einem „Blutsauger“ zu tun zu haben und schlägt alle Warnungen und Proteste des Trios in den Wind, die Behandlung mit Elektroschicks würde sie alle zerstören…

Mein Eindruck

Die Reise der Geister geht weiter, und wir fragen uns allmählich, was dieses Thag eigentlich ist. Wenigstens ist mit June, Harry und Laurel so etwas wie eine Familie zusammengekommen, was zu Hoffnung Anlass gibt. Diese Hoffnungen werden durch den brutalen Eingriff Dr. Steins zunichtegemacht: Nach dem Motto „Klappe zu, Affe tot“ gibt auch das Gefäß des Geister-Quartetts den Löffel ab. Doch das bedeutet noch nicht das Ende der NINs…

7) Thag (1975)

Es sind wohl die letzten Tage in den Zeiten, als die Könige noch an die Götter des Nordens glauben, als Thag zurückkehrt – und wenig später die drei Passagier-NINs. Doch der Reihe nach…

Eines Morgens erwacht König Karl der Weise in seinem Bett, weil es wankt wie bei einem Erdbeben, und ein großer Lärm aus der Waffenkammer dringt. Außerdem fegt seine Gattin ins Schlafgemach und begehrt zu wissen: „Was sollen wir nur tun?!“ Die Ritter hätten sich bereits alle aus dem Staub gemacht, und sie sollten tunlichst ebenfalls verschwinden. Aber warum nur? Offenbar ist ein Ungeheuer mit dem neuen Zauberer ins Schloss eingedrungen.

Ein König kann auf vieles verzichten, aber weder auf sein Schloss noch auf seine Schatzkammer. Er unterwirft sich dem jungen Zauberer Eric und wird sein Diener, ebenso wie seine Gattin. Eric hat nämlich das unsichtbare Ungeheuer auf seiner Seite. Er nennt es Thag und lässt es in den tiefsten Kerkern des Schlosses hausen.

König Karl wartet auf bessere Zeiten, und die scheinen nach fünf Jahren von Erics Regentschaft mit dem Eintreffen von drei Fremden anzubrechen, die genauso aussehen wie die drei bekannten Götter Woden, der einäugige Obergott, Frigg, seine edle Gattin, und Freya, ihre goldenhaarige Tochter. Natürlich handelt es sich um die drei NINs Harry, June und Laurel, aber das binden sie weder Eric noch Karl auf die Nase. Das Schöne am Gottsein ist allerdings, dass man den Sterblichen einiges befehlen kann. So zwingen sie Erics Ungeheuer Thag, ihnen zu erscheinen – zu einem finalen Kampf…

Mein Eindruck

Diese Erzählung bildet den Abschluss der kleinen Reihe, die 1974/75 in dem Magazin „Continuum 1“ erschien. Die Reihe hat nichts mit Wolfes Horror-Roman „Peace“ zu tun, der erst im Mai 1975 veröffentlicht wurde, bereitet aber schon die Grundthemen „Leben nach dem Tod“, „Reisen als Geist“, Zeitreise und Auftritt als Gott vor. Außerdem erkennen sich die drei NINs als Figuren in einer Geschichte, was doch für Geister recht ungewöhnlich ist und der ganzen Story eine höchst ironische Wendung verleiht. Diese Story ist ein großer Scherz, mit dem uns der Autor unterhält.

8) The Nebraskan and the Nereid (1985)

Der Mann aus Lincoln, Nebraska, ist ein Sammler von Volkserzählungen, und auf einer griechischen Insel in Golf von Saros scheint er nicht nur fündig zu werden, sondern sogar legendäre Gestalten anzutreffen: die Nereiden. So werden seit alters die 50 nymphenhaften Töchter des Meereskönigs Nereus genannt, der wohl ein guter Bekannter von Poseidon war. Bei einem Strandbummel winkt ihm eine der Nymphen zu – der Doch traut seinen Augen nicht.

Dr. Thoe Papamarkos sieht ganz und gar nicht wie eine Nymphe aus, mit ihrem grauen Dutt und der Wasserflasche an der Hüfte. Ihr Englisch ist auch nicht das Beste. Die Archäologin sucht das legendäre Saros, das schon zu Perikles‘ Zeit sagenumwoben war. Am nächsten Tag bedankt sie sich für seinen „Hinweis“: In der Bucht weit draußen hätten ihre Helfer eine Vase gefunden, die einen Meeresgott zeigt. Diese Vase scheint unseren Ami geradezu zu verzaubern.

Denn am nächsten Tag folgt er selbst einem Tipp der Archäologin und taucht in jene Grotten, die nur durch Tauchen zugänglich sind. Hier begegnet er einer echten Nymphe, wie ihm scheint, und eins führt zum anderen. Doch mit den Folgen dieser Liebschaft hat er nicht gerechnet…

Mein Eindruck

Jaja, Amis im Ausland, noch dazu in der Ägäis, da kann alles Mögliche passieren. Das wusste schon Henry Miller, der darüber das Buch „Der Koloss von Maroussi“ schrieb. Gene Wolfe macht daraus einen unnachahmlichen Tagtraum, der nicht nur eine, sondern gleich zwei Nymphen beinhaltet. Die Pointe ist vom Feinsten und wunderbar augenzwinkernd.

9) In the House of Gingerbread (1987)

Es klingelt an der Tür. Tina Heim eilt aus der Küche, wo sie Ingwerbrotmännchen gebacken hat, um zu öffnen. Ein Polizist, der sich als Richard Price ausweist, begehrt Einlass. Nachdem sie einmal „ja“ gesagt hat, trabt er gleich herein und latscht vor bis zur Küche, wo er sich einen Stuhl nimmt und anfängt, seltsame Fragen zu stellen. Tina wird ganz anders zumute, und als er nach dem armen verstorbenen Jerry, ihrem Mann, fragt, kommen ihr die Tränen. Und dann fragt er auch noch nach Alan, ihrem kleinen Sohn. Es ist genug, um eine Frau zum Heulen zu bringen, nicht wahr? Aber alles, was Price will, ist die Unterzeichnung einer Erlaubnis, ihren Mann exhumieren zu dürfen, um die wahre Todesursache – es sollte doch Lungenkrebs sein, nicht wahr? – festzustellen. Schließlich geht es um viel Geld von der Lebensversicherung.

Nachdem er gegangen ist und ihre Stiefkinder – aus Jerrys erster Ehe – Henry und Gail von der Schule zurückgekehrt sind, wird Tina gefesselt und geknebelt. Auch die zwei Stiefkinder sind über die Lebensversicherung im Bilde, und über die für den armen kleinen Alan und für die arme kleine Tina. Eine Viertelmillion Dollar kann einen jungen Menschen ganz schön motivieren, Dinge zu tun, die andere nicht tun würden. Sie stecken Tinas Kopf in den Mikrowellenherd – doch das Ergebnis ist wenig befriedigend. Das Haus beginnt zu brennen…

Mein Eindruck

Es ist offensichtlich, welches Grimm’sche Märchen hier verarbeitet wird, und selbst Tina sagt es: Hänsel und Gretel alias Henry und Gail. Wer wird die Oberhand behalten? Tina, die angebliche Hexe, hat Hänsel gemästet – und möglicherweise Alan vergiftet. Werden sie als nächste dran sein? Doch sie kommen Tina zuvor – mit einem unerwarteten Resultat. Und dann ist da noch der Geist eines Kindes auf dem Dachboden, oder war es nur eine Illusion? Lieutenant Price hat jedenfalls eine Menge Fragen. Und dabei hat er noch nicht mal das Haus und den Ingwerkuchenmann gefragt…

10) The Headless Man (1972)

Der namenlose Erzähler hat keinen Kopf, wurde möglicherweise so geboren. Kein Grund zur Panik! Schon Plinius der Ältere und vielleicht sogar Marco Polo berichten von kopflosen Menschen, deren Gesichter sich auf ihren Oberkörper und Bauch befinden. Das ist auch bei unserem Erzähler der Fall. Nachdem seine Mutter sich mit dieser ungewöhnlichen Frucht ihres Leibes abgefunden hatten, versah sie ihn mit dem Kopf einer gut gearbeiteten Puppe. Und vermittels einer Verbindung zwischen Lippe und Puppenkopf ist er in der Lage, mit dem Kopf zu nicken oder ihn verneinend seitwärts zu bewegen. So ist das Leben zwar nicht einfach, aber wenn man recht zurückgezogen aufwächst, ist es erträglich.

Als junger Erwachsener macht er eine überwältigende Entdeckung, eigentlich sogar zwei. Seine neue Freundin will sich wie er auch nur im Dunkeln ausziehen. Sie deutet an, sie sei wie er deformiert. Wenn er mal genau hinschaue, könne er in ihrem Nabel ein winziges Gesicht gesehen. Echt wahr? Er entzündet ein Streichholz und hält es vor ihren Bauch…

Mein Eindruck

Eine wunderschöne Geschichte über einen Andersartigen, der dennoch oder gerade deswegen die Erfüllung seines Lebens findet: eine Gleichartige. Und es kommt ihm ein verwegener Gedanke: Was, wenn alle anderen wie er wären, aber es niemals zugäben?

11) The Last Thrilling Wonder Story (1982)

Brick Bronson ist zwar Ire, aber ein Mann von zwei Meter zwanzig mit Händen wie „Gehwegbrecher“, wie er sich ausdrückt. Na schön, meint Gene Wolfe, sein Schöpfer. Man kann nicht alles perfekt haben. Er sagt Bronson, was er zu tun habe: zu dem genialen Dr. Charles Crane gehen, einen Anschlag vereiteln, dessen wunderschöne Tochter für sich gewinnen, doch just als sie einander küssen wollen, kommen die Aliens und entführen sie nach Rigel. Abenteuer und Kämpfe folgen, doch Bronson werde Carol retten. Äh, und vermutlich auch die Erde.

So weit, so schön. Allerdings erlebt Bronson die Geschichte ein wenig anders. Kaum hat er in St. Michael eine Kerze angezündet und zur Jungfrau Maria gebetet, gibt es in San Franco ein mordsmäßiges Erdbeben, das die Kirche in sich zusammensinken lässt. Als er in den Bergen vor dem Haus des Forschers eintrifft, erwartet ihn bereits eine gehörnte Gestalt. Dieser Bursche nennt sich Lucifer Satanus und bietet ihm Zusammenarbeit an. Bronson lehnt dankend ab, denn er hofft, Dr. Cranes Serum werde zahlreiche Menschenleben retten – und er selbst sieht sich auf der Seite des Guten.

Andere Menschen sind jedoch Dr. Cranes vorhaben, das Serum kostenlos zu verteilen, nicht so wohlgesonnen, sondern wollen es lieber profitabel verkaufen. Sie haben den Attentäter John Slade geschickt. Als Bronson abends mit Carol Crane turtelt, dröhnt ein Schuss durchs Haus: Dr. Crane hält eine Schrotflinte in der Hand, vor ihm windet sich ein sterbender Mann, der eine Walther PPK Pistole hält. Bronson überredet Crane, die Flinte beiseite zu legen. Das gelingt, doch als Crane zurückkehrt, ist er zugedröhnt. Dem am Boden liegenden Mann gelingt es, Bronson die Pistole zu entwenden und auf den Doktor zu feuern…

Mein Eindruck

Der Plot ist reine Pulp Fiction und könnte aus den 1920er oder 1930er Jahren stammen. Die Umsetzung ist indes ganz modern. Der Held weiß, dass er nur eine Figur in einer Groschen-Story ist, verhält sich aber trotzdem regelkonform. Er hadert mit seinem Schöpfer, einem Autor namens Gene Wolfe, der sich aber zu keinen Kompromissen bereitfindet. Es gibt diverse Ungereimtheiten im Plot, so etwa die, dass die Erpresserbriefe an Dr. Crane von ihm selbst verfasst wurden. Es gibt einige Hirnverrenkungen, um diesen Widerspruch zu erklären.

Außerdem mutet es recht modern an, dass die Tochter keineswegs dem Prinzessinnen-Klischee entspricht: Sie würde ihren Vater lieber tot sehen. Der Grund: Er hat sie seit Jahren sexuell missbraucht. Das scheint aber keinen zu schockieren oder zu interessieren. Wie in einem Groschenroman bzw. Varieté-Theater treten auch die beiden Krankenwagenfahrer ein, als hätten sie keine Ahnung, was sie tun. Und der Attentäter Slade, tja, der kommt wider Erwarten mit dem Leben davon. Ist das alles postmodern? Auf jeden Fall regt es den Leser zum Nachdenken, ja, zum Überdenken seiner Erwartungen an.

12) House of Ancestors (1968)

Joe und seine Freundin Bonnie fahren vom Vorort Yonkers zur New Yorker Weltausstellung des Jahres 1991, aber am Sonntagnachmittag, BEVOR die Öffentlichkeit auf die Attraktionen losgelassen wird. Joes Bruder Chuck gehört zum Marketingteam der Ausstellungsfirma und führt das Freundespaar zu einem Ingenieur. Dieser soll ihnen erklären, ob die Hauptattraktion, DAS DING, sicher und harmlos für eine Schwangere wie Bonnie und einen am Herzen verletzten Arbeiter wie Joe ist.

DAS DING ist die überdimensionale Nachbildung eines DNS-Doppelhelixmoleküls. Da jedes Atom drei Meter breit ist, ragt DAS DING höher als das Empire State Building in den Himmel. Zwar kann der Ingenieur nicht sagen, welche Zelleigenschaften dieses spezielle DNS-Molekül kodiert (Joe vermutet, es könne sich um eine Gehirnzelle handeln), versichert aber, der Aufstieg mithilfe der Rolltreppen sei absolut sicher. Bonnie atmet auf.

Man findet die Eingangstür versperrt vor und sucht einen anderen Zugang. Aber die anderen sind schneller, als es Joe lieb ist: Er probiert noch einmal, die Eingangstür audzuziehen, und mit den Bärenkräften eines Arbeiters gelingt ihm dies auch. In der ersten Kammer begrüßt ihn ein Roboter, doch der will zwei Minuten auf weitere Gäste warten. Der ungeduldige Joe stürmt weiter, die Rolltreppe zur nächsten Kammer hoch. Ein Roboter empfängt ihn, der sich Pater Gregor Mendel nennt: Er hat die Vererbungslehre entdeckt. Eine junge Frau taucht auf, die seltsamerweise den Namen von Joes Großmutter trägt – und einen Minirock. In der nächsten Kammer stoßen sie auf einen Roboter, der sich Lamarck nennt, aber eine abgerissene Hand aufweist. Joe erinnert sich, einen Mann davoneilen gesehen zu haben. Hat der die Hand abgerissen?

Joe und Mary stürmen an dem auf dem Boden liegenden „Darwin“-Roboter vorbei zur nächsten Kammer. Da saust ein Metallgeschoss an Joe vorbei. Mann hat es auf ihn abgesehen. Doch es ist alles noch viel schlimmer: Eine Heerschar von Frauen folgt ihm auf seinem Weg zur finalen Konfrontation – aber mit wem?

Mein Eindruck

Die Frauen sind natürlich ebenfalls Roboter. Sie wurden von der großen Zentraleinheit dahingehend programmiert, dem abgetasteten Joe zu folgen, um seine weiblichen Vorfahren zu verkörpern. Das ist mal eine ganz andere Sichtweise auf den üblichen Stammbaum, der typischerweise vor allem die männlichen Mitglieder der Genlinie herausstellt. Insofern bietet diese Novelle einen alternativen Blick auf die Lehre der Vererbung, wie sie Mendel, Lamarck und Darwin – nicht nur hier – verkörpern.

Interessant ist auch die Idee des DNS-Scannens beim Betreten eines Gebäudes, in dem ein Zentralcomputer alle Roboter regiert. Je nachdem, welcher DNS-Träger – Mensch, Tier oder Pflanze – gescannt wird, so werden die Roboter per Software-Aktualisierung auf die jeweilige DNS eingestellt. Nur so ist es möglich, dass Joe nicht nur dem Mörder Darwins begegnet, sondern auch seinen vielen Vorfahrinnen, zumindest virtuell und robotisch. Die Pointe darf hier natürlich nicht verraten werden, aber auf einmal sieht Joe den Nagel in seinem Herzen sowie Bonnies Schwangerschaft mit ganz neuen Augen.

13) Our Neighbour by David Copperfield (1978)

(Ebene 1) Der Chronist ist eine Art Parlamentreporter. Er lebt in einem netten Haus in einer netten Gegend und bewundert das große, aber weniger nette Haus auf der anderen Straßenseite. Eines Tages bemerkt er einen jungen Mann, der das andere Haus von seinem eigenen Gartenzaun aus betrachtet, und bittet ihn heraus. Der junge Herr stellt sich Schreiber oder Anwalt vor und nennt sich Tom Tipsing.

(Ebene 2) Tom Tipsing hat von der alten Mrs. Nedles erhalten, sich nach dem Mann zu erkundigen, der auf der anderen Straßenseite in dem großen Haus lebt: Dr. McApple. Denn ihre Tochter Jenny wurde von diesem Herrn gegen ihren Willen „behandelt“, so dass sie zwei Wochen lang verändert war.

(Ebene 3) Tom gelingt es, durch sein Beobachten den Beobachteten auf sich aufmerksam zu machen und einen unverhofften Auftrag zu ergattern: Er soll für Dr. McApple einen bedürftigen Menschen finden und zu ihm bringen. Diesen kleinen Dienst lässt der Doktor ein hübsches Sümmchen kosten, und so bringt Tom den ersten bedürftigen zu ihm, den er finden kann: einen Vogelmann.

(Ebene 4) Dr. McApple lässt den Vogelverkäufer in seine Küche bringen, damit er eine Mahlzeit bekommt, bezahlt Tom und begibt sich mit einer Reihe von Geschäftsleuten in seinen Salon. Tom denkt nicht ans Heimgehen, sondern versteckt sich in der Garderobe McApples, um zu lauschen. Der Doktor hält einen Vortrag über die Vorzüge der Schädelkunde, des Mesmerismus und des animalischen Magnetismus‘ (heute Hypnose genannt). Dann lässt er den Vogelmann kommen und versetzt ihn in Trance. Die Demonstration verblüfft die Zuschauer.

(Ebene 5) Was der Vogelmann auf des Doktors Bitte hin erzählt, ist recht banal: Er liebte seine Mutter, lernte das Fangen von Vögeln mit der Leimrute, verlor seine Mutter (das falsche Haus?), ging zur Kriegsmarine, verlor durch eine unbefestigte Kanone sein Bein und wurde wieder Vogelfänger, diesmal mit Holzbein. Der Doktor versetzt den Mann in den Geisteszustand eines kleinen Jungen, der nach seiner Mama ruft.

(Ebene 3) Tom denkt nicht daran, vor den abreisenden Geschäftsleuten und dem Doktor zu kneifen. Er geleitet sie hinaus, als wäre er ein Diener und erklärt dem Doktor sein Tun. Dann fragt er den Mediziner seinerseits, was das alles sollte und ob er sich an die junge Jenny erinnere. Der Arzt versetzt, er veranstalte solche mentalen Experimente, um eine ganz besondere Eigenschaft zu lokalisieren, auf die Menschen im allgemeinen sehr stolz sind, besonders die reichen. „Und welche wäre das“, fragt Tom. „Mitleid“, sagt der Arzt. Aber es sei ihm nie gelungen, es zu orten.

(Ebene 1) Tom verabschiedet sich von Dr. McApple und erzählt dem Chronisten und seiner „lieben Frau Dora“ seine bemerkenswerte Geschichte.

Mein Eindruck

Obwohl der Text genau im Tonfall eines Charles Dickens gehalten (wie ja der Verweis auf D. Copperfield nahelegt), so ist doch die an Ebenen reiche Erzählstruktur etwas raffinierter als alles, was ich je bei Dickens gelesen habe (was zugegebenermaßen nicht allzu viel war). Der Akt des Beobachtens und Belauschens ist genauso wichtig wie der der Hypnose, so als wäre dies ein und dasselbe: Das Erzählen hypnotisiert.

Ironisch zu sehen ist allerdings die Verwendung von Phrenologie, für die v.a. der Name „Lavater“ steht – und die im 19. Jahrhundert bereits völlig überholt und aus der Mode ist. Dafür kam, wie jeder Poe-Leser weiß, der „Mesmerismus“ auf, so genannt nach dem frz. Arzt Mesmer (mehr dazu in der Wikipedia). Heute hat sich der Begriff „Hypnose“ durchgesetzt. Auch dieses Phänomen wirkt antiquiert, passt aber bestens zum umständlichen Dickens-Stil, der sich durch die vielen Ebenen selbst als Hörensagen ad absurdum führt.

Aber die Story hat auch eine Aussage: Die Suche nach dem Sitz des Mitleids verläuft erfolglos, egal welche raffinierten, neumodischen Methoden der Doktor anwendet. Letzten Endes ist dies die gleiche Aussage wie in den meisten von Dickens‘ Romanen: Die Welt ist ungerecht, und wer es in ihr zu etwas bringen will oder gar Gerechtigkeit anstrebt, der muss sich durchbeißen oder ganz viel Glück haben.

14) When I Was Ming the Merciless (1975)

Ein Sozialexperiment an einer amerikanischen Universität teilt die Kommilitonen in drei Gruppen ein, die einander bis aufs Blut bekämpfen sollen: die Gelben, die Grünen und die Blauen. Der Student, der jetzt seine Aussage vor dem Untersuchungsausschuss macht, nennt sich „Ming the Merciless“, denn er schwang sich zum Kaiser der Gelben auf. Er hat Politikwissenschaft studiert, weshalb es für ihn etwas ganz Natürliches war, dass sich de Kämpfe zwischen den Gruppen entwickelten. Auch die Frauen mussten kämpfen, sonst wurden sie vergewaltigt.

Dass er am Schluss eine der Frauen wegen Insubordination von seiner Freundin hinrichten lassen musste, war absolut notwendig. Schließlich kann ein Kaiser mit solch einem Namen nicht an der Macht bleiben, wenn man ihn verhöhnt und verspottet. Leider kann das mal wieder keiner, der außerhalb des Experiments stand, verstehen. War ja klar.

Mein Eindruck

Offenbar bezieht sich diese Erzählung auf das reale historische Experiment, das ein Professor an der Universität Berkeley durchführen ließ und das zeigen sollte, wie schnell sich Repression und Unterwerfung in einer oder mehreren Menschengruppen ausprägen und durchsetzen. Er musste das Experiment, das u.a. mit Moritz Bleibtreu verfilmt wurde, schließlich abbrechen.

Hier setzt die Erzählung an und spinnt die Entwicklung konsequent weiter. Stellenweise erinnern die Handlungen, wie etwa die Errichtung eines Götzenbildes, an William Goldings Roman „Herr der Fliegen“. Der Name „Ming the Merciless“ entstammt den Pulp-Fiction-Filmen um den Helden Flash Gordon, die in den dreißiger Jahren gedreht wurden und u.a. George Lucas zu STAR WARS inspirierten. Flash Gordon musste eine wehrlose Schönheit vor dem grausamen Sternenkaiser Ming befreien. Durch den Bezug darauf treibt der Autor einerseits seinen Spaß, in der Tiefe aber zeigt er auf, wie der alte Adam noch heute das Zepter schwingt: in den Genen und Hormonen.

15) The God and His Man (1980)

Und es begab sich, dass der Gott Isid mit seinem Sternenschiff zur Welt Zed kam und sah, dass hier Männer und Frauen lebten – wenn auch nicht nach seinem Gesetz. Also sandte er seinen Menschen von Urth aus, um die Menschen zu prüfen, welche die besten seien. Isid gab seinem Spion den Tarnmantel Tarnung und das Schwert Maser mit und setzte ihn auf einem heißen Hochland ab.

Es dauert nicht allzu lange, bis es der Mann von Urth geschafft hat, alle Gruppen auf der Ebene mit seinen Söldnern und Banditen zu besiegen und eine Trutzburg zu errichten. Der Gott schickt ihn ins heiße Sumpfland, wo Nebel voller Giftpfeile lauern. Hier erweist sich die Tarnung als sehr nützlich. Bald schon ist der Mann von Urth König der Könige. Da schickt ihn der Gott weiter ins Land der Kälte.

Hier gibt es weder Freiheit noch Ehre, sondern sehr viele Gesetze. Als er beginnt, an Wegkreuzungen von Freiheit und Ehre zu predigen, will man ihn schleunigst packen und aus dem Weg schaffen, doch Tarnung und Maser sorgen immer dafür, dass er dem Kerker entgeht. Schließlich holt ihn der Gott auf sein Schiff, damit der Mann von Urth über die Menschen von Zed urteile. Als der Gott sagt, es sei besser, dass ein Mensch sterbe, als dass er in Sklaverei lebe, erschlägt ihn der Mann, denn das ist es ja, was ihm Isid empfahl. Und wenn er nicht gestorben, herrscht der Urth-Mann noch heute über Zed.

Mein Eindruck

Die im hohen, aber einfachen Ton von Bibellegenden vorgetragene Erzählung zeigt die Relativität dessen auf, was einen Gott ausmacht. Er ist sterblich und kann von einem Menschen erschlagen werden. Er ist dumm, weil er den Menschen herausfordert, den er in Sklaverei gehalten hat. All die Lektionen, die sein Mensch gelernt hat, missachtet er.

Der Mensch von Urth (in der Übersetzung „Ert“) ähnelt weder Moses noch Noah oder einem anderen Propheten, sondern eher einem Konquistador und Selfmademan à la Francisco Pizarro, einem ehemaligen Schweinehirten. Seinen Aufstieg zu verfolgen ist unterhaltsam – bis er dann wieder „gen Himmel fährt“, um woanders abgesetzt zu werden. Er ist auch nicht wie Jehoschua von Nazareth, obwohl er wie dieser an Orten von hohen Werten predigt. Immer wieder werden Klischees – etwa über Götter – durch Ironie unterminiert, und das macht auch diese Geschichte auf witzige Weise unterhaltsam.

16) The Cat (1983)

Der Chronist ist der Vorsteher der Dienerschaft im ausgedehnten Palast des Autarchen Severian, genauer gesagt aber im Hypogäum Atropaikum: die Sterbestation (von „Atropos“, der Schicksalsgöttin, die den Lebensfaden abschneidet). Er erzählt, was hier einmal der Kastellanin Sancha widerfahren sein soll, als sie dem alten Vater Inire begegnete. Inire war ein Erfinder und liebte es, kleine Mädchen wie Sancha mit seinen Vorrichtungen und Puppen zu verblüffen. Doch einmal ging er zu weit: Ohne das Mädchen um Erlaubnis zu bitten, warf er Sanchas Kätzchen durch den Ring von Spiegeln, worauf es darin verschwand.

Doch nicht auf Nimmerwiedersehen. Rund 50 Jahre später traf Sancha nach einem mehr oder weniger erfüllten Leben im Hypogäum ein, um hier ihre letzten Jahre zu verbringen, bevor der Tod sie von der Last ihrer leiblichen Hülle erlöste. Doch auf ihrem Sterbebett stieß sie einen Schrei aus und ein Pfotenabdruck war auf dem Kopfbrett ihres Bettes zu sehen. Doch dies bleibt nicht das einzige Anzeichen des geisterhaften Kätzchens…

Mein Eindruck

Im Programmheft der World Fantasy Convention 1983 erstmals abgedruckt, entführt die kleine Gruselgeschichte den Leser in die Welt der Neuen Sonne, wo der junge Folterer Severian seine sonderbaren Abenteuer erlebt. Würde man die Story als Science Fiction lesen, dann käme man unweigerlich auf den Gedanken an Schrödingers Katze. Dieses quantenmechanische Gleichnis beschreibt das Phänomen, dass es der Beobachter ist, der durch seine Observation über den Zustand eines Objekts entscheidet – in diesem Fall, ob das Kätzchen in der Box tot ist oder lebt.

17) War Beneath the Tree (Dt. als „Krieg unterm Weihnachtsbaum“) (1979)

Der kleine Robin hat von seiner Mutter eine ganze Menge robotische Spielzeugfiguren geschenkt bekommen. Bär ist ihm der liebste, versteht sich. Aber in der Nacht von Heiligabend, wenn Robin schläft, ereignet sich unterm Weihnachtsbaum Schreckliches. Die alten Spielzeuge warten gespannt auf den Augenblick, in dem Robins Mutter die NEUEN Spielzeugfiguren aufstellt. Dann stürzen sich die alten auf die neuen Spielzeuge. Leider verlieren sie und landen im Kaminfeuer.

Am nächsten Morgen findet Robin die neuen Spielzeuge. Nur der Ureinwohner scheint beschädigt zu sein. Kann man umtauschen, meint seine Mami. Dann enthüllt sie ihm ein Geheimnis. Nicht nur Spielzeuge werden neu gebracht, sondern auch menschliche Nachkommen. Da guckt Robin sie ganz erschrocken an, statt sich zu freuen…

Mein Eindruck

Eine ebenso geniale wie böse Story. Vorbei ist’s mit dem Idyll unterm Christbaum, wenn die alten Spielzeugfiguren davongefegt werden. Und vorbei ist’s auch mit Robins Glauben, er sei der kleine und einzige Prinz seiner Mutter. Er braucht nur an das Schicksal der alten Spielzeuge zu denken und weiß Bescheid, was ihm blühen wird, wenn Mami eine neue Generation zur Welt bringen wird. Dann winkt ihm das gleiche Schicksal wie seinen alten Spielkameraden. Oder etwa nicht?

18) Eyebem (1970)

Eyebem ist ein Android, das heißt ein Roboter in Menschengestalt. Menschen merken gleich, dass er eine Maschine ist, und Maschinen, dass er ein Android ist. Er wuchs in einer Krippe für Androiden auf und erhielt eine Ausbildung, die ihn auf seine Arbeit vorbereitet: als Ranger im hohen Norden zu arbeiten. Eines Tages landet er mit der Passagierrakete am Rande der Arktis und wird von Mark abgeholt. Anders als erhofft entpuppt sich Mark als Mensch.

Der Chef der Rangerstation ist ein Kumpel: ein alter Computer mit Androidenschaltkreisen. Eyebem fühlt sich gleich wohler. Aber der Winter wird bald hereinbrechen, und er muss mit Mark auf die erste Patrouille. Bald entdecken sie Bärenspuren im Uferlehm, dabei müssten die Bären schon im Winterschlaf sein. Als der erste Schneesturm hereinbricht, gehen Eyebem und Mark in Deckung. Bei dritten Schneesturm bricht die Turbine des Schnee-Jeeps zusammen: Sie sitzen fest. Bis ein Suchtrupp auftaucht, können Wochen vergehen.

In dieser Notlage entdeckt Eyebem die Ungerechtigkeit in seiner Existenz, und wohl aus Angst vor dem Ende schreit er Mark an, der gerade eine erlegte Robbe verspeist. „Wir Androiden waren dazu ausersehen, euch unzulängliche Geschöpfe abzulösen, aber jetzt schau mich an: Ich werde meine körperlichen und geistigen Aktivitäten herunterfahren müssen. Wirf mich noch nicht zum alten Eisen, Mark!“ Der Mensch futtert weiter Seehund und verspricht, Eyebem nicht zu verschrotten. Jedenfalls nicht gleich…

Mein Eindruck

Es ist eine schön existentialistische Geschichte, die Wolfe schon 1970 vorgelegt hat. Der Leser findet Eyebem, den Chronisten, schnell sympathisch: ein junger, dynamischer Android voller Hoffnung. Die harsche Wirklichkeit führt Eyebem vor Augen, wie unzulänglich er auf seine Aufgabe vorbereitet worden ist, dabei hielt er sich bereits für die „überlegene Rasse“, bereit, die Menschen abzulösen.

Doch es gibt eine Macht, der sowohl Menschen wie auch Androiden gehorchen müssen, wollen sie überleben: die Natur. Die Bären wissen, wann sie in Winterschlaf gehen müssen, bevor die ersten Schneestürme über die Tundra fegen. Ironischerweise muss es ihnen ausgerechnet der vermenschlichte Roboter nachmachen. Und er weiß nicht, ob er aus diesem Schlaf wieder erwachen wird.

19) The HORARS of War (1970)

Der Krieg im Dschungel ist die Hölle und daher mit hohen menschlichen Verlusten verbunden. Daher geht das US-Kriegsministerium dazu über, Androiden einzusetzen, sogenannte HORARS: „Homolog Organisms (Army Replacement Simulations)“. Alle sind durchnummeriert, und als ein Embedded-Reporter an den Kampfhandlungen teilnimmt, bekommt er zur Tarnung die Nummer 2910. Er freundet sich mit seinen nichtmenschlichen Kameraden an. Sein Privileg: Er darf sogar die Haubitze „Pinocchio“ befehligen und, als er verwundet wird, als Fahrzeug benutzen. Auch die Haubitze verfügt über Intelligenz.

Als der Befehlsstand droht, vom Feind überrannt zu werden, wandelt sich der befehlshabende Offizier Brenner zu einem Defätisten: Da der Feind zahlenmäßig überlegen zu sein scheint – nach Feindinformationen! -, will er die weiße Fahne schwenken. Doch 2910 hat anderes im Sinn: Er will seinen Kameraden einen ehrenvollen Tod verschaffen – und tötet Brenner mit seinem Kampfmesser. Der Artikel in der Armee-Zeitschrift vermeldet jedoch seinen späteren Tod – unter den Bajonetten des Feindes. Eine Vertuschung der Tatsache, dass der Offizier Brenner von einem seiner eigenen Männer getötet wurde, als er sich ergeben wollte…

Mein Eindruck

Philip K. Dick würde jetzt die entscheidende Frage stellen: Ist Reporter 2910 als Mensch zu bezeichnen oder als Android? In der Tat ist diese Frage Thema des letzten Dialogs mit Brenner vor dessen Tötung durch 2910. Brenner zeigt 2910 das Metall, das unter seiner Beinwunde sichtbar ist. Aber 2910 erinnert sich an eine Beinprothese aus Metall, die ein verletzter Football-Spieler bekommen hatte. Dieses Rätsel bleibt also ungelöst.

Dafür wird ziemlich deutlich, dass der Einsatz intelligenter Waffen wie „Pinocchio“ und nichtmenschlicher Soldaten (HORARS) den Krieg zu einer idiotischen Farce verkommen lässt. Sämtliche Ideale und moralischen Grundsätze werden durch die Tatsache ad absurdum geführt, dass alle Kämpfer ersetzbar sind und nie begraben oder gewürdigt werden. Reporter 2910 hat für sie umsonst eine Lanze gebrochen, scheint es.

20) The Detective of Dreams (1980)

Der Detektiv wird vom Geheimdienstchef eines Alpenlandes engagiert, um den Traummeister zu finden und dingfest zu machen, der dort die Bevölkerung heimsucht. Da der Lohn in einem erklecklichen Sümmchen besteht, nimmt der Detektiv den Auftrag an.

Das mittelalterlich anmutende Alpenland wird von Königinregentin beherrscht, der ihrerseits Grafen und Barone gehorchen. Die Hauptstadt ist eine Kombination aus Mittelalter und Neuzeit. Bemerkenswert findet der Detektiv, dass die Hauptstraße die einzige Straße ist, durch die eine Kutsche passt. Hier fahren der Graf und der Graf zu Festen und dergleichen.

Sowohl eine junge Kleiderverkäuferin als ein Bankdirektor haben Träume, die am gleichen Schauplatz stattfinden, einem Schloss mit einem großen Garten und zahlreichen Bediensteten. Hier herrscht der Traummeister mit Angst und Schuld, doch wenn sich der Beträumte störrisch zeigt, führt er ihn einer Tür zu, hinter der der geschuppte Arm eines Reptils sichtbar wird. Der Traum, den die Gräfin immer wieder hat, ist völlig anders. Es ist der Traummeister, der vor einem Erschießungskommando steht, das nur auf den Befehl des Grafen wartet. Doch die Identitäten sind völlig vertauscht, so dass sie versucht, die Erschießung aufzuhalten – vergebens. Am Ende sterben sowohl der Traummeister als auch der Graf. Wie kann das sein? Ist das ein böses Omen?

Trotz dieses Rätsels zeigt sich der Detektiv zuversichtlich, des Rätsels Lösung bald zu finden. Er verbindet die Wege, auf denen die Träumer wandelten, als sie den Traummeister sahen, und stößt auf die einzig mögliche Kreuzung. Hier stellt er sich auf, um zu beobachten. Schon nach einer Stunde hat er das bestimmte Gefühl, seinerseits beobachtet zu werden. Kein beobachtendes Augenpaar ist zu denken. Er wendet sich schließlich um und erblickt IHN…

Mein Eindruck

Auch dies ist wieder eine Parodie, diesmal auf die Detektiverzählungen des 19. Jahrhunderts, angefangen bei Poes Auguste Dupin über Sherlock Holmes zu Emile Gaboriaus Inspektor Lecoq. Am Schauplatz kennt man die Traumdeutung eines gewissen Dr. Freud aus Wien, duldet aber eine Regentin auf dem Thron. Aus Gründen der Diskretion sind fast alle Namen am „Tatort“ nur als Initialen wiedergegeben – sehr antiquiert. Die Auflösung des „Falls“ gibt dem Detektiv Grund zum Lachen, uns aber bereitet sie Kopfzerbrechen – sofern man kein Katholik ist.

Von höchstem Interesse ist natürlich der Inhalt der Träume. Sie bilden eine verschlüsselte Sprache, eine zweite Bedeutungsebene, ähnlich wie in den Geistergeschichten über „Aylmer Vance“ (Gruselkabinett) und andere Ghostbuster. Die junge Kleiderverkäuferin erinnert darin an die Figur des Aschenputtels: eine arme Bürgerliche unter reichen Adligen. Sie fühlt sich schuldig. Ebenso schuldig fühlt sich Herr R., der Bankdirektor. Seine Schuld ist finanzieller Art. Die der Gräfin bezieht sich auf das höchste Gut: Leben. Alle versagen, so dass ihre Träume sie quälen. Was hätte Freud wohl daraus gemacht? Gut, dass es einen ganz realen Traummeister gibt! Um wen es sich handelt, darf hier nicht verraten werden.

21) Peritonitis (1973)

Graulocke, der letzte Älteste vom Volk des Nackens, erzählt die Geschichte der Welt, die wie ein Menschenkörper geformt ist. Vier Zeitalter konnte das Volk prosperieren, ja, die Neuen Berge wuchsen und verschwanden, schließlich kam es zu einem Bürgerkrieg. Die Feinde leugneten die Existenz Gottes. Nur so konnte es geschehen, dass Singing, die schöne Frau von Tiefschürfer, von den Wesen aus der Tiefe des Mundes geraubt wurde. Er wurde zum Helden, als er sich in die Tiefe wagte und dort das Volk der Tiefe überredete, sie ihm wiederzugeben, damit sie mit ihm zurückkehrte.

Doch heute, so endet Graulocke, wehen faulige Winde und in den Landen gehen Ghule um. Er schickt das Volk fort, auf dass es sich über ein anderes Land ausbreite.

Mein Eindruck

Die Saga von Tiefschürfers Heldentat wird von Graulocke in einem raunenden archaischen Ton und Sprachschatz erzählt. Er könnte direkt aus Tolkiens „Silmarillion“ stammen. Doch der Leser rätselt zunächst, wo dieses Land liegen könnte, das vom Volk des Halses bewohnt wird. Immer wieder tauchen Hinweise auf Körperregionen auf, die uns vertraut sind: Kopf, Lippen, Haar, Augen, aber auch Hinterbacken und Füße. Es handelt sich offenbar um einen lebendigen menschlichen Körper – einen weiblichen zumal. Denn die Neuen Berge sind nichts anderes als Brüste.

Der Titel gibt einen weiteren Hinweis: „peritonitis“ bedeutet „Zwerchfellentzündung“. Diese Deutung von Tiefschürfers Heldentat dreht die ganze Heldensaga ins Lächerliche und macht aus dem Text eine Parodie. Vielleicht meinte der Autor aber Mandel- oder Halsentzündung, also „tonsilitis“.

22) The Woman Who Loved the Centaur Pholus (1979)

Kaum hat Janet ihn um 4:20 Uhr morgens geweckt, wirft sich Professor Anderson in sein Jäger-Outfit und düst mit seinem Wagen durch den Schnee Richtung Wald. Auf der Straße überholt ihn einer der Helikopter der Army, die allen Funkverkehr abhört. Deshalb wundert es ihn nicht, die Army vorzufinden, wo schon Janet und die anderen Demonstranten warten. Ein Reporter-Team stößt hinzu und wird von Janet abgefertigt. „Gentechnisch erzeugte Fabelwesen sind auch PERSONEN!“, mahnt sie den Reporter.

Solche Schimären lassen sich heutzutage in jedem Hobbykeller mithilfe gentechnischer Baukästen herstellen. Meist werden sie, sobald sich ihr Schöpfer langweilt, in die freie Wildbahn entlassen – oder kommen in der Stadt um. Die Army prescht los, um den losgelassenen Zentauren Pholus zu jagen. Als sie den Soldaten folgen, verirren sich Anderson, Janet und die anderen in den weiten Wäldern Wisconsins. Sie stoßen auf einen verletzten Faun. Der kleine Ziegenmensch wurde wohl von einem Hund gebissen, meint Anderson, ist also kein Army-Opfer.

Als ob das irgendetwas besser machen würde! Wütend stapft Janet los – direkt vor die riesigen schwarzen Beine von Pholus, dem Zentauren. Das gigantische Wesen packt Janet auf seinen Rücken und prescht mit ihr von dannen…

Mein Eindruck

Obwohl Schimären ein Gentechnisches Produkt sind, kann Anderson nicht umhin, sie mit Zitaten aus seinem literarischen Fundus zu besingen. Er rezitiert klassische Gedichte über Zentauren, Delphine usw, – oder was man in vergangenen Epochen dafür hielt. Bei Janet kommt das gar nicht gut an: Sie kämpft für die Rechte von Personen. Für den Pfarrer hingegen sind auch diese neuen Geschöpfe Gottes Kreaturen.

Diese unterhaltsame, actionbetonte, etwas dramatische Erzählung packt das weiterhin latente Thema also von vielen möglichen Seiten an. Die Fortsetzung folgt sofort mit…

23) The Woman the Unicorn Loved (1981)

Dr. Anderson traut seinen Augen kaum und holt sofort seine Fotokamera. Ein strahlend weißes Einhorn tänzelt über den Campus vor seinem Institut und wird sofort von bewundernden Studenten umringt. Sein Kollege Dumont holt ihn nach unten, hat aber wieder mal sein Betäubungsgewehr vergessen. Nur eine junge Dame scheint in der Lage zu sein, das Fabelwesen zu beruhigen. Als ein Helikopter der Polizei auftaucht und Tränengas versprüht, löst sich die Versammlung auf. Das Einhorn entkommt den Kugeln der Cops.

Wenig später entdeckt Anderson die junge Dame in seinem Büro. Sie nennt sich Julie. Nach einer Weile merkt, was mit ihr los ist: Sie hat das Einhorn, ein genetisches erschaffenes Wesen, versteckt. Sie will es in Sicherheit bringen. Aber wo ist es? Na, in der Bibliothek, wo es immer dunkel ist und wo Julie den Wächter als Freund hat. In der Bücherei finden sie nur noch die Leiche des Wächters vor, durchbohrt von einem Horn.

Als Julie Dr. Anderson küsst, brauchen sie nicht zu warten, bis das Fabelwesen eifersüchtig aus seinem Versteck stürmt und Dr. Anderson mit seinem tödlichen Horn angreift…

Mein Eindruck

Soweit die oberflächliche Erzählung, doch wie so häufig bei Wolfe gibt es eine Tiefenstruktur, die in vielen Bemerkungen und Gedichten angedeutet wird. Dr. Anderson rezitiert klassische Gedichte über Einhörner – oder was man in vergangenen Epochen dafür hielt. Und er weist darauf hin, dass das schottische Wappentier das Einhorn sei, das englische aber der Löwe. Die Geschichte spielt aber in Wisconsin.

Wie auch immer: Julie scheint viel älter zu sein als ihre geschätzten 20 Jahre – sie ist Dozentin für Biologie und somit auch qualifiziert für genetische Experimente. Sie könnte eine Göttin der Liebe sein. Und Andersons Helfer Ed könnte ebenfalls viel älter sein als seine 18 Jahre, vielleicht eine Verkörperung des Merkur. Die antike, mythische Vergangenheit ragt in die Vergangenheit hinein, symbolisiert durch das Fabelwesen, das aus der Retorte kommt. Diese Story lässt sich gleich im Anschluss an die PHOLUS-Story lesen.

24) The Peace Spy (1986)

Sowjets und Amis leben in kriegerischen Zeiten. Um den Erstschlag abzuwehren, ist der Sohn des US-Präsidenten nach Moskau übergesiedelt, quasi als menschlicher Schutzschild. Daran haben sich einige junge Leute aus der politische Elite der Sowjetunion zum Vorbild genommen und sind ihrerseits in die USA eingewandert, um politisches Asyl zu beantragen. Dort verbrannten sie ihre Pässe. Eine von ihnen ist Sonja Aralov, die in der Nähe von Washington, D.C. lebt.

Sie bekommt Besuch von C. C. Percival, wie sich Mr. Krasilnikow nennt. Er möchte ihr helfen, in die Sowjetunion zurückzukehren, doch seine Gebühr für die Beschleunigung des Ausreiseverfahrens beansprucht fast alle ihre Ersparnisse. Deshalb rät er ihr dazu, in der Zwischenzeit einen Job anzunehmen, etwa als Modell. Nach etwas Überredung lässt sie sich darauf ein und unterschreibt einen fetten Scheck, den sie ihm vertraglos überreicht.

Er verrät ihr nicht, als was für eine Art Modell sie arbeiten soll – und dass die Russen bereits vor Paris stehen…

Mein Eindruck

Es ist ein ganz fieser Trick, den Krasilnikow gegenüber Sonja abzieht. Er nutzt ihre Friedensliebe und ihren Patriotismus aus, um sie einer Agentur für wer weiß was für Modelle zuzuführen. Die Rede ist von einem russischen Hollywoodschauspieler. Ihr Geld wird sie natürlich nie wiedersehen. Ihre Ideale, ihr Geld und bestimmt auch ihre Rückkehr – alles futsch. Eine von Wolfes gemeinsten Erzählungen.

25) All the Hues of Hell (1987)

Das kleine Raumschiff „Egg“ wird vom Mutterschiff „Shadow Show“ entlassen, um auf einer der Schattenwelten Schattenmaterie an Bord zu nehmen. Das Vorhaben klappt, doch die vier Besatzungsmitglieder haben ein Problem, wie damit umzugehen ist. Marilyn, die schwangere Pilotin, wird sowohl von dem Kindsvater Skip als auch vom Cyborg Kyle geliebt. Skip, der Kapitän (Skipper), glaubt, er sei tot und wähnt sich in der Hölle, folglich muss er auf Anweisung des Direktors (von der „Shadow Show“) gefesselt werden. Das vierte Besatzungsmitglied ist Polyaris, der sprechende Papagei.

Skip glaubt an die Existenz von Dämonen, und was da gerade an Bord gebeamt wurde, ist ganz bestimmt so ein Dämon: Das Schattenwesen sieht aus wie ein Mann, hat aber gelbe Augen und eine mauvefarbene Haut. Als er sich bewegt und Marilyn anschaut, hält sie sich den Bauch: „Es hat sich gerade bewegt, Kyle! Es lebt!“

Mein Eindruck

Außen- und Innenwelt korrespondieren auf eine Weise, dass klar wird, dass das Außen nur eine Widerspiegelung des Innen sein kann. Und da es fortwährend um Eier, Eigelb (die Schatten-Materie), Schwangerschaft und Liebe geht, muss es auch um Väter gehen. Obwohl Skip der biologische Vater ist, wendet sich Marilyn nicht an diesen Wahnsinnigen, sondern an Kyle, den vernünftigen Cyborg, um ihm die frohe Botschaft zu verkünden, dass sich ihr Baby bewegt.

In dieser Dreiecksbeziehung dürfte es so etwas wie Neid, Eifersucht, Furcht durchaus geben. Der Leser braucht nicht lange zu suchen, um in Skips Dämonen entspreche Manifestationen von Angst zu entdecken. Als ein gewisser Dr. Freud erwähnt wird, erklärt sich auch die ambivalente Haltung der beiden „Männer“ gegenüber der schwangeren Frau: Sie hat nun die Macht an Bord, und wer ihr nicht zufriedenstellend dient, muss mit Strafe rechnen – so ergeht es dem gefesselten Skip. Beunruhigend indes ist der Schluss: Polyaris schreit „Invasion“ und „Katastrophe“, als sich der Schatten-Mann zu bewegen beginnt. Außen ist innen…

26) Procreation: 1) Creation; 2) Re-Creation; 3) The Sister’s Account (1983/84)

In Tagebuchnotizen berichtet der Biochemiker Gene von seinem Experiment, aus einer künstlichen Nährkultur, die auf einem einzigen Weltall-Staubkorn basiert, eine neue Zivilisation zu züchten. Aus einem schwarzen Punkt, der nicht verschwinden will, entsteht auf verschiedene Weise ein „Mikroversum“, das er stolz nach sich selbst benennt: „Gene-eration“. Stolz präsentiert sich seiner Frau Martha und seiner Schwester Sis als künftiger Nobelpreisträger. Sie spotten – zu Recht? Sein Gott-Spiel gerät außer Kontrolle, als er den winzigen Kreaturen wilde DNS-Zusätze beifügt – seine eigene, deren eigene, Apfel-DNS, Tier-DNS und sogar Sis-DNS.

Die befreundeten Fakultäten und Kollegen erfahren von Genes Mikroversum. Joseph Cramer schreibt aus West Berlin einen beunruhigenden Luftpostbrief: Wenn Gene einen Mono-Pol erzeugt hat, dann entstand ein magnetisches Ungleichgewicht, das ein Unding ist. Wo also ist der entsprechende zweite Magnetpol abgeblieben, um nicht zu sagen: das zweite Mikroversum, also Sis-eration?

Aus den Tagebuchnotizen von Sis geht hervor, das sie eine besondere Verbindung zu ihrem Bruder hat, vermutlich nur geistig-seelisch, nicht körperlich. Drei Erlebnisse beschreibt sie, die möglicherweise anzeigen, dass sich Land und Erde vermischen, dass sie eine Meerjungfrau ist und dass die Zeit rückwärts läuft. Oder auch nicht. Sie liest Joseph Cramers Brief an Gene: Ja, das Sis-eration-Mikroversum besteht möglicherweise sogar aus Antimaterie. Es ist definitiv sonderbar.

Mein Eindruck

Ein übermütiger Wissenschaftler, der Gott spielt – das ist nichts Neues, seit Theodore Sturgeon 1941 seine Novelle „Der Gott des Mikrokosmos“ publizierte. Dieses SF-Untergenre gab es von Beginn an, und nur Männer waren zugelassen. Aber nun kommt noch die Schwester hinzu, und die stellt das korrespondierende Mikroversum bereit. Es vermischt Dimensionen aus Land und Ozean. Es gibt eine „schwarze“ Bevölkerung, die unter der Meeresoberfläche lebt und vieles mehr. Das wirft ein ganz neues Licht auf genes Schöpfung.

Ich musste die dreiteilige Geschichte zweimal lesen, um sie zu verstehen, und bin dennoch sicher, noch nicht alles entdeckt zu haben, was der Meister hier versteckt hat.

27) Lukora (1988)

Meirax Andros ist der weibliche Teil einer Planetenerkundungsmission, Michael der andere, männliche. Doch Michael könnte inzwischen tot sein. Und wie es dazu kommen konnte, erzählt Meirax in ihrem Bericht an das Institut. Der Planet ist erdähnlich, mit einem riesigen weißen Mond, die Gegend hügelig und knapp 500 m ü.d.M. liegend.

Als Michael nach einem ungenehmigten Nachtausflug zurückkehrt, erzählt er vom Kleinen Volk, das in den Hügeln lebe. In der dritten Nacht folgt ihm Meirax heimlich, doch sie verliert ihn aus den Augen, stürzt mehrfach – und erwacht in einer Höhle. Eine Frau in einem weißen Gewand, deren schwarzes Haar ihr bis zur Hüfte reicht, spricht mit Michael in einem rauen, heiseren Ton. Sie heiße Lukora, sagt Michael, und Lukoras Finger sind sehr sanft, als sie Meirax pflegt.

Doch draußen droht Gefahr vom Kleinen Volk. Gut, dass Michael ein altes, verrostetes Bronzeschwert gefunden und scharf geschliffen hat. Auf dem Rückweg zur Basis verstellt ihnen das Kleine Volk den Weg, und dessen Champion tritt hervor, um Michael zum Zweikampf zu fordern. Wie der Kampf ausgeht, weiß Meirax nicht, denn sie feuert mit ihrem Lasergewehr, wird deswegen sofort angegriffen und überwältigt. Auf einmal fallen weiße Dinge über das Kleine Volk her, knurren und beißen. Meirax verliert blutend das Bewusstsein. Doch das ist erst der Anfang…

Mein Eindruck

Es bleibt ungeklärt, in welcher Weltgegend oder in welcher Zeit Meirax und Michael landen. Es könnte ebenso gut ein anderer Planet sein – die Weird Fantasy offeriert dafür viele Schauplätze, beispielsweise Conans Kimmerien und Hyborien. In dieser mythischen Zeit also finden Kämpfe mit dem Kleinen Volk statt, einer erdverbundenen Spezies, die genauso Orks wie Elfen sein könnte.

Es sind die Folgen dieser kriegerischen Begegnung, die der letzte Absatz des Berichts andeutet: Meirax hat sich wie Michael in einen Werwolf verwandelt. Sie geht wie er und Lukora nur nachts auf die Jagd, um es mit dem Kleinen Volk aufzunehmen. Die Story liest sich ein wenig wie Robert E. Howard, wenn er ein wenig weniger kommerziell gewesen wäre.

28) Suzanne Delage (1980)

Der Erzähler ist ein alter Junggeselle, der einsam in einem alten Haus lebt, das er von seiner Mutter geerbt hat. Seine Mutter war zusammen mit ihrer Freundin Mrs Delage eine eifrige Sammlerin alter Beispiele von kolonialen Textilien wie Quilts, Tisch- und Bettdeckchen und selbst stolze Besitzerin eines Quilts aus der Zeit des Bürgerkriegs (obwohl sie am liebsten einen aus der Zeit der „Amerikanischen Revolution“ gehabt hätte). Mrs. Delage durfte jedoch nie zu Besuch ins Haus kommen, denn die gegenüber lebende Witwe war ein gehässiges altes Weib, das es der Mutter des Erzählers verübelt hätte, Mrs. Delage derart zu bevorzugen.

Dies alles kommt dem Junggesellen in den Sinn, weil er in einem Buch gelesen hat, jedem Menschen würde mindestens einmal im Leben eine außerordentliche Erfahrung zuteil, die sein restliches Leben ändere. Er selbst kann sich an nichts dergleichen erinnern. Tatsächlich ist sein Leben von überragender Langeweile und Ereignislosigkeit gekennzeichnet.

Bis auf die Sache mit Suzanne Delage. Neulich besuchte er einen Laden im Stadtzentrum und herausstürmte eine schlanke Fünfzehnjährige mit schwarzem Haar und milchweißer Haut. Seine Bekannte sagte zu ihm: „Sie ist das Ebenbild ihrer Mutter, Suzanne Delage.“ Seltsamerweise ist er nicht in der Lage, in den Jahrbüchern seiner Schulzeit irgendein Foto dieser Suzanne Delage zu finden. Es ist, als habe sie nie existiert – oder immer…

Mein Eindruck

In dieser Erzählung geht es also um drei Generationen von Delages: die Freundin seiner Mutter, dann Suzanne, die Schülerin, und schließlich die 15-Jährige aus dem Laden. Der Autor legt den Verdacht nahe, dass es sich bei allen drei Frauen um ein und dasselbe Individuum handeln könnte, also eine Unsterbliche. Für diese, zugegeben absurde, Idee gäbe es allerdings keinerlei Beweise, die einen Detektiv zufriedenstellen würden.

Aber das ist nicht der Zweck, für den diese Geschichte erzählt wird. Es geht vielmehr um das Erinnerungsvermögen von Menschen, die einsam und allein in einer Stadt von immerhin hunderttausend Leuten leben. Menschen auf dem Lande kennen jeden, Menschen in der Stadt gerade mal ihren Nachbarn. Aber in einer Kleinstadt kann jemand Gruppen, Cliquen, Schülerklubs, Verwandte und Bekannte kennen, mithin also eine ganze Menge Leute, ohne den Überblick zu verlieren. Es ist allerdings ein ständiger Kampf gegen das Vergessen, daher auch die vielen Erinnerungsfotos und Jahrbücher.

Wie also konnte es Suzanne Delage gelingen, jeder Technik zu entwischen, die unseren Erzähler an sie erinnert hätte? In seinen Jahrbüchern fehlen Seiten, ja, ganze Bände. Steckt sie dahinter? Wer auch immer sie ist: Sie ist ein höchst interessantes Wesen – und vielleicht sogar unsterblich.

29) Sweet Forest Maid (1971)

Die Bürokauffrau Lenor hat von der Frau gelesen, die in den Wäldern lebt, eine Art weiblicher Yeti vielleicht. Sie verkauft ihre Kleider und erwirbt eine Fotokamera, um Bilder von diesem Fabelwesen zu schießen. Als Ausrüstung nimmt sie nur das Unprofessionellste mit, was man sich vorstellen kann, an Essen nur das Nötigste, also vor allem Schokolade: Sie ist eine Romantikerin.

Als Ziel für ihre Expedition in die Wildnis hat sie sich das wilde Klamath-Gebirge im nördlichen Kalifornien ausgesucht. Drei Tage wandert sie in die Wildnis, kampiert, fotografiert Wildtiere. Der Rückweg führt sie drei Tage in die Irre, und als der Regen einsetzt, wird sie krank. Unter einem Felsüberhang rastend hört sie, wie Steine kollern. Sie Wartet: Bestimmt ein Bär. Doch es ist eine haarige Hand, die sie als Erstes sieht, und ein Mädchen…

Mein Eindruck

Alle Hippies mussten Jack Kerouacs Aussteiger-Roman „On the Road“ gelesen haben, um zur „Szene“ zu gehören. 1970/71, als diese kurze Story entstand, war ihre beste Zeit schon vorüber, Haight-Ashbury war Touristenattraktion, doch Aussteiger und Naturfreunde gibt es bis heute in Kalifornien. Hier entstand schließlich mit dem Sierra Club einer der einflussreichsten Wandervereine der Welt. Und mit dem Pacific Coastal Trail, dem vielbesungenen PCT, entstand einer der längsten Wanderwege der Welt. Lenors Abenteuer erscheint vor diesem Hintergrund keineswegs abwegig. (Es lässt sich zudem bestens im Anschluss an „Lukora“ lesen.)

Natürlich ist dies der amüsante Kommentar auf die Legenden von Yeti, Bigfoot und anderen Riesenaffen. Sie sind atavistische Formen des homo sapiens, hoffentlich ein überwundenes Erbe. Aber was passiert, wenn ein echtes Yeti-Mädchen auf eine moderne Frau trifft? An diesem Punkt bricht die Erzählung leider ab: Die Frau findet keine Worte, um mit ihrem stammesgeschichtlich älteren Vorfahren zu kommunizieren.

30) My Book (1982)

Der offenbar wahnsinnige Autor beginnt ein Buch, doch es ist kein gewöhnliches. Es endet mit dem Wort PReface“, also „Vorwort“, davor kommen „Begin“ und davor „Will“. Und so beginnt das Universum. Kapitel um Kapitel arbeitet er sich nach vorne, bis zur Gegenwart, in der eine Krönung stattfinden soll…

Mein Eindruck

Der Autor ist unschwer als der metaphorischer Schöpfergott des Universums zu erkennen. Da das Wort im Anfang ist und das Wort bei Gott, besteht die Welt aus Worten. Halleluja, in einem gewissen Sinne beschreibt sich der Autor selbst als Schöpfergott. Eine höchst überflüssige Story also, aber mit einem verschmitzten Zwinkern.

31) The Other Dead Man (1987)

Das Raumschiff ist schwer beschädigt worden, und es hat unter der Crew Tote gegeben. Da Kapitän William „Hap“ Hapgood tot zu sein scheint, würde jetzt Lt. William Reis sein Nachfolger werden. Aber es gibt einen Haken: Der Zentralcomputer „Centcomp“ besteht darauf, gerade eine Wiederbelebung Haps durchzuführen. Tatsächlich scheint dies auch zu klappen, denn Hap ist auf einmal ansprechbar – und er vermutet eine Meuterei an Bord, angezettelt von keinem anderen als einem gewissen Lt. William Reis…

Die Wiederherstellung von verletzten Besatzungsmitgliedern erfolgt in entsprechenden Med-Kapseln, die von Centcomp gesteuert werden. Reis liegt selbst in solch einer Med-Kapsel, als sich Janice zu ihm legt, um ihm wichtige Dinge über die mysteriösen Vorgänge an Bord mitzuteilen. Centcomp habe offenbar ein Avatar, ein virtuelles Abbild des Kapitäns hergestellt, das nun das Kommando übernimmt – und Reis für seine vermeintliche Meuterei jagt.

Da gibt es nur eines zu tun: Reis muss den verletzten Körper des Kapitäns finden und zerstören, um so die Jagd auf sich zu beenden. Doch dieses Unterfangen erweist sich als riskanter und grauenvoller als erwartet…

Mein Eindruck

Dem Autor gelingt es hier, eine Geister- und Horrorgeschichte wirkungsvoll in einem Umfeld anzusiedeln, das gemeinhin von der Hard SF beansprucht wird: einem Raumschiff. Doch der Zentralcomputer erweist sich als perfider Totenbeschwörer, der Tote durch VR-Technik wieder zum Leben erweckt. Es gibt ein actionreiches Finale der Konfrontation zwischen Reis und Hapgood, bei dem der Leser nicht den Überblick verlieren darf. Am Schluss wartet auf Reis eine grauenhafte Entdeckung über die Natur seiner eigenen Identität. Wunderbar gruselig!

32) The Most Beautiful Woman on the World (1987)

Drei Männer erzählen sich auf einer anderen Welt Geschichten über die Liebe der Frauen. Ist sie romantisch oder nicht? Die Meinungen von Garcia, Hoong und Davis gehen auseinander. Schließlich erzählt Davis von der schönsten Frau, die er je kennenlernte. Leider war Sigrid bereits mit einem Geologen verheiratet. Doch dieser stellte sie auf eine Art Liebesprobe: Er fuhr mit ihr zu einer eigentümlichen Felsformation, die im richtigen Bewusstseinszustand wie eine Burg aussah. Der Geologe führte sie zum Gipfel und dort sollte sie eine Brücke beschreiten, die aber zu ihrer Überraschung gar nicht wirklich existierte – nur für ihn. Sie wich zurück, eilte zum Fahrzeug und fuhr zurück zur Basis. Wenige Wochen später war sie tot.

Die drei Männer rätseln, was das zu bedeuten hatte und woran Sigrid gestorben sein mochte, denn Davis träumte später von ihr – von einem alternativen Verlauf der Ereignisse auf der „Burg“. Aber es gibt ein Gegenbeispiel: Carolina, die untreue Angebetete, wurde von dem Hengst totgetrampelt, den Garcia, ihr Verehrer, genau zu diesem Zweck geschenkt hatte…

Mein Eindruck

Der Schauplatz ist auf einer fremden Welt, doch die Handlung könnte auch in einer Fantasy-Umgebung stattfinden. Dann würde allerdings die eingebildete Burg wirklich existieren – und dann ginge der Clou verloren. Denn erst, indem sich der Geologe und Sigrid in eine Märchenwelt versetzen, kommt es überhaupt zu der Liebesprobe: Glaubt sie an seine Liebe, dann beschreitet sie unbesehen die unsichtbare Brücke. Doch sie schrickt davor zurück.

Die Erzählung dient als Veranschaulichung des alten Bonmots, dass ein „Sprung des Glaubens“ nötig sei, um sich auf die Fährnisse und Versprechen der Liebe einzulassen. Wem das nicht reicht, der erinnere sich an den dritten Film mit INDIANA JONES: Als letzte Prüfung, um des Grals würdig zu sein, muss Indy die unsichtbare Brücke über die tödliche Schlucht beschreiten. Glaubt er an ihre Existenz, wird er unbeschadet den Abgrund überqueren können. Filmfans wissen, wie die Geschichte ausgeht. Bei Gene Wolfe aber darf man sich keiner Sache sicher sein. Sein (möglicher) Kommentar steht bereits in seiner Erzählung.

33) The Tale of the Rose and the Nightingale (And What Came of It) (1984)

Kairo im Mittelalter. Hier herrschen der Pascha und seine Janitscharen über die bunt zusammengewürfelte Gesellschaft. Der junge Ali ist ein Bettler und ein Dieb, der aber meist ohne Abendessen schlafen geht. Heute bettelt er einen Geschichtenerzähler an, doch der ist nur bereit, ihm eine Geschichte zu schenken. Es ist das Märchen von der Rose und der Nachtigall, die jeder kennt – der Geschichtenerzähler stammt aus Bagdad. Bald gesellt sich ein alter, blinder Mann zu dem Duo, um ebenfalls der altbekannten Geschichte zu lauschen.

Kaum ist die Geschichte zu Ende, packen die beiden den überraschten Jungen und zwingen ihn, im Garten des großmächtigen Pascha nach eben jener Rose zu suchen. Zu dritt fahren sie auf einem Flussboot zum palast, wo das Duo den Jungen durch das Tor schleift, das nur von einem schlafenden Janitschar „bewacht“ wird. Ganz oben versehen sie Ali mit einer Dschellaba, die ein geisterhaftes Eigenleben führt. Sie verwandelt ihn in eine Nachtigall. Schon bald kommt der bezeichnete Rosenbusch in Sicht, doch davor steht, wie versprochen, ein schönes Mädchen, das sich unerlaubt aus dem Harem des Pascha entfernt hat. Ali verwandelt sich zurück in seine menschliche Gestalt. Zum Glück ist noch Nacht, so dass der Haremswächter Omar die beiden nicht entdeckt.

Kaum hat Zandra – so heißt die griechische Sklavin – die bezeichnete Rose gebrochen, verfällt sie dem Liebesbann, der damit verbunden ist, und wem könnte ihre Liebe anders gelten als Ali? Sie schwört ihm ewige Liebe, und er verliebt sich in sie. Als sie zusammen eine der Bodenplatten berühren, öffnet sich diese und altägyptische Symbole sind zu erblicken. Darunter ist auch das Symbol eines Nilkrokodils. In diesem Moment entdeckt sie Omar!

Der kastrierte Haremswächter hat seinen Säbel zum Schlag erhoben, als ihm Ali von dem unermesslichen Schatz erzählt, der sich unter der Bodenplatte befinden muss – und den ein gewisser Geschichtenerzähler ihn zu holen gebeten habe. Die Beschreibung passt genau auf Prinz Abdullah aus bagdad, fällt Omar auf, und der ist ein nobler Herr. Schade, dass er sich als Schlitzohr entpuppt. Ja, und der alte Blinde, der Abdullah begleitet, was ist mit dem, will Ali wissen. Das ist sein Mentor und Lehrer Mullah Ibrahim. Ganz klar, dass sie zusammen unter einer Decke stecken: Sie wollen den Schatz für sich haben, der doch eigentlich ganz allein dem höchst ehrenwerten Omar zusteht!

Omar überlegt und tut, als wäre er überzeugt, doch er lässt die beiden Jugendlichen erst ihren Zauber an der Bodenplatte vorführen. Die Platte erhebt sich erneut. Ein Blick ins Loch zeigt, dass eine Treppe in Tiefen hinabführt, die mittlerweile von der Morgensonne erhellt werden. Ali muss zuerst hinuntergehen, dann Zandra, zum Schluss hat Omar ein Auge auf die beiden. Sie gelangen in eine Höhle, in der jedoch von einem Schatz weit und breit nichts zu entdecken ist.

Doch aus dem Teich in der Mitte erhebt sich unvermittelt ein riesiges Krokodil…

Mein Eindruck

Wer das Märchen von der weißen Rose und der Nachtigall kennenlernen möchte, braucht nur Oscar Wildes Version zu lesen. Die in die Rose verliebte Nachtigall gibt ihr Leben, um das der weißen Rose zu retten, die, weil der Pascha nur ROTE Rosen duldet, geschnitten werden soll. Das Vogelblut bedeckt das Weiß der Rose, und sie wird vom Gärtner verschont und verpflanzt. Allah hat die Rose mit seinem Zauber gesegnet.

Eben diesen Zauber soll Ali quasi „ernten“ und dem Prinzen alias Geschichtenerzähler bringen. Leider geht mal wieder alles schief – zu Alis Glück. Denn Omar entsteigt der Höhle unversehrt und erschlägt den grausam herrschenden Pascha. Auch der Prinz und sein Lehrer, der Blinde, werden von Pascha Ali zur Rechenschaft gezogen.

Besonders bemerkenswert an dieser „Arabeske“ ist die Integration der altägyptischen Mythologie in die Gedankenwelt der Figuren. Das zeigt sich besonders in der finalen Diskussion über den ersten König der Ägypter, einen gewissen Osiris, den sie zum Gott erhoben. Ihm zur Seite stand als Machtsymbol der Gott Sobek in Gestalt eines Krokodils. Zusammen müssen sie sich gegen das Prinzip des Bösen durchsetzen, einen gewissen Sukhet (in späteren Legenden Seth). Offenbar nimmt Omar sich Sobek zum Vorbild oder ist von dessen Geist erfüllt, so wie Ali jetzt vom Geist des Osiris erfüllt ist. Die liebliche Zandra spielt demzufolge die Göttin Isis, Gattin des Osiris. So wird eine runde Sache aus der doch recht unerwartet verlaufenden Handlung.

34) Silhouette (1975, in R. Silverberg: „Das Neue Atlantis“ bei Heyne)

Sie sind die letzten Überlebenden eines Krieges auf der Erde: Seit 17 Jahren ist das kilometerlange Raumschiff der Kolonisten unterwegs gewesen, nun hat es endlich einen erdähnlichen, aber ausgetrockneten Planeten erreicht, der Neuerddraht genannt wird (auch im englischen Original). Die Kapitänin hat eine Expedition ausgesandt, um Artefakte und Spuren von Leben zu suchen. Diese Expedition unter der Leitung von Helmut – alle sprechen einander nur mit dem Vornamen an – nur einen ausgetrockneten Ozean und ein paar kantige Steine gefunden, die vielleicht, vielleicht aber auch nicht von einer verschwundenen Zivilisation stammen könnten. Eines ist aber sicher: Hier unten gibt es Geistererscheinungen – oder Halluzinationen …

Unter den Offizieren ist Johann der ranghöchste. Aus Angst, für verrückt und dienstunfähig erklärt zu werden, verschweigt er allen anderen, dass er einen Geist in seiner sehr schlecht beleuchteten Kabine hat. Es ist nur ein Schatten, aber einer mit Eigenleben. Und woher hat Johann neuerdings diese blutigen Kratzer am Bein? Grit und Greta, Uschi und die Leute von der Sekte – sie alle sehen den Geist nicht. Heinz und Rudi und wie sie alle heißen wollen Johann in ihre Sekte aufnehmen, denn sie wollen meutern und die Führung des Schiffes übernehmen.

Johann hat keinerlei Absicht, Meuterer zu werden und verrät diese Leute an die Kapitänin. Die beginnt, die Marinesoldaten aus dem Kälteschlaf zu wecken und sie zu bewaffnen. Aber Johann hat dank seines Schattens nicht nur die Fähigkeit erlangt, sich durch reine Gedankenkraft von Ort zu Ort zu bewegen – eine feine Sache -, sondern auch den Verdacht, dass der Schiffscomputer nicht auf der Seite der Kapitänin steht. Dieser „Übermonitor“ verhält sich nicht kooperativ. Und das soll sich während der Meuterei verhängnisvoll auswirken.

Die Lage spitzt sich zu, als der an Bord zurückgekehrte Expeditionsleiter Helmut Johann unter vier Augen beschuldigt, auf der Planetenoberfläche gewesen zu sein – ohne die vorgeschriebene Atemmaske. Nun heißt es schnell handeln: Johann bereitet ein Landeboot vor, indem er Ausrüstung und Proviant hineinpackt. Helmut, der ihn dabei erwischt, zückt eine Waffe und geht auf ihn los…

Mein Eindruck

Die Story endet dramatisch, actionreich – und mit Johann als neuem Käptn. Der Leser muss indes genau aufpassen, was in der Handlung passiert und wer was zu wem sagt. Dies ist ja schließlich kein Roman, sondern ein hochverdichteter Text, der anderen Autoren, zumal heutzutage, locker für eine Romantrilogie ausreichen würde.

Zu den „Augenöffnern“ gehören beispielsweise die sexuellen Sitten an Bord dieses Schiffes. Die Damen suchen die offenbar zahlenmäßig etwas überlegenen Männern heraus, mit denen sie schlafen wollen, aber es scheint auch eine gewisse Verpflichtung dafür zu geben, zumal unter den Unteroffizierinnen (Warranty Officers), die gerne zum Offizier aufsteigen würden.

So ist stets für eine gewisse Erregung gesorgt. Hinzukommt aber noch die religiöse Obsession, in die sich eine Sekte hineinsteigert, die sich abgekürzt C.O.C. nennt, was beispielsweise Church of Christ heißen kann. Auf jeden Fall betrachten ihre Anhänger Johann als Glückskind, als Mittler. Und wenn er sich ihnen nicht anschließt, werden sie ihn wohl früh oder später umbringen müssen, tut ihnen ehrlich leid.

Der „Übermonitor“ genannte Bordcomputer erinnert an „Mutter“ an Bord der „Nostromo“ in „Alien“ (1979): Er ist rätselhaft, will keine Fragen beantworten, die menschliches Verhalten betreffen, führt aber obskure Direktiven aus, die Johann erst herauskitzeln muss. Und was während der Meuterei auf den Bordbildschirmen der Kommandobrücke zu sehen ist, entspricht nicht der Wahrheit, wie nur Johann weiß: Der „Übermonitor“ versucht, ihn und vor allem die Kapitänin zu täuschen, um die Meuterei zu unterstützen. Ganz schön hinterhältig.

Unterm Strich

Diese Story-Sammlung ist eine Zusammenfassung von Gene Wolfes Produktion in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren (1968 bis 1988). Diese Zeitspanne macht sie mit über 500 Seiten ziemlich umfangreich und als Querschnitt bedeutsam. Aber immerhin finden sich hier einige Leckerbissen wie etwa die preisgekrönte Novelle „Silhouette“, die den Band abschließt.

In seiner Einleitung erklärt der Autor, wozu und für wen er diese Geschichten geschrieben hat. Anders als akademische Autoren, die seiner Meinung nach für das Lob der Kritiker schreiben, oder Bestseller-Autoren, die für schnöden Mammon schreiben, erzähle für den Leser Geschichten, die diesen auf überraschende Weise unterhalten und möglicherweise sogar zum Denken anregen. Das bringe zwar weniger ein und erfordere sogar hartnäckige Überzeugungsarbeit bei den Redakteuren und Herausgebern, aber dafür seien die Geschichten viel interessanter – und meist auch amüsanter, nicht zuletzt für den Autor selbst. Ein Schriftsteller mit dieser Einstellung sagt mir wirklich zu.

Die einzige Geschichte, die ich wirklich vermisst habe, ist „In Looking-Glass Castle“ aus dem Jahr 1980. Man findet sie in der Anthologie „Top Science Fiction. Band 2“, herausgegeben von Josh Pachter.

Taschenbuch: 506 Seiten
Originaltitel: Endangered Species
Sprache: Englisch
ISBN-13: 978-0812507188

www.tor.com

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