Jeffery Deaver – Letzter Tanz (Lincoln Rhyme/Amelia Sachs 2)

Ein genialer Killer räumt Zeugen aus dem Weg, die einen kriminellen Geschäftsmann belasten könnten. Die ratlose Polizei heuert den fast vollständig gelähmten aber detektivisch weiterhin erfolgreichen Lincoln Rhyme an, der sich mit dem Killer ein erbittertes Duell liefert … – Der zweite Lincoln-Rhyme-Thriller kann auf den Überraschungseffekt des ersten – dieser Detektiv ist wahrlich gehandicapt! – nicht mehr zählen, unterhält aber durch einen soliden Plot, überraschende Wendungen und interessante Figuren: Thriller-Unterhaltung auf hohem handwerklichen Niveau!

Das geschieht:

Schon lange sind die US-Behörden hinter Waffenhändler Phillip Hansen her. Offenbar nervös geworden, hat er sich belastender Beweisstücke entledigt, indem er sie bei einem Flug über das Meer abwarf. Leider gibt es drei Zeugen, weshalb Hansen den „Totentänzer“ anheuert – einen Killer, der seinen Spitznamen einer Armtätowierung verdankt: Der Tod tanzt mit seinem nächsten Opfer vor einem offenen Sarg. Mehr ist über den fanatischen Attentäter nicht bekannt, der berühmt dafür ist, jeden Auftrag zu Ende zu führen und auch hier schnell für Leichen sorgt.

Den Behörden ist die Tätigkeit des „Tänzers“ nicht unbemerkt geblieben. Lou Sellitto vom New York Police Department glaubt zu wissen, wer den festgefahrenen Ermittlungen neuen Schub verleihen kann: Lincoln Rhyme, der geniale Spurenleser und -deuter, der einst für das Kriminaldezernat seiner Heimatstadt arbeitete, bis er sich bei einem Unfall die Wirbelsäule brach. Seitdem ist Rhyme vom Hals abwärts gelähmt. Lange hat er mit seinem Schicksal gehadert, doch allmählich findet er neuen Lebensmut und konnte sogar seine Arbeit wieder aufnehmen. Vor Ort verlässt sich Rhyme dabei auf die Fähigkeiten der jungen Polizistin Amelia Sachs, mit der ihn außerdem eine komplizierte persönliche Beziehung verbindet.

Rhyme übernimmt den Fall, denn vor Jahren war er dem „Tänzer“ schon einmal auf der Spur, wurde aber überlistet. Der Mörder entkam und tötete zwei Mitglieder von Rhymes Team. Seitdem brennt Rhyme auf eine zweite Chance. Doch auch dieses Mal legt der „Tänzer“ unglaubliches Geschick und Kaltblütigkeit an den Tag. Immer wieder entkommt er Rhymes ausgetüftelten Fallen und schafft es trotzdem, seine Mordliste abzuarbeiten. In seiner Not setzt Rhyme die letzte Zeugin als Köder ein.

Erneut gerät die Situation außer Kontrolle. Rhyme muss erkennen, dass ihm der „Tänzer“ abermals einen Schritt voraus ist. Während er und Sachs verzweifelt bemüht sind, die mutige Zeugin zu retten, hat sich der „Tänzer“ längst unbemerkt in die unmittelbare Nähe seines Opfers geschlichen …

Das Prinzip „Armchair Detective“: auf die Spitze getrieben

Zum zweiten Mal jagt das seltsam-geniale Duo Lincoln Rhyme/Amelia Sachs – der gelähmte Ermittler und das arthritiskranke Ex-Model – einen un- oder übermenschlichen Mörder. Angesichts des furiosen Debuts waren die Erwartungen an die Quasi-Fortsetzung besonders hoch gesteckt. Um es vorab zu sagen: Trotz einiger (vermutlich unvermeidlicher) Enttäuschungen ist es Autor Jeffery Deaver gelungen, den hohen Standard des Erstlings zu halten.

Abstriche müssen in erster Linie bei der Figurenzeichnung gemacht werden. Deaver hat sich selbst einem schwierigen Dilemma ausgesetzt: Der Lincoln Rhyme aus „The Bone Collector“ (dt. „Die Assistentin“ bzw. „Der Knochensammler“) war ein verzweifelter, zorniger Mann, der einen guten Teil seiner Fähigkeiten dazu einsetzte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Zu verfolgen, wie er nach und nach (und begleitet von zahlreichen Rückschlägen) ins Leben zurückfand und sich mit seinem Schicksal auszusöhnen begann, war mindestens ebenso spannend wie die Jagd nach dem verrückten Knochensammler.

Ähnliches gilt für die Figur der Amelia Sachs. Auch sie schlug sich mit enormen persönlichen Problemen herum, von denen nun seltsamerweise kaum mehr die Rede ist. Stattdessen rückt die im ersten Fall (zum Vorteil der Geschichte) noch ausgesparte persönliche Beziehung zu Lincoln Rhyme ins Zentrum. Eine in doppelter Hinsicht peinliche Liebesgeschichte entspinnt sich zwischen den beiden überaus unterschiedlichen Menschen – misslich für Amelia, die ihrer plötzlich entflammten Liebe zu Rhyme durch eine Quasi-Vergewaltigung Ausdruck verleihen möchte, missraten aber vor allem ‚dank‘ Autor Deaver, der die sorgfältige Personenzeichnung des ersten Bandes dem (vermeintlich) publikumswirksamen, tatsächlich aber eher unwahrscheinlichen Knalleffekt opfert.

Jäger und Gejagter: Ermittlung oder Wettstreit?

Von solchen Schnitzern einmal abgesehen, scheint auch die Geschichte zunächst bekannten Mustern zu folgen. Die Jagd nach dem „Monster der Woche“ könnte sich für die Rhyme/Sachs-Saga zu einem Problem entwickeln. Wie viele Varianten des verrückten, aber trotzdem nicht zu fassenden Mörders verkraftet das Konzept? Schon der „Totentänzer“ scheint auf den ersten Blick (allzu) viele Gemeinsamkeiten mit dem „Knochensammler“ aufzuweisen.

Doch auf den letzten einhundert Seiten schlägt die Geschichte einen unerwarteten und höchst einfallsreichen Haken: Der Mörder, den wir so ausgiebig bei seinem blutigen Handwerk beobachten durften, ist gar nicht der titelgebende „Tänzer“! Damit war nun überhaupt nicht zu rechnen, obwohl Deaver durchaus nicht mit entsprechenden Hinweisen geizte. Seinem Talent als Schriftsteller ist es zu verdanken, dass diese zwar zur Kenntnis genommen werden, aber nicht berücksichtigt werden. Wenn Deaver den wahren Täter aus dem Hut zaubert, ist die Verblüffung jedenfalls groß. Jedoch: Wie oft wird ihm das noch gelingen? Dies scheint freilich eine rhetorische (oder kritikertypische) Frage zu sein, denn das Duo Rhyme/Sachs ist inzwischen mehr als ein dutzendmal tätig geworden, ohne dem Publikum übergeworden zu sein.

Das eigentliche Finale ist allerdings (wieder mit dem heimlichen Blick auf Hollywood) weniger aus dem bisher Geschilderten entwickelt als auf die Wirkung inszeniert. Der unheimliche „Tänzer“ schafft es wider alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit, die Hüter des Gesetzes hinters Licht zu führen, sodass alles recht brachial auf die große Schlusskonfrontation zwischen Gut und Böse hinausläuft: Während in „Der Knochensammler“ der gelähmte Rhyme höchstpersönlich den Bösewicht ausschaltet – eine der wenigen misslungenen Szenen des Erstlings -, ist dieses Mal Sachs an der Reihe, den „Tänzer“ im spektakulären Showdown ins Jenseits zu befördern. Deaver hat sein Publikum auf der Zielgeraden seiner Geschichte so fest im Griff, dass man ihm diese Auflösung nicht übelnehmen kann. Binnen weniger Absätze führt er die bisher sauber und völlig einleuchtend entwickelte Handlung ad absurdum und ordnet ihre Elemente mit ebenso bestechender Logik völlig neu zu einer ganz anderen Geschichte. Dafür wird man diesen Roman im Gedächtnis behalten und die wenigen Missklänge rasch und zu Recht vergessen!

Autor

Jeffery Deaver (*1950) gehört zu den festen Größen des unterhaltsamen Thrillers. Ihm ist es gelungen, bereits drei Mal für den angesehenen „Edgar Award“ der „Mystery Writers of America“ nominiert zu werden. Zweimal konnte er den „Ellery Queen Mystery Magazine‘s Award“ für die beste Kurzgeschichte des Jahres gewinnen. Geschrieben hat Deaver sein ganzes Leben, sein erstes ‚Buch‘ verfasste er bereits mit 11 Jahren. Während seiner Schulzeit gab er ein Literatur-Magazin heraus. Später studierte Deaver Publizistik und Recht. Anschließend praktizierte er acht Jahre in New York als Anwalt. Nebenbei betätigte er sich als Musiker, Texter und Poet (!), bevor ihm schließlich als ‚richtiger‘ Schriftsteller der Durchbruch gelang. Heute lebt und arbeitet Deaver die meiste Zeit des Jahres im US- Staat Virginia.

Taschenbuch: 448 Seiten
Originaltitel: The Coffin Dancer (New York : Simon & Schuster 1998)
Übersetzung: Thomas Müller u. Carmen Jakobs
www.jefferydeaver.com
www.randomhouse.de/blanvalet

E-Book: 1379 KB
ISBN-13: 978-3-6411-4940-6
www.randomhouse.de/blanvalet

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