Im Oktober 2004 wurde in der Mary Boone Gallery in New York die Ausstellung „XXX Pornstar-Portraits“ gezeigt. Dazu entstanden ein Dokumentarfilm, eine Soundtrack-CD sowie der hier in Übersetzung vorstellte Begleitband, weil besagte Ausstellung ab 2005 durch Europa bzw. Deutschland tourte.
„XXX“ maskiert in den USA das Wörtchen Sex, weil es in diesem frommen Land einen hässlichen Klang besitzt. „XXX“ schwebt über den Eingängen zu den „Adult-Film“-Abteilungen der Videotheken, lässt sich aber auch als „30“ übersetzen, was den quantitativen Rahmen für Timothy Greenfield-Sanders‘ Fotoprojekt vorgab. Dessen Kern bilden folgerichtig 30 großformatige Porträts aktuell (= 2004) aktiver Pornostars oder genreprominenter Ruheständler, wobei sowohl Vertreter/innen des hetero- als auch homosexuellen Pornofilms aufgenommen wurden. Timothy Greenfield-Sanders hielt seine Motive jeweils in bekleidetem Zustand fest, um sie anschließend in möglichst entsprechender Körperhaltung und Mimik nackt zu fotografieren.
Da 30 Doppelseiten kein Buch ergeben, werden die Bilder von 140 Seiten Text begleitet, der sich in zwei Großkapitel gliedern lässt. In einem ersten Teil schreiben 15 bekannte Journalisten, Kritiker, Kunstschaffende und Insider des Pornogeschäfts aus ihrer oft sehr subjektiven Sicht über das Phänomen Pornografie. Sachlich informierende Artikel stehen hier neben Interviews und Prosatexten.
In einem zweiten Textteil kommen (neben einem weiteren Porträt- oder Ganzkörperfoto) die porträtierten Pornostars selbst zu Wort. Sie geben Auskunft über Herkunft und Jugendjahre, beschreiben, wie sie den Weg ins „business“ fanden und was ihnen zum Arbeitsalltag einfällt. Dazu gibt‘s eine Liste mit ‚Lieblingsfilmen‘, in denen der jeweilige Darsteller selbst mitwirkte.
Kluge Worte aus vorsichtiger Distanz
Entweder geht die Welt jetzt endgültig unter, oder sie tritt nun doch ins Zeitalter des Wassermanns ein. Das Urteil ist jedenfalls gefällt, bevor dieses Buch aufgeschlagen wird, denn sein Inhalt polarisiert auch im 21. Jahrhundert. Es zeigt Menschen, die für Geld vor der Kamera miteinander Sex haben, und gibt ihnen sogar ein Forum, in dem sie über sich und ihre ‚Arbeit‘ sprechen können. Damit fällt die Fraktion derer, die der Pornografie als Unterhaltung, aus moralischen Gründen oder überhaupt abhold sind, als Leser (und Käufer) aus. „XXX“ ist freilich auch nicht für den durchschnittlichen Porno-Proll gedacht, der in der Videothek als Dauerkunde per Handschlag begrüßt wird.
Nein, hier hat sich ein echter (oder wenigstens anerkannter) Künstler des Themas angenommen, welches es nunmehr zu adeln galt, damit der freigeistig denkende, vorurteilsfreie, womöglich intellektuelle Interessent offen und ohne als Lustmolch/in gebrandmarkt zu werden zu diesem Buch greifen kann. Auf dass diese Rechnung aufgeht, bedienen sich Autor und Verlag des weiterhin bewährten „Playboy“-Prinzips: Zwischen diversen Fotostrecken, die an ausgelichteter Deutlichkeit und Schärfe nichts zu wünschen übrig lassen, erstrecken sich ausgedehnte Textpassagen, in denen große Geister ihren Esprit versprühen, wenn sie eloquent und gar mutig zugleich mit dem Verpönten flirten.
Fotos ohne Feigenblätter
Richten wir den Blick zunächst auf die gelungenen Seiten dieses Buches: die Porträts, wobei dieser Begriff großzügig auszulegen ist, da der Bildausschnitt definitiv nicht unterhalb des Halses endet. Sie lassen handwerkliches Geschick erkennen und verzichten auf tarnende Dekorationen, die aus der Kulisse ‚zufällig‘ ins Bild ragen und politisch korrekt das verhüllen, was nicht nur in den USA als Instrument des Teufels oder mindestens Privatsache gilt. Die Entscheidung, ob das Ergebnis nun als Kunst zu bezeichnen ist, muss zumindest dieser Rezensent denen überlassen, die mehr davon verstehen.
In der Kritik wurde viel Aufhebens davon gemacht, dass sich der Kontrast zwischen dem bekleideten und dem unbekleideten Darsteller in dessen Körperhaltung und Gesichtsausdruck widerspiegle. Es wurde davon gesprochen, dass sich mancher Pornodarsteller offenbar nackt wesentlich ‚freier‘ fühle als in Kleidern. Dem mag so sein, muss allerdings nicht. Es ist vermutlich als These ketzerisch, doch könnte der Unterschied auch mit Anstrengung zu begründen sein, weil Greenfield-Sanders von seinen Modellen forderte, möglichst identische Stellungen einzunehmen. Auf jeden Fall scheint es wieder einmal so zu sein, dass in erster Linie der Betrachter in die Züge der Porträtierten projiziert, was er oder sie dort zu sehen glaubt.
Immerhin kann Greenfield-Sanders eines klar herausstellen: Pornodarsteller beiderlei Geschlechts entsprechen selten den aktuellen Schönheitsidealen. Die männlichen Darsteller sind verständlicherweise südlich des Nabels erstaunlich gebaut, während der Restkörper, der dem unentbehrlichen Arbeitsinstrument als Fundament dient, mit Kleidern verhüllt in einer Menschenmenge kaum auffallen würde. Dasselbe gilt für viele Frauen, deren einziges sichtbares Zugeständnis an den Job der beachtliche Anteil von Silikon – zu dessen Applizierung anscheinend stets derselbe, chronisch unfähige Chirurg angeheuert wird – in ihren Oberkörpern ist. Aber hat denn vor der Lektüre dieses Buches jemand ernsthaft Anderes vermutet? Bewegung und das Geschick des Kameramanns sind neben einer gewissen Grundattraktivität sowie Spielfreude unentbehrlich für einen echten (Porno-) Star. Stillstehend und im grellen Scheinwerferlicht bleibt er oder sie – ein nackter Mensch.
Texte – blumig bis nichtssagend
Es sind vor allem die Alibi-Sentenzen, die das Vergnügen an einem prinzipiell interessanten Buch vergällen. Nicht dass wir uns falsch verstehen: Die Kritik richtet sich nicht etwa gegen eine zu geringe Zahl von Bildern, sondern gegen die Worte, mit denen wir malträtiert werden. Einige Texten deuten zwar an, dass man durchaus über Sex und Porno klug und nachdenklich und witzig schreiben kann. Doch solche raren Lichter verschwinden hinter dichten Wolken nichtssagenden, themenfernen, salbungsvollen Geschwafels, dessen Verfasser entweder dem Vergnügen frönen, sich selbst und ihre Schreibkunst darzustellen, oder sich geehrt fühlten, in einem Buch wie diesem veröffentlicht zu werden – eine „riskante Entscheidung“, wenn wir dem Vorwort Glauben schenken.
Nehmen wir als Beispiel Gore Vidal (1925-2012), der tatsächlich zu den „großen amerikanischen Intellektuellen“ zählte, als den ihn der Klappentext herausstellt. Vidal war aber auch ein Profi des Wortes, dem klingende Texte aus der Feder flossen, selbst wenn er im Grunde nichts zu sagen hatte. Zum Thema Pornografie fällt ihm nichts ein. Er reitet stattdessen seine Attacken gegen Amerikas Rechte, die Kirche und andere Menschenmanipulatoren, die er seit Jahrzehnten piesackte. Das liest sich durchaus vergnüglich, nur: Was soll es hier? Ganz einfach: Gore Vidal ist ein Name, auf den zu verzichten ein Verlag sich hüten wird. Vorteil 2: Ihn zu lesen beruhigt den potenziellen „XXX“-Leser und senkt die Hemmschwelle zum Bücherkauf.
Außer Vidal waren es 14 weitere, (mehr oder weniger) gesellschaftlich akzeptierte oder prominente Zeitgenossen, die sich – mit Geld oder guten Worten – als Gastautoren locken ließen. Im ausführlichen Verzeichnis werden sie mit ihren eindrucksvollen künstlerischen und/oder wissenschaftlichen und/oder wenigstens intellektuellen Meriten aufgelistet: John Malkovich, Schauspielerstar mit Independent-Touch! Lou Reed, Musiker mit wüster Vergangenheit, die ihn weise werden ließ! Salman Rushdie, seit Jahrzehnten von muslimischen Moral-Assassinen gejagt! Der gemeinsame Nenner ist: Fast alle diese Männer und Frauen liefern reine Gelegenheits- und Gefälligkeitstexte ab. Nur wenige bemühen sich um das Thema – so Rushdie, der wirklich etwas über die Rolle der Pornografie in den muslimisch dominierten oder diktierten Teilen der Welt zu berichten weiß.
Besser den Mund halten!
Ansonsten langweilt ein Sammelsurium bemühter, die Provokation (vergeblich) suchender Betroffenheits-Lyriker (Reed, Koestenbaum, Leroy), müder Wiederkäuer tausendfach diskutierter, debattierter Pro-/Contra-Porno-Argumente (Wattleton) oder der Geilheit unverdächtiger Wissenschaftler (Gray). Noch sinnloser sind das Thema völlig verfehlende Loblieder auf alte Underground-Kumpane (Waters), ungelenke Hymnen an die Macht des Sexus‘ (Hartley) oder witzlose Schwafeleien à la Whitley Strieber, den nunmehr sämtliche guten Geister verlassen haben und durch außerirdische Einflüsse ersetzt wurden, gegen die kein irdisches Medikament mehr etwas ausrichten kann.
Leider auch nicht lesenswerter erweist sich „XXX“ in seinem zweiten Textteil, in dem sich die fotografierten Darsteller zur eigenen Person äußerten bzw. äußern konnten, denn einige wollten oder konnten nicht, woraufhin einfach aus den Pressetexten diverser Pornofilmstudios zitiert wird, deren Wahrheitsgehalt denen der ‚seriösen‘ Hollywood-Studios entsprechen dürfte. Wer sich vpr der Lektüre dieser Essays und Kommentare in dem Glauben wähnte, von einem verborgenen Reich verbotener Lust bzw. sexuell-chauvinistischer Knechtung zu lesen, wird umgehend eines Schlechteren belehrt: Neun von zehn Schwerarbeiter des nackten Gewerbe haben nichts Bemerkenswertes zu berichten.
Die Biografien gleichen sich, unglückliche Kindheiten kommen vor, sind aber weder symptomatisch noch der Anfang vom unvermeidlichen Abstieg in den Pornosumpf. Dieser wird nie als solcher, sondern durchweg als abenteuerlicher Arbeitsplatz mit guten Verdienstmöglichkeiten und dem Privileg von Dienstreisen empfunden, die halt Sex in einem erloschenen Vulkan mit einschließen können. Manche Darsteller waren zuvor sogar erfolgreich in ‚richtigen‘ Jobs tätig; „Lexington Steele“, dessen Gemächt jeden Lippizaner-Hengst vor Neid erbleichen ließe, war z. B. als Börsenmakler aktiv (und vermisst in seiner aktuellen Karriere „die festen Regeln der amerikanischen Unternehmerkultur“, S. 193), wie überhaupt die angeblich so lockeren Berufsbeischläfer sich privat erstaunlich ‚normal‘ sogar spießig geben oder es sind- wieso auch nicht?
Intellektuell können diese Autoren definitiv nicht mit den Profis im „XXX“-Vorderteil mithalten. Das Unvermögen, etwas Interessantes zu erzählen, kommt immerhin angenehm unbemäntelt daher. Stolz werden obskure Auszeichnungen („für den besten Dreier“; „für die beste Oralszene in einem geschlossenen Klavier“ etc.) aufgezählt, gern die Gelegenheit für aktivistische Appelle wider den Rassismus, prüde Politiker und andere Widrigkeiten genutzt. Hier und da lassen sich dann doch nicht nur eigenwerberische Plappereien, sondern ehrliche Selbstäußerungen lesen, die verraten, was man ebenfalls annehmen konnte: Im Pornobusiness arbeiten auch Männer und Frauen mit Köpfchen; Sharon Mitchell hat inzwischen ihren Doktor gemacht.
Hübsches Buch, wenig Sinn
Der Realität des Pornofilms mehr Raum zu geben, hätte ein wirklich interessantes Buch bzw. eine eigenständige und gleichgewichtige Ergänzung det Fotos ergeben. Was bedeutet es, wenn Veteran Peter North enorme Veränderungen im Porno-Alltag der vergangenen Jahrzehnte andeutet? Gern würde man mehr von Nina Hartley erfahren, die ansatzweise vom absurden Alltag einer Pornodarstellerin und Nackttänzerin in einem prüden Land mit restriktiver Gesetzgebung berichtet. Wieso hat der einst spinnefeindliche Feminismus mehr oder weniger Burgfrieden mit der Pornografie geschlossen? Liegt Jenna Jameson richtig, wenn sie zum Job einer ‚richtigen‘ Schauspielerin keinen grundsätzlichen Unterschied und den Porno als Filmgenre mit eigenen Regeln und Instrument der Unterhaltung sieht?
Aber solche Fragen lagen nicht wirklich im Interesse von „XXX“. Die gar zu reale Pornowelt bleibt zugunsten einer sorgfältig gefilterten oder künstlerisch-künstlichen Scheinwelt ausgeblendet. Die Darsteller, denen eine scheinbar vorurteilsfreie geistige Elite die Hand reicht, werden in gewisser Weise tatsächlich ausgebeutet, zumindest aber manipuliert und nach den Vorstellungen und Wünschen der „XXX“-Autoren geformt.
So bleibt als Fazit zwar Anerkennung für die fotografische Leistung Greenfield-Sanders, aber kein Lob für die Texte seiner „klug schreibenden Freunde“ (Vorwort), die vermutlich nur in einem Land wie den USA Spießer vor Entsetzen und ‚Freigeister‘ vor Entzücken japsen lassen. Wer „A“ sagt, sollte auch „B“ wagen, doch das „XXX“-Team schafft nur ein „Ähhh …“ Dafür kann man das entstandene Buch aber außerhalb geschlossener Schranktüren präsentieren und damit Freunden und Besuchern, die das Buchregal mustern, tolerante Weltläufigkeit und erwachsenes Kunstverständnis demonstrieren.
Autor
Timothy Greenfield Sanders wurde 1952 im US-Sonnenstaat Florida geboren. Er studierte Kunstgeschichte an der Columbia University und Film am American Film Institute in Los Angeles. Als Fotograf arbeitet der Künstler seit mehr als zwei Jahrzehnten. Er hat es als Modefotograf zu einem großen Namen gebracht und sich klug auf das Porträtieren der Großen und/oder Prominenten dieser Welt spezialisiert.
Darüber ist Greenfield-Sanders selbst zum Star geworden. Seine Bilder erscheinen in den etablierten Hochglanz-Magazinen, sie hängen in den Sammlungen des Museum of Modern Art, des Metropolitan Museum, des Whitney Museum oder der National Portrait Gallery. 2004 erwarben das Museum of Modern Art und das Museum of Fine Arts in Houston 700 Porträtfotos von Greenfield-Sanders.
Als Filmemacher produzierte und inszenierte Greenfield Sanders 1997 die Dokumentation „Lou Reed: Rock and Roll Heart“. 1999 wurde er dafür mit einem „Grammy Award“ ausgezeichnet. 2004 setzte Greenfield Sanders den Dokumentarfilm „Thinking XXX“ in Szene, der die Arbeit an seinem Wanderausstellungsprojekt „XXX Porno-Stars in Portrait“ festhält, das in den USA großes Aufsehen erregte und wie geplant gleichermaßen gefeiert wie verdammt wurde.
Über das vielfältige Werk des Künstlers informiert dessen gebührend aufwändig gestaltete Website.
Paperback: 200 Seiten
Originaltitel: XXX – 30 Porn-Star Portraits (New York/Boston : Bullfinch Press 2004)
Übersetzung: Conny Lösch
http://www.randomhouse.de/heyne
Der Autor vergibt: