Gemischte Gefühle: gute Phantastik, mittelmäßige Sciencefiction
Die vorliegende Sammlung von Haubolds phantastischen Erzählungen aus den Jahren 2005 bis 2009 enthält unter anderem die 2008 mit dem Deutschen Science Fiction Preis ausgezeichnete Geschichte „Heimkehr“.
Zu finden sind hier unter anderem:
– die Titelgeschichte, die den Lebensweg der russischen Tänzerin Lena Romanowa beschreibt, die bei einem Gastspiel in ihrem Heimatort durch ein Attentat schwer verletzt wird und erst viele Jahre später aus dem Koma erwacht. Mit unglaublicher Energie lernt sie wieder laufen und sogar tanzen und feiert schließlich ein unglaubliches Comeback zwischen den Sternen.
– die Geschichte von den Planetenplünderern, die ihrerseits einem Wächtersystem zum Opfer fielen, welches seinerseits nicht auf die Schutzmechanismen der Föderation vorbereitet ist …
Der Autor
Selbstbeschreibung: „Ich bin 55 Jahre alt und schreibe seit rund 20 Jahren überwiegend Kurzgeschichten und Erzählungen. Nach dem Abitur habe ich Informatik an der TU Dresden studiert und nach ein paar Jahren Berufspraxis an der Humboldt Universität zu Berlin promoviert. Ich bin verheiratet und lebe mit meiner Frau in einem Dorf namens Waldsachsen nahe der Stadt Meerane auf halber Strecke zwischen Gera und Chemnitz.“
Bibliographie
A) Buchausgaben:
|“Am Ufer der Nacht“| (1997), Roman in Erzählungen.
|“Der Tag des silbernen Tieres“| (mit Eddie M. Angerhuber, 1999), EDFC Passau. Unter anderem mit der Erzählung |“Das Große Rennen“|, 2. Platz beim Deutschen Science Fiction Preis 2000.
|“Das Tor der Träume“| (Phantastische Erzählungen, 2001), EDFC Passau. Der Erzählungsband wurde für den Deutschen Phantastik Preis 2002 nominiert, zwei Geschichten für den Deutschen Science Fiction Preis und für den Deutschen Phantastik Preis.
|“Das Geschenk der Nacht“| (Phantastische Erzählungen, 2003), EDFC Passau. Zwei Geschichten wurden für den Deutschen Science Fiction Preis 2004 nominiert, die Story „Die weißen Schmetterlinge“ zusätzlich für den Deutschen Phantastik Preis 2004 (2. Platz).
|“Wolfszeichen“| (Phantastische Erzählungen, 2007), Edition Lacerta. Zwölf unheimliche Kurzgeschichten und Erzählungen aus den Jahren 1997 bis 2007.
|“Die Schatten des Mars“| (Episoden-Roman, 2007), EDFC Passau. Illustrierte Liebhaberausgabe (Hardcover, Leinen), ausgezeichnet mit dem Deutschen Science Fiction Preis 2008
|“Die Sternentänzerin“| (Collection, 2009), p.machinery Murnau. Zehn Science Fiction Erzählungen aus den Jahren 2005 bis 2009, Illustrierte Paperback-Ausgabe.
B) Als Herausgeber (Auswahl):
|“Die Jenseitsapotheke“| (Jahresanthologie 2006, EDFC Passau)
|“Die Rote Kammer“| (Jahresanthologie 2008, EDFC Passau)
|“Das Experiment“| (Jahresanthologie 2009, EDFC Passau)
C) Erzählungen (Auswahl):
|“Der Garten der Persephone“| (2001), in „Reptilienliebe“, Heyne
|“Der Mann auf der Brücke“| (2001), in „Weihnachtszauber“, Lübbe
|“Die Stadt am Fluß“| (2005) in „Der ewig dunkle Traum“, Blitz-Verlag
|“Die Legende von Eden“| (2005) in „Die Legende von Eden“, Shayol
|“Das Orakel“| (2006) in „Plasmasymphonie“, Shayol
|“Die Tänzerin“| (2007) in „Der Moloch“, Shayol
|“Heimkehr“| (2007) in „S.F.X.“, Wurdack
|“Die Gänse des Kapitols“| (2010) in „Weltraumkrieger“, Atlantis
Die Erzählungen
_1) |Der Tausendäugige|_
Ein Team von interstellaren Schatzsuchern dringt in einen gesperrten Raumsektor ein und landet schließlich auf einem seit Jahrhunderten verlassenen Planeten. Während Kommandant Nik Thornton das Unternehmen rücksichtslos vorantreibt, sorgt sich die ansonsten ehrliche Pilotin Liza Santini um die Sicherheit seiner Gefährten. Je weiter der Landungstrupp in die vergessene Stadt der Kalaniden vordringt, desto stärker werden ihre Befürchtungen. Doch die diversen Abtaster finden kein Anzeichen von Leben.
Thornton & Co. dringen mit einer Sprengung des Tores in einen Würfel der Stadt und stoßen auf einen Schatz. Als sie die Artefakte abtransportieren wollen, wird Carter von einem Pfeil aus dem Nichts beschossen und getötet. Weitere Pfeile zwingen die Plünderer in Deckung. Thornton befielt Liza, Sprengbomben zu werfen, doch ein Gegenangriff erfolgt nicht. Die Lage bleibt ruhig, was Liza umso nervöser macht. Aber es ist zu spät: Die Nanoorganismen haben bereits alle Angehörigen des Teams infiltriert. Für sie kommt jede Hilfe zu spät, doch auch Liza in der Landefähre wird schnell bewusstlos.
Der Abwehrorganismus „Argos“ hat die Eindringlinge einen nach dem anderen unschädlich gemacht. Seine kalanidischen Schöpfer haben diese Welt zwar schon längst verlassen, doch ihre Schätze sind immer noch zu bewachen. Durch den Kontakt neugierig geworden, kapert Argos das Schiff der Fremden, um zu ihrer Heimatwelt aufzubrechen und dort allerlei Unheil anzurichten. Doch der Nano-Roboter hat nicht mit den Tücken des Hypernets gerechnet, das sich ebenso als Portal wie als Falle einsetzen lässt …
|Mein Eindruck|
Der Autor hat seine Story dankbarerweise A. E van Vogt gewidmet, einem Veteranen aus der goldenen Ära der Sciencefiction. Van Vogt lieferte offensichtlich auch die Vorlage für die Ausgangssituation. In seiner berühmtesten Erzählung „Schwarzer Zerstörer“ aus dem Jahr 1939 gelangt eine Forschungsexpedition auf den Planeten des titelgebenden Raubtiers, das sich allerdings als äußerst intelligent und rücksichtslos erweist. Es infiltriert das Raumschiff, doch mit einem Trick kann man es wieder loswerden. Die Parallelen zu Haubolds Story sind verblüffend.
Diesmal tritt der Wächter einer verschwundenen Zivilisation in der Manier H.P. Lovecrafts auf, um eine Gruft und Schatzkammer vor der Plünderung zu beschützen. Natürlich wirkt der Fluch der Grabkammer wie schon bei den Pharaonen, doch funktioniert die Abwehr nicht übernatürlich, sondern auf Nanobot-Basis. Für Liza Santini sieht es aus, als griffe eine Gaswolke an. Das klingt doch schon wesentlich moderner als van Vogts Supertiger.
Die letzten zwei Szenen sind auch recht gelungen. Argos macht eine kleine Fehlkalkulation beim Eintritt in das Hypernetz, und Liza Santini findet wider Erwarten Gelegenheit, sich an dem fiesen Tippgeber zu rächen, der sie und die Plünderer auf eine so gefährliche Welt schickte. Klassische Abenteuer-SF und eine runde Sache.
_2) |Die Tänzerin. Le sacre du printemps|_
Russland ist im Jahre 2044 ein Kriegsschauplatz. Als die berühmte Balletttänzerin Lena Romanowa während einer Tournee ihre Jugendliebe Sergej wiedertrifft, folgt sie aus einer Laune heraus dessen Einladung zu einem Auftritt in ihrer Heimatstadt Melenki, die sie vor über dreißig Jahren verlassen hat. Melenki liegt in einer umkämpften Zone. Die Fahrt dorthin wird zu einer Reise in die Vergangenheit, doch Lenas Tanz auf der Bühne des alten Kulturhauses endet in einem Anschlag …
Über 18 Jahre später erwacht Lena aus ihrem Koma und bekommt neue Beine. Im Jahr 2063 tanzt sie wieder an Bord der großen Linienraumschiffe, die zum Mars fliegen. Erst als wenige Jahre später ihr deutscher Partner stirbt, sieht sie das Ende ihrer Laufbahn gekommen, sie ist nun fast siebzig Jahre alt. Doch es gibt noch eine wichtige Sache zu erledigen, flüstern die Schatten des Mars ihr zu. So wie damals in den Außenbezirken Moskaus, als sie vor den Landstreichern das „Frühlingsopfer“ tanzen wollte, muss sie noch einmal ihre Kunst zeigen …
|Mein Eindruck|
Obwohl die Geschichte chronologisch und leicht verständlich erzählt ist, ist sie inhaltlich doch recht komplex. Zahlreiche Themen werden durch Rückblenden und inneren Monolog eingefangen, insbesondere die Themen Liebe, Kunst und Krieg. Die Kunst besteht selbstverständlich in der Verbindung aus Musik und Tanz, wohingegen der Krieg lediglich in seinen Auswirkungen auf die Künstlerin zu spüren ist: Er hat ihr den Vater genommen, weshalb sich die Mutter zu Tode trank. Und er hat Lena den Geliebten genommen, der in den vorderen Reihen des Theaters saß, als der Anschlag erfolgte. Nicht zuletzt ist auch sie eine Versehrte …
Deshalb ist durchaus bemerkenswert, dass Lena nicht wie Vater und Mutter aufgeben oder ins Nichts verschwinden, sondern trotzig ihr Schicksal annimmt. Auf dem zweiten Höhepunkt ihrer Laufbahn schlägt der Tod wieder zu, reißt ihr den Partner von der Seite. Wahrscheinlich fühlt sie in diesem Moment, dass sie dem Tod ein Opfer schuldet. Später werden die Russen auf dem Mars zu „Lenas Garten“ pilgern, denn dort wächst das grünste Gras …
In der Mitte gibt es eine sehr schöne, ziemlich unheimliche Gruselszene, als Lena glaubt, im Elternhaus dem Geist ihrer Mutter zu begegnen. Das ist ein weiterer Beleg dafür, dass der Autor auch sehr gut Horror und Phantastik schreiben kann.
_3) |Die Heilige Mutter des Lichtes|_
200 Jahre nach der Verwüstung Mitteleuropas. Nach dem Tod der alten Schwester Matisse wird die junge Novizin Tiana zu einer Hüterin der Schwesternschaft ernannt. Zum ersten Mal darf sie am Ritual der Weihe eines Neugeborenen teilnehmen. Im Kreise der Zwölf sieht sie sich in einem unterirdischen Kuppelsaal der „Heiligen Mutter des Lichtes“ gegenüber – einer wundertätigen Statue, der die Bewohner des „Netzes“ ihr Überleben in der Wüste verdanken.
Doch weder Tiana noch ihre Schwestern ahnen etwas von der wahren Natur ihrer Schutzheiligen. Diese offenbart sich, sobald die Hüterinnen den Saal mit dem geblendeten Neugeborenen verlassen haben …
|Mein Eindruck|
Als die heimlichen Arbeiter hinter der Statue hervorkommen und sich einige Scherze erlauben, kippt die weihevolle Stimmung der ersten Häfte der Geschichte unversehens ins Frivole um. Der ostdeutsche Autor hatte offenbar nicht die Absicht, dem Vatikan eine Heiligenlegende zu kredenzen, sondern entzaubert die ganze Ordensschwesternschaft als arme, irregeleitete Irre. Das macht den kleinen, vom Laser der titelgebenden Statue geblendeten Säugling aber auch nicht wieder sehend. Und nur männliche Babys werden so verstümmelt. Daher blieb bei mir ein bitterer Nachgeschmack.
Der Autor meint hierzu: „Das „Projekt PACEM“ dient nicht dem Amüsement der Beteiligten, sondern wurde ins Leben gerufen, um den Kreislauf von Krieg, Wiederaufbau und Krieg zu durchbrechen, den die Protagonisten in der männlichen Aggressivität verortet haben. Die Mitglieder der Wartungscrew existieren nur noch als elektronische Wesenheiten und ihr Schicksal ist eher tragisch, während die matrizentrische Gesellschaft in den Bio-Habitaten recht gut gedeiht.“
_4) |Ein gastfreier Planet|_
Der erfahrene Saatgut-Verkaufsprofi Mike Golden ist nicht glücklich darüber, dass ihm an Bord der „Demeter“ ausgerechnet eine Frau als Kommandantin vor die Nase gesetzt wurde, zumal ihm die „Kommandeuse“ Agneta Lindström unterwegs nicht viel mehr als die kalte Schulter zeigt. Das spärlich bekleidete weibliche Empfangskomitee auf GO 42 erscheint ihm daher gerade recht, um sich für die erlittenen Demütigungen zu entschädigen. Die Amazonen reiten so spärlich bekleidet auf ihren Spezial-Dildo-Sätteln, dass Mike erst die Augen aus dem Kopf fallen und dann sein Ständer tätig werden will. Doch er hält sich zurück, denn die Rede der Amazonen ist von „Wildlingen“, auf die sie mit Aggressivität reagieren. Was könnte damit gemeint sein?
Als er sich in den nahen Wald verzieht, fällt ihm eine unbewaffnete Amazone direkt vor die Füße: Sie hat sich den Fuß verstaucht. Kaum hat er sie erfolgreich beschwichtigt und fachgerecht verarztet, kann er ihrer unzweideutigen Einladung nicht widerstehen. Die Love Session in ihrer Höhle wird er niemals vergessen, denkt er. Dann bricht sie ihm das Genick und beginnt, ihn fachgerecht auszuweiden. Schließlich wollen andere auch noch was von diesem Wildling …
|Mein Eindruck|
Die Story ist Michel Hoellebecq gewidmet, dem bekannten Autor von „Elementarteilchen“, der vor keinerlei machomäßigen Schilderungen zurückschreckt. Ähnlich wie manche „Helden“ dieses Autors führt sich auch Mike Golden auf: wie im erotischen Selbstbedienungsladen. Sein Macho-Zynismus ist abstoßend, und das war wohl auch die Absicht des Autors. Deshalb erschreckt uns Mikes Ende keineswegs, sondern kommt uns wie seine verdiente Strafe für seine Amoralität vor.
Nur der Verweis auf „Arrakis’ Friend“ war mir eine Anbiederung des Autors an die SF-Fans zu viel (Arrakis = DUNE = Wüstenplanet). Jedes Universum in einer Story sollte für sich stehen, es sei denn, es ist kontingent mit dem gleichen Universum in einer anderen Story des gleichen Autors, etwa bei Asimov oder Heinlein (Future History).
_5) |Das Schiff|_
Die Armada ist die größte Sternenflotte, die die Allianz in den fünfhundert Jahren ihres Bestehens in den freien Raum entsandt hat, doch ihre Mission steht unter keinem guten Stern. Auf dem ersten Planeten, einer Wasserwelt, verschwinden zwei Trupps von Menschen und wenig später desertieren zwölf Mitreisende in einem kleinen Schiff, werden aber sofort verfolgt.
Bereits die erste Fehlentscheidung des Militärs löscht auf der Wasserwelt eine intelligente Meereszivilisation aus und ruft eine uralte Macht auf den Plan, deren Entscheidungen unumstößlich sind: Die Armada hat keine Chance, wohl aber die Flüchtlinge und ihr Verfolger …
|Mein Eindruck|
Das alte Muster von Frevel und Strafe ist in eine Art Heiligenlegende eingewoben, mit der das Schicksal der Zwölf geschildert wird. Die Zwölf ist in der Bibel eine heilige Zahl, denn es gibt nicht nur zwölf Apostel, sondern auch zwölf Brüder des Joseph und noch vieles mehr. Kein Wunder also, dass der Satz „Sie waren zwölf“ mehrfach in Bibeltonfall wiederholt wird. Mit dem Satz „Dann waren sie zwölf, und aus irgendeinem Grunde wussten sie, dass sie nunmehr vollzählig waren“, treibt der Autor den pseudobiblischen Mystizismus auf die Spitze. Dabei ist diese weihevolle Heiligenverehrung nur dadurch gerechtfertigt, dass diese Zwölf fast die einzigen Überlebenden der Erde sind.
Tja, und dann ist am Anfang und Schluss noch die Rede von einem enorm großen Schiff, das aber irgendwie überhaupt nichts mit dem Rest der Geschichte zu tun zu haben scheint. Dieses Detail hat mich ziemlich ratlos zurückgelassen. Mir kam die Story unfertig vor und in ihrem Kern wie die Überarbeitung eines Textes aus den seligen DDR-Zeiten.
_6) |Die Stadt am Meer|_
Die „Stadt am Meer“ ist ein idyllischer Ort, der dem Dichter Friedrich Grünfeld alles bietet, was er sich wünschen kann. Doch über allem liegt der Schatten einer Vergangenheit, zu der der Schriftsteller keinen Zugang mehr findet. Die apokalyptischen Bilder, die er nur im Traum-Rausch zu sehen vermag, ängstigen ihn, sind aber gleichzeitig der einzige Quell seiner Inspiration. Als ihn seine Geliebte Malia verlässt und ihm die Traum-Tickets ausgehen, trifft Friedrich eine folgenschwere Entscheidung: Er erschießt seinen Traum-Dealer Rico.
Sogleich beginnt die Welt um ihn herum in Trümmer zu fallen, bis er getroffen wird und alles in Schwärze versinkt. Eine Stimme weckt ihn. Erst sind die Worte nur bruchstückhaft zu verstehen, dann wird ein Satz daraus: „Leutnant Grünfeld, können Sie mich verstehen?“ Die Sprecherin ist eine Krankenschwester in blauem Kittel, die aussieht wie Malia. Maria? Grünfeld nickt. Wo ist er?
Sie sagt ein paar Worte, die bewirken, dass seine Erinnerung vollständig zurückkehrt. Es herrschte Krieg, und Leutnant Grünfeld führte eine Gruppe Soldaten. Wer war der Gegner noch gleich? Sogenannte „Shak“. Granateneinschläge legten das Haus hinter ihnen in Trümmer. Dann weitere Granateinschläge – und nichts mehr. Schwester Maria liest aus seinem Gedichtband vor und lächelt. Ob sie wohl mit ihm ausgeht – in eine kleine Stadt am Meer?
|Mein Eindruck|
Die Alternativwelt, die sich der bettlägerige Soldat erträumt, ist erotisch, sinnlich, entspannt. Malia nennt er seine „Katzenfrau“, und sie liebt es, ihn zu beißen. Grünfeld schlägt sich als abgebrannter Dichter durch. Jedenfalls solange bis er den Angler trifft. Der teilt ihm ein paar unangenehme Wahrheiten mit, die Friedrich nicht wahrhaben will. Die Welt beginnt an den Rändern zu bröckeln, bis es zum Kataklysmus kommt, als Rico, sein Traumverkäufer, mit ihm Russisch-Roulette spielen will.
Die Handlung ist schrittweise und konsequent aufgebaut, doch muss der Leser auch entsprechend viel Geduld aufbringen, weil so wenig passiert. Dafür verändert sich in der Hauptfigur um so mehr. Endlich kommt dann die Wende, und der Träumer erwacht. Dieses Motiv findet sich zahllose Male in der literarischen und cineastischen Phantastik: Das Leben ist ein Traum. Zuletzt etwa in „Inception“ von Christopher Nolan.
Worauf es ankommt, ist der Nutzen, den der Träumer hat, und die Ursache des Traumas, das im Traum überwunden werden soll. Diese Erklärung muss die Pointe liefern. Hier hätte ich von der Geschichte einen schockierenden Tiefschlag erwartet, beispielsweise dass Grünfelds Körper teilweise amputiert wurde, doch ich wurde mit einem pseudo-versöhnlichen Schluss abgespeist.
_7) |Das ewige Lied.| Rilke gewidmet_
Der Pilot Christoph ist jung wie die meisten der Freiwilligen, die die Admiralität rekrutiert hat. Auf dem Weg zum Einsatzort durchqueren sie lichtlose Abgründe und begegnen ausgebrannten Nomadenstädten, bevor sie auf Pendragon, der letzten Bastion der Menschheit vor dem Niemandsland, zur Flotte stoßen. Von einem Seher wird Christoph als Aufklärungsflieger ausgewählt. Als die Armada aufbricht, fliegt er mit seinen Gefährten voran, bis sie auf eine Nomadenstadt treffen, die wie durch ein Wunder verschont geblieben ist. Man teilt ihm mit, dass es sich um Joyous Gard handelt, ein „Kunstwerk“.
Tatsächlich ist diese durchs All treibende Stadt unter ihrem Kraftfeld anders. Statt hoher Wolkenkratzer, zwischen denen Verkehr strömt, finden die Piloten in ihren Kampfjets hier eine ländliche Idylle vor, über der ein Schloss emporragt. Dort werden sie freundlich zu einem Fest empfangen, als ob die Herrschaften schon auf sie gewartet hätten. Wie seltsam.
Dennoch lässt sich Christoph den Wein schmecken, und O’Brien tanzt mit einer Blondine. Christophs Blick fällt auf die edle Genevra, die ihm später in den Hof folgt, um ihn in ihre Kemenate einzuladen. Dort spenden sie einander Trost, Liebe und Wärme. Doch Christoph erwacht allein und umringt von einem Flammenmeer. Es gelingt ihm gerade noch, dem Brand zu entfliehen und in seinem Kampfjet aufzusteigen. Da entdeckt er den Feind. Ist es ein … Drache?
|Mein Eindruck|
In dieser allegorischen Erzählung sollte man kein Wort wörtlich nehmen, denn dies würde in die Irre führen. Vielmehr erinnert die Geschichte mit ihren deutlichen Bezügen (Pendragon, Lancelot, Genevra) an nichts so sehr wie an die Artus-Legende vom Grünen Ritter. Darin muss der Ritter der Tafelrunde mehrere Treueprüfungen bestehen, bevor er sich dem schrecklichen Grünen Ritter stellen kann.
Christoph allerdings versagt in seiner Prüfung. Er ist seiner Freundin Magdalena nicht treu. Von dieser träumt er, sie wäre wie Jesus ans Kreuz genagelt, doch wenn er sie befreit, beißt sie ihn wie ein Vampir. Ihre Doppelnatur bzw. seine ambivalente Haltung zu ihr ist offensichtlich. Er fürchtet, sie zu verraten. Und das tut er dann auch, wen wundert’s.
Nach Angaben des Autors handelt es sich bei der Geschichte um eine „fast 1:1 SF-Nacherzählung von Rilkes seinerzeit wohl berühmtestem Werk, der „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“. Siehe [hier]http://de.wikisource.org/wiki/Die__Weise__von__Liebe__und__Tod__des__Cornets__Christoph__Rilke .
Der Besuch des Ritters auf dem Schloss, wo ihn die Liebe erwartet, ist ein typisches Motiv des Fin de siècle. Am Schluss bleiben zahlreiche Fragen unbeantwortet, und ich fand mich wieder einmal unzufrieden zurückgelassen. Und die Idee mit den fliegenden Städten hat der Autor von James Blish geborgt. Deshalb sollte die Widmung vielleicht nicht Rilke gelten, sondern Blish.
_8) |Heimkehr|_
Wie jedes Jahr vor den Weihnachtstagen besucht der Wissenschaftler Prof. Bernhard Kravitz den kleinen Ort Niederlahr, in dessen Nähe er früher gelebt und in dessen Institut er bis 2012 gearbeitet hat. Im Restaurant „Zum Löwen“ trifft er auf den UN-Ermittler Mulders, der noch immer versucht, das Geheimnis der mysteriösen Barriere aufzuklären, die das Institut seit jenem Ereignis vor acht Jahren von der Außenwelt trennt. Mulders vermutet, dass Professor Kravitz in den Fall verwickelt ist, hält sich aber mit Schuldzuweisungen zurück. Denn auch Kravitz‘ Frau Miriam ist hinter der unsichtbaren Mauer eingeschlossen.
Zu Kravitz‘ Erstaunen befinden sich Mulders und sein Assistent Kwang auf der richtigen Spur. Kravitz hat am Vorabend des Ereignisses anno 2012 tatsächlich den russischen Geologen Sergei Komarov in Boston getroffen. Dem Treffen war aber bereits eine geheime Materialübergabe vorausgegangen. Komarov hatte ihm vier kleine Kügelchen übergeben, die jedoch von einer fremden Substanz waren: sehr schwer und von einem sibirischen Meteroiten stammend. Kravitz sollte sie, da die Analyse Komarov nicht gelungen war, mit seinem Synchrotron beschießen und das Ergebnis analysieren. Gerade als Kravitz seinen Kollegen in Boston traf, erfolgte dieses Experiment – und das Ereignis war das Resultat: die Barriere ….
Was Mulders nun nahelegt, ist der Umstand, dass es bei diesem Material nicht um außerirdisches Material im herkömmlichen Sinne handelt, sondern um Produkte einer außerirdischen Zivilisation, also um ein technisches Produkt. Doch zu welchem Zweck? Als Kravitz zum richtigen Schluss gelangt, ereignet sich eine entscheidende Wende in Realität …
|Mein Eindruck|
Endlich mal eine rundum zufriedenstellende Geschichte! Sie liest sich wie das Exposé zu einem Science-Fiction-Roman, der von Andreas Eschbach stammen könnte. Die Handlung bringt Elemente aus „Armageddon“, Robert Sawyers „Flash Forward“ und Stephen Kings „Die Arena“ zusammen, um eine recht menschliche Geschichte zu erzählen. Auch die Aliens wollen bloß heimkehren, genau wie Kravitz. Das Phänomen des Robinson-Syndroms liefert dabei einen psychologischen Hinweis: Die Bewohner der Stadt verlassen ihr Zuhause, so dass die Barrieren-Zone zu einer Insel wird.
Eine Romanfassung müsste allerdings Miriams Standpunkt miteinbeziehen, um so eine emotionale Wärme in die sachliche und ziemlich kühle, eben wissenschaftliche Atmosphäre dieser Geschichte einzubringen.
_9) |Der Wunderbaum|_
Dreißig Jahre nach dem mysteriösen Verschwinden seiner Tochter Jasmin kehrt Gabriel Grünberg an den Ort des Geschehens zurück. Im örtlichen Gasthof erfährt er von der jungen Wirtin Hanna, dass das alte Forsthaus wieder vermietet ist – an einen Geologen und Meteoritenexperten namens Fehrmann, der am Amselsee seinen Forschungen nachgeht. Nach einer wunderbaren Nacht an der Seite von Hanna in seinem Bett macht sich der Schriftsteller auf den Weg zum Forsthaus. Vielleicht kann er endlich mit der schrecklichen Last der Vergangenheit abschließen.
Doch das Forsthaus, in dem seine Familie bis zu Jasmins Verschwinden lebte, ist verlassen und die Bohrstelle am nahegelegenen Amselsee verwaist. Der Geologe bleibt wie Jasmin unauffindbar, und nur ein am Boden liegender Camcorder verspricht Aufschluss zu geben über das, was hier geschehen sein mag. Am Waldrand fällt Gabriel eine große Silberweide auf, die geradezu zu leuchten scheint, als rufe sie ihn. Die Filmaufnahmen auf dem Camcorder bestätigen seinen Eindruck. Er hätte aber nie erwartet, dass der Filmende auf den Baum zulaufen und dabei „Vera!“ rufen würde …
|Mein Eindruck|
Diese gelungene und sehr stimmungsvolle Erzählung ist der Beweis, dass der Autor auch Urban Fantasy ohne Probleme schreiben kann. Da fällt mir der Name des Kanadiers Charles de Lint ein, über den ich schon mehrmals geschrieben habe („Yarrow“, „Grünmantel“, „Into the Green“). Die phantastische Begebenheit ist eingebettet in eine realistisch eingefangene Gegenwart, doch der Naturraum und seine spezielle Stimmung bilden die Brücke – um jenen schrecklichen Verlust der Tochter zu erklären und so eine Lösung des Problems zu ermöglichen. Kein Wunder also, dass auch Gabriel Grünberg spurlos verschwindet …
_10) |Die Legende von Eden|_
Folgendermaßen beginnt die LEGENDE: Als Gegenleistung für ihre Begnadigung verpflichten sich die beiden Sträflinge David Green, ein Kybernetiker, und William Jefferson, ein Exsoldat, das Schicksal des Prospektorenschiffes „Argo“ aufzuklären, zu dem schon vor Monaten der Kontakt abgebrochen ist. Im Zielsystem angekommen finden sie die „Argo“, die der Merkantilen Allianz MEDEA gehört, äußerlich unversehrt, aber verlassen vor.
Dave und Bill sind schockiert: Aus den Videoaufzeichnungen geht hervor, dass einige Besatzungsmitglieder vor Ort Selbstmord begangen haben, doch der Schlüssel zu den Ereignissen liegt anderswo – auf dem Planeten Eden, den das verlassene Schiff noch immer umkreist. Also müssen sie mit der zweiten Fähre „Castor“ hinunterfliegen. Sie landen unweit der „Pollux“, doch diese ist leer.
Mit dem Landrover folgen sie den Spuren eines anderen Landrovers zum Meer und fragen sich, was ihre Vorgänger dort gesucht haben mögen. Dave fällt auf, dass das Meer viel zu blau ist und die Wiesen viel zu grün – etwas stimmt hier nicht. Ist alles nur eine Vorspiegelung, die ihnen jemand vorgaukelt, um sie in eine Falle zu locken? Am Strand sind sie auf einen Angriff gefasst. Doch dann nähert sich ihnen aus dem Meer eine Gefahr, der sie nichts entgegenzusetzen haben …
Mein Eindruck
Sofort kommt dem SF-Freund angesichts solcher Szenarien Stanislaw Lems Roman „Solaris“ in den Sinn, aber auch einige frühe Romane und Stories von Philip K. Dick. Natürlich ist das Mädchen, das Dave (nein, nicht Bowman!) in seiner Illusion trifft, dunkelhaarig und heißt Lisa – und natürlich essen sie Eis zusammen. Sie ist seine jüngere Schwester – genau wie bei Dick, der seine Zwillingsschwester im Alter von nur wenigen Tagen verlor und zeit seines Lebens vermisste (siehe Lawrence Sutins Dick-Biografie).
Aber die fremde Intelligenz, die Daves Innerstes kennt und ihm zeigt, hat nicht nur Trost auf Lager. Als er zu Bill zurückkehrt, wartet dieser mit einigen neuen Informationen auf. Nun da sie nicht mehr von der MEDEA-Zentrale abgehört werden – Bill hat die „Castor“ gesprengt und der Sender der „Pollux“ ist tot – kann er es Dave ja sagen: Rachels Tod war eine abgekartete Sache und somit auch Daves Veurteilung als ihr vorgeblicher Mörder. Nun haben die beiden ein Motiv, um es der MEDEA heimzuzahlen, denn deren Verbrechen sind zahl- und namenlos …
Die Novelle wirkt ebenfalls wie ein Romanentwurf, wie so viele dieser Geschichten. Der Autor behilft sich am Schluss mit dem plumpen Trick, die Legende von Bill und Daves Heldentaten von einer Dokumentation herunterrattern zu lassen statt sie à la DUNE ausführlich in Szene zu setzen. Dafür wäre ja auch gar kein Platz gewesen.
Schwächen des Textes
Seite 25: „mon capitan“: eine Mischung aus Frz. und Spanisch. Richtiger: „mon capitaine“.
Seite 81: „unter eine(r) Idee fixe“.
Seite 147: „Dann waren sie zwölf, und aus irgendeinem Grund wussten sie, dass sie vollzählig waren.“ Grammatisch völlig korrekt, aber ganz schlechter Stil.
Seite 155: „voll Vertrauen, das(s) ihnen nicht geschehen konnte …“
Unterm Strich
Die meisten Erzählungen dieser Sammlung sind auch für Leute leicht zu lesen, die nichts mit Zukunftsliteratur am Hut haben, sondern vielleicht nur mal etwas lesen möchten, das über den Bezirk der gewohnten Wirklichkeit hinausgeht. Es muss ja nicht gleich Fantasy à la Harry Schotter sein. Auch eine Urban Fantasy in der Tradition von Charles de Lint ist von Haubold durchaus stilvoll realisiert worden, siehe „Der Wunderbaum“, der Anfang von „Die Hl. Mutter des Lichtes“ und „Heimkehr“. Ich könnte mir sehr gut einen entsprechenden Roman vorstellen.
Die zweite Kategorie von Erzählungen umfasst allegorische Geschichten wie die Artus-Pastiche „Das ewige Lied“, „Die Tänzerin“ und vor allem „Die Stadt am Meer“. Während „Die Tänzerin“ noch am realistischsten davon ist (trotz der Geisterszene), überschreiten die beiden anderen Geschichten doch die Grenzen der jeweiligen Realität um einiges. „Die Stadt im Meer“ stellt heilsamen Traum und traumatische Krieg einander gegenüber, in „Das ewige Lied“ ist eine Ritterlegende über Treue und betrogene Jugend umgesetzt. Alle diese Erzählungen sind ungewöhnlich stimmungsvoll umgesetzt und fast immer spannend bis zum Schluss. Allerdings war ich mit den Schlüssen nicht immer einverstanden. Am gelungensten ist zweifellos der in der Titelgeschichte „Die Tänzerin“.
Die genremäßig ausgeführte Sciencefiction bildet die dritte und letzte Kategorie von Erzählungen. Dazu gehören „Der Tausendäugige“, der van Vogt zitiert, „Ein gastfreier Planet“, der an Robert Sheckley erinnert und schließlich „Die Legende von Eden“, indem sich „Solaris“, DUNE und Philip K. Dick die Hand zu reichen scheinen. Diese Storys sind für den Kenner ganz passabel, aber oftmals mit einem Makel behaftet. Das liegt wahrscheinlich, dass nichts an die gewohnten Klassiker heranreichen darf. Eine Ausnahme bildet „Das Schiff“, das ich keinem Vorbild zuordnen konnte, das aber in seiner bibelhaften Pseudomystik schwer verdaulich ist.
Der Autor verfügt also, wie man sieht, nicht nur thematisch über eine große Bandbreite, sondern auch stilistisch. In puncto Stil kann er sich noch erheblich verbessern, und wenn die Produktionsbedingungen und der deutsche Markt für SF ein wenig günstiger wären – etwa so wie in Großbritannien – dann könnte Haubold mehr Mühe in seine SF-Geschichten stecken. Und er könnte aus seinen noch besser gelungenen phantastischen Erzählungen auch diejenigen Romane formen, die in ihnen stecken – sofern sie jemand hierzulande lesen (und drucken) möchte. Ich zumindest würde sie sehr gerne lesen.
Taschenbuch: 312 Seiten
ISBN-13: 978-3839134559
p.machinery
_Frank W. Haubold bei |Buchwurm.info|:_
[„Die Legende von Eden (und andere Visionen)“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1990
[„Rattenfänger (Magic Edition, Band 8)“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2249
[„Das schwerste Gewicht (EDFC Jahresanthologie 2005)“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2352
[„Die Jenseitsapotheke (EDFC Jahresanthologie 2006)“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3256
[„Das Mirakel (EDFC Jahresanthologie 2007)“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4577
[„Wolfszeichen“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4716
[„Die Schatten des Mars“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4726
[„Fenster der Seele“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4788