Hall, Sarah – Elektrische Michelangelo, Der

Sarah Hall ist international noch ein eher unbeschriebenes Blatt, in ihrer britischen Heimat wird sie allerdings schon als die |“vielversprechendste neue Stimme der englischen Literatur“ (The Independent)| gefeiert. Ihr Romandebüt „Haweswater“ wurde mehrfach ausgezeichnet und ihr Zweitwerk „Der Elektrische Michelangelo“ wurde 2004 gar für den Booker-Preis nominiert.

Cyril Parks ist der titelstiftende „Elektrische Michelangelo“. Anfang des letzten Jahrhunderts wächst Cy im Seebad Morecambe Bay an der englischen Nordwestküste auf. Seine Mutter führt direkt an der Bay ein Hotel, das überwiegend von lungenkranken Arbeiter aus den nahe gelegenen Industriestädten frequentiert wird. Cy, der schon immer ein talentierter Zeichner war, tritt in jungen Jahren eine Lehre bei Eliot Riley an. Keine gewöhnliche Lehre, schließlich dürfte Tätowierer kein anerkannter Ausbildungsberuf sein. Riley ist ein begnadeter Künstler, aber auch ein notorischer Trinker und ein draufgängerischer Querulant, der keinen guten Ruf genießt. Nur als Tätowierer ist seine Reputation tadellos.

Als Cys Mutter stirbt, nimmt Riley den Jungen ganz unter seine Fittiche. Cy lernt in dieser Zeit viel über die tiefen Abgründe des Lebens und die hohe Kunst des freihändigen Tätowierens. Als Riley dann in den 30er Jahren stirbt, packt Cy die Koffer und schifft sich nach Amerika ein. Sein neues Zuhause wird Brooklyn, der kunterbunte Schmelztiegel New Yorks. Als Tätowierer kommt Cy schon bald auf Coney Island unter, eine eigene Welt, wo das Können eines guten Tätowierer ein gefragter Dienst ist. Auf Coney Island herrscht der ewige Jahrmarkt vor den Toren New Yorks, mit Karussells und Freakshows, mit Zirkus und Hot Dogs.

Hier geht Cy seiner Arbeit nach, tätowiert Meerjungfrauen und Herzen auf Oberarme und trinkt abends im Varga, der Kneipe mit den siamesischen Kellnerinnen, einen Drink – bis die mysteriöse Zirkusakrobatin Grace mit einem äußerst ungewöhnlichen Auftrag an ihn herantritt und Cy sich in sie verliebt …

Schon inhaltlich erzählt Sarah Hall eine Geschichte, wie man sie nicht alle Tage vorgesetzt bekommt. Die Lebensgeschichte eines Tätowierkünstlers ist schon für sich genommen ein literarisch eher seltenes Vergnügen. Halls Figuren stehen fast allesamt am Rande des Gesellschaft. Menschen, die von der Masse belächelt werden, weil sie auf merkwürdige Art anders sind. Hall führt eine Reihe skurriler Figuren in die Geschichte ein. Der eigenbrötlerische Querulant Eliot Riley ist nur einer von ihnen. Auf Coney Island, im Trubel des ewigen Jahrmarkts, lernt Cy noch einige andere wunderliche Typen, allesamt Randerscheinungen der Gesellschaft, kennen. Da wären beispielsweise die siamesischen Zwillinge hinter dem Tresen des Varga, die an der Hüfte zusammengewachsen sind, da wäre das geradezu riesenhafte Pärchen Arthur und Claudia (er Tätowierer, sie Gewichtheberin) und da wäre die geheimnisvolle Grace, die ihre spärliche Wohnung mit ihren Pferd Maximus teilt.

Sarah Hall versteht es, den Leser größtenteils aufgrund ihrer Figurenbeschreibungen bei der Stange zu halten. Spannung im eigentlichen Sinn baut sie kaum auf. Sie unterhält den Leser einzig mit ihren sprachlichen Mitteln und der Figurenzeichnung. Und das ist absolut nicht langweilig. Cy wächst dem Leser schnell ans Herz und auch die übrigen Figuren gehen einem so schnell nicht aus dem Kopf.

Hall widmet sich einem faszinierenden Ausschnitt vom Rande der menschlichen Gesellschaft und erzählt dabei eine Geschichte, die dennoch mitten aus dem Leben gegriffen scheint. Halls Figuren haben Ecken und Kanten. Sie mögen noch so kurios erscheinen und noch so sonderbar wirken, sie wirken dennoch echt. Jeder trägt seine eigene dunkle Seite in seiner Seele, jeder Charakter hat ausgeprägte helle wie dunkle Züge. Die Figuren, die als ganz wesentlicher Bestandteil die Geschichte tragen, sind einer der unumstößlich positiven Aspekte des Romans.

Coney Island mit seinen merkwürdigen Freakshows, die stets darauf bedacht waren, die Andersartigkeit der Darsteller auf dem Silbertablett zu präsentieren, war zur damaligen Zeit für die Menschen ein Fenster zu weiten Welt. Man sah dort Dinge, die man sonst nirgends zu sehen bekam, von Missgebildeten bis zu Kleinwüchsigen. Man konnte staunen und sich ekeln, so dass von der ganzen Insel auch etwas Faszinierendes ausging. Im Zeitalter des aufkommenden Fernsehens und mit zunehmender Abstumpfung der Betrachter, wurden in den 50ern auch nach und nach die Attraktionen von Coney Island eingemottet. In der Rückschau betrachtet, sind sie ein faszinierendes Phänomen, das ein wunderbares Setting für einen Roman bildet und dessen Sarah Hall sich hier bedient.

Eine ähnliche Faszination geht vom Tätowieren an sich aus. Cy ist zu einer Zeit aufgewachsen, als höchstens Seeleute und zwielichtige Gestalten Tätowierungen trugen. Die Kunst, die Cy erlernt, hat einen verruchten, dunklen Charakter, der eine gewisse Faszination abstrahlt. Hall beobachtet das bunte Treiben im Tätowierstudio von Eliot Riley, erzählt kuriose Geschichten um Tätowierungen und Tätowierte, Geschichten zwischen Schönheit, Schmerz und Leidenschaft.

Doch nicht nur die Geschehnisse auf Coney Island und im Tätowierstudio von Morecambe Bay sind interessant erzählt, auch Cys Kindheit ist erzählerisch eine sehr gute Leistung. Der Grund liegt vor allem in Sarah Halls herausragender sprachlicher Fingerfertigkeit. Virtuos jongliert sie mit Worten und zeichnet im Kopf des Lesers farbenprächtige und plastische Bilder – ähnlich unauslöschlich, wie die Bilder, die Cy seinen Kunden mit der Nadel in die Haut ritzt.

Unumstößlicher Mittelpunkt der Geschichte ist Cy. Weitestgehend geht es um seine Arbeit. Sein Gefühlsleben verläuft eher unspektakulär. Er ist ein Einzelgänger, der nicht viele Kontakte pflegt. Eine solche Hauptfigur mag im ersten Moment etwas langweilig wirken, aber Cy geht seinen Weg und der Leser nimmt daran Anteil. Mit dem ersten Auftauchen von Grace kriegt die Geschichte dann genau das, was ihr bisher fehlte. Cy verliebt sich in sie und sie wird innerhalb der Handlung zu seinem Gegenpol. Sie bleibt stets geheimnisvoll, scheint etwas Magisches an sich zu haben, das nicht nur Cy fasziniert, sondern auch den Leser.

Etwas überraschend entwickelt sich der Roman auf den letzten 70 Seiten. Plötzlich kippt die Handlung, tragische Ereignisse nehmen ihren Lauf und erzeugen eine ganz eigene Spannung, die die Handlung zuvor nicht hatte. Es ist ein sehr deutlicher Bruch und im ersten Moment ist man versucht, ihn als unpassend zu schelten. Je näher dann allerdings das Finale rückt, desto mehr gewinnt man den Eindruck, dass das Buch genau so eine Wendung vielleicht auch braucht. Der Bruch in der Handlung hat einen gewissen Schockeffekt, aber er hat auch auf Figuren und Handlung genau diese Wirkung und es ergeben sich daraus Dinge, die man bei den Figuren anfangs nicht für möglich gehalten hätte.

Am Ende sind es alle großen menschlichen Gefühle, die der Roman in sich vereint, und das hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck. In „Der Elektrische Michelangelo“ spiegeln sich viele Facetten von Liebe, Schmerz und Lebensphilosophie, sowie die dunklen und auch die hellen Seiten der menschlichen Seele wider. Der Roman bekommt dabei trotz seiner kuriosen, „unnormalen“ Figuren etwas Universelles und schafft es deswegen auch, den Leser zu berühren. Letztendlich sind die Typen aus den Freakshows auf dem Jahrmarkt und die tätowierten Sonderlinge auch nur Menschen wie du und ich …

Bleibt unter dem Strich ein sehr positiver Eindruck zurück. Sarah Hall zeichnet sich durch einen wunderbaren, geradezu virtuosen Umgang mit Worten aus. Geschickt zeichnet sie mit Worten lebhafte Bilder und lässt die Lektüre zu wahrem Kopfkino werden. Liebevoll entwirft sie skurrile, aber liebenswürdige Figuren mit Ecken und Kanten, die so wirken, als wären sie direkt aus dem Leben gegriffen. Sie spiegelt die Facetten der menschlichen Emotionen wider und gibt ihrem Roman damit trotz der „Randgruppenthematik“ einen universellen Anstrich. Und zu guter Letzt widmet sie sich auch der geheimnisvollen Frage, was an in die Haut gestochenen Bildern so besonders und faszinierend ist.

http://www.liebeskind.de/