Daniel Glattauer – Alle sieben Wellen

„Ich glaube nämlich, meine Buchstaben lesen sich auf dem Bildschirm besser, als sich mein Gesicht ansieht, wenn es die Buchstaben spricht. Vielleicht bist du schockiert, an wen du zwei Jahre lang Gedanken und Gefühle verschwendet hast, und welcher Art sie waren.“

Ein Treffen, das ist es, was sich Leo und Emmi immer noch wünschen. Während sie sich in [„Gut gegen Nordwind“ bis zum Schluss erfolgreich um das Treffen herumlaviert haben, lässt sie dieses Thema auch in der Fortsetzung des Bestsellers von Daniel Glattauer nicht los. Und dieses Mal scheint es endlich dazu zu kommen …

Aug‘ in Aug‘

Nachdem Leo vor Emmi nach Boston geflohen ist und seine Mailadresse geändert hat, herrscht Funkstille zwischen den beiden. Emmi lässt nicht locker, immer weiter schreibt sie an die alte Mailadresse, auch wenn immer nur die automatische Antwort des Systemmanagers folgt. Doch eines Tages bekommt Emmi ihre lang ersehnte und persönliche Antwort von Leo. Er ist zurück aus den USA und hat einige Neuigkeiten, denn dort hat er eine Frau kennengelernt – Pamela -, die von nun an zwischen Emmi und Leo steht. Nun hat nicht nur Emmi eine Familie, die eifersüchtig auf ihre sehr intime Mailkonversation ist, auch Leo fühlt sich seiner neuen Freundin verpflichtet.

Aber nichts kann die beiden trennen. Die Mails fliegen hin und her, und das persönliche Treffen scheint unausweichlich. Natürlich steht es eines schönen Tages vor der Tür – und es kommt, wie es kommen muss: Das erste Treffen, der erste tiefe Blick in die Augen des anderen fällt enttäuschend aus. Zu hoch waren die Erwartungen, zu groß die Angst zu scheitern, und so verstellt sich Leo so sehr, dass Emmi ernüchtert ist. Ist dies nun das Ende? – Natürlich nicht.

Nach dem ersten Treffen folgt ein weiteres und noch eines und noch eines … Die beiden kommen sich näher und entfernen sich wieder. Mal kommt Emmis Familie dazwischen, doch meist ist es Pamela, für die Leo sogar gedenkt, endgültig nach Boston zu ziehen. Wie entscheidet sich Leo? Für seine Internetbekanntschaft Emmi oder für die reale Freundin Pamela? Endlich werden wir es erfahren …

Große Erwartungen

Mit „Gut gegen Nordwind“ hat sich Daniel Glattauer in die Bestellerlisten geschrieben – und das völlig zu Recht. Zwar ist die Idee seiner Geschichte nicht sonderlich innovativ, doch die Umsetzung überzeugt umso mehr. So wachsen einem beide Charaktere so sehr ans Herz, dass man ihnen ihr ganz persönliches Happy End wünscht, doch dazu kommt es nicht. Stattdessen lässt uns Glattauer mit einem Paukenschlag zurück: Emmi schreibt Leo, doch der ist in Boston und per Mail für sie nicht mehr erreichbar.

So hätte die Geschichte enden können, tut sie aber nicht, denn die letzte Mail ist noch längst nicht geschrieben. In „Alle sieben Wellen“ wird die Beziehung der beiden noch viel komplexer. Die Gefühle haben sich weiter vertieft, aber die Konstellation ist durch Pamela noch komplizierter geworden. Beide schwimmen in einem Gefühlschaos und wissen nicht, was sie tun sollen.

Jedes Zögern, jeder Zweifel, aber auch jeder liebevolle Gedanke, der Wunsch, ein Happy End zu erleben und die Zuversicht, dass man sich auch in der Realität versteht, bringt uns Daniel Glattauer dermaßen nahe, als würde uns all dies selbst passieren. Wieder einmal beschreibt er in wundervollen Worten die komplizierte Geschichte von Emmi und Leo:

„Ich trage dich immer mit mir herum, quer durch alle Kontinente und Gefühlslandschaften, als Wunschvorstellung, als Illusion des Vollkommenen, als höchsten Liebesbegriff.“

Nur die Illusion des Vollkommenen ist Emmi für Leo, sie hat er in den Himmel gehoben, dort wo Pamela nie hinkommen kann, da er all ihre Fehler aus dem gemeinsamen Leben mit ihr kennt. Von Emmi kennt er nur das, was er zu lesen bekommt, das, was Emmi von sich mitteilen möchte. Und so bleibt sie eine Wunschvorstellung, etwas Unerreichbares. Doch dann lernen die beiden sich wirklich kennen, und die Geschichte wird noch turbulenter, denn das Treffen entscheidet nicht zwischen Liebe und Enttäuschung, sondern es weckt neue Zweifel und Begehrlichkeiten:

„Ich habe dir Tränen ohne Flüssigkeit nachgeweint. Ich habe dir hysterisch nachgelächelt. Ich dachte, was nie begonnen hat, ist nun bereits zum zweiten Mal vorbei.“

Wortanalysen

Eine von Daniel Glattauers großen Stärken ist nicht nur die Beschreibung ganz großer und komplizierter Gefühle, sondern auch seine sezierende Art. Er kann einen winzigen Satz dermaßen in seine Einzelteile zerlegen, dass selbst der leere Raum zwischen den Buchstaben mehr Bedeutung erlangt als ganze Kapitel anderer Autoren – ein Beispiel:

„Darf ich analysieren? Zuerst ein ‚Ja‘ der scheinbar entschlossenen Zusage. Dann ein Komma der zu erwartenden Beifügung. Dann ein ‚Aber‘ der angekündigten Einschränkung. Dann eine runde Klammer der schriftlichen Formalkunst. Dann drei Punkte der geheimnisumwitterten Gedankenvielfalt. Danach Disziplin genug, um die Klammer zu schließen und das anonyme Wirrnis zu verpacken. Danach ein wertkonservativer Punkt, um im inneren Chaos die äußere Ordnung aufrechtzuerhalten. Dann plötzlich ein trotziges ‚Nein‘ der scheinbar entschlossenen Absage. Wieder ein Komma der bevorstehenden Ergänzung. Danach ein ‚Kein‘ der kompromisslosen Ablehnung. Dann ein neuerliches ‚Aber‘, ein sich auflösendes, ein ‚Aber‘, das nur da ist, um aufzuzeigen, dass es keines mehr gibt. Alle Zweifel angedeutet. Kein Zweifel ausgesprochen. Alle Zweifel abgeschoben. Am Ende steht ein tapferes ‚Ja‘ mit trotzigem Ausrufezeichen. Nochmals zusammengefasst: ‚Ja, aber (…). Nein, kein Aber. Ja!‘ Was für ein prächtiges Rondo deiner Wankelmütigkeit. Welch faszinierender Rundgesang deiner offen ausgetragenen Entscheidungsfindung. Dieser Mann weiß genau, dass er nicht weiß, was er will.“

Manch einer mag das verschwurbelt finden oder anmerken, dass zu viele „danns“ den Absatz verunstalten, ich dagegen kann solchen Worten nur huldigen, bin tief beeindruckt von Glattauers Beschreibungen und von seiner großen Kunst, Worte zu deuten und ihre ganz individuelle Bedeutung in neue Worte zu fassen. Leos Mail bestand nur aus sechs Worten und einigen Satzzeichen, aber Emmi nimmt sie dermaßen auseinander, dass Leos gesamte Wankelmütigkeit schamlos entlarvt wird.

Glattauers Schreibstil fasziniert mich so sehr, dass ich am liebsten das halbe Buch zitieren möchte, so viele Stilperlen, so viele eindrucksvolle Beschreibungen finden sich dort, so viele schöne Redewendungen, die ganz große Gefühle zum Ausdruck bringen. Aber nicht nur sprachlich überzeugt Glattauer auf ganzer Linie, sondern auch in seinem Einfallsreichtum. So berührt Emmi bei ihrem ersten Treffen aus Versehen Leos linke Hand. Die Berührung ist so flüchtig und zart, dass Emmi sich hinterher gar nicht mehr daran erinnern kann, doch Leo spürt fortan diesen besonderen Punkt in seiner linken Handfläche, der sich nicht abwaschen lässt. Dort hat er ihre Berührung gespeichert und gibt sie nie wieder her:

„‚Spürst du ihn noch?‘ – ‚Ja, immer noch. Manchmal stärker, manchmal schwächer. Manchmal muss ich ihn erst mit der Kuppe des Mittelfingers freilegen. Manchmal streichle ich ihn mit dem Daumen der anderen Hand. Meistens meldet er sich von selbst. Ich kann noch so viel Wasser darüber laufen lassen, er lässt sich nicht wegwaschen, er taucht immer wieder auf. Manchmal kitzelt er, dann schreibst du mir vermutlich gerade eine zynische E-Mail. Und manchmal tut er richtig weh, dann vermisse ich dich, Emmi, und wünschte, alles wäre anders gekommen. Aber ich will nicht undankbar sein. Ich habe ‚ihn‘, deinen Berührungspunkt in der Mitte der Handinnenfläche. Darin sind alle Erinnerungen und Sehnsüchte verpackt. In diesem Punkt vereint sich die komplette Emmi-Vollausstattung mit allem nur erdenklichen Zubehör für den anspruchsvollen In-die-Weite-der-Wunschlandschaften-Starrer Leo Leike.'“

Kitschig oder einfach wunderschön?

Manch einer mag Daniel Glattauer vorwerfen, dass er seine Geschichte um Emmi und Leo fortgesetzt und das Ende nicht seinen Lesern überlassen hat. Ich jedoch freue mich darüber, und ich finde weder die Geschichte noch seine ausschweifende Sprache kitschig. Das Treffen zwischen den beiden war sicherlich unvermeidlich. Die Geschichte hätte sich ohne diese neue Facette nicht fortsetzen lassen, aber so geraten Emmi und Leo in einen ganz neuen Gefühlsstrudel, der alles durcheinanderwirbelt und die Karten neu mischt.

Bemerkenswerterweise schafft Daniel Glattauer es sogar, Emmi und auch Leo als Sympathieträger zu zeichnen, denen man alles Glück der Erde wünscht, und das, obwohl Emmi mit dem Gedanken spielt, ihren Mann zu betrügen und ihre Familie zu verlassen. Und auch Leo glaubt zwar, dass er zwei verschiedene Kontingente an Gefühlen hat und seine Gefühle für Emmi denen für Pamela nichts wegnehmen, doch muss er natürlich erkennen, dass nichts so einfach ist, wie es auf den ersten Blick scheint.

Mich hat „Alle sieben Wellen“ vollkommen überzeugt, auch wenn ich das Buch mit etwas Skepsis aufschlug, weil ich unsicher war, ob man die Geschichte aus „Gut gegen Nordwind“ fortsetzen kann. Doch wurde ich eines Besseren belehrt, denn man kann. Daniel Glattauer spielt auch in diesem zweiten Buch über Emmi und Leo all seine Trumpfe aus – seine sympathischen Figuren, seinen unvergleichlichen Schreibstil und sein Talent für ganz große Gefühle. Ohne Kitsch und Pathos, dafür aber mit viel Gefühl(schaos) setzt Glattauer seine Geschichte fort und bringt seine Leser damit wieder einmal zum Träumen. Dieses Buch werde ich mit Sicherheit noch einmal lesen und noch mal und noch mal …

„Jetzt melde ich mich ab, schließe die Augen, halte die Zeit an und träume – davon und darüber hinaus.“

Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
www.danielglattauer.com
www.daniel-glattauer.de
www.zsolnay.at