Jeffery Deaver – Das Gesicht des Drachen [Lincoln Rhyme/Amelia Sachs 4]

Als eine Menschenschmuggelfahrt kurz vor der US-Küste scheitert, sprengt der chinesische Schlepper kurzerhand das Schiff mit seinen Insassen in die Luft. Als einige entkommen, beginnt der Mörder die Überlebenden zu verfolgen und als unerwünschte Zeugen auszuschalten. Sein Gegner: diverse US-Behörden und der fast vollständig gelähmte kriminalistische Berater Lincoln Rhyme .. – Band 4 einer Thriller-Serie, der spannende Unterhaltung und Polizeiarbeit mit meist maßvoll eingesetzten Seifenoper-Elementen verquickt. Da die ursprüngliche Faszination zu verfliegen beginnt, führt der Verfasser neue Figuren ein: ‚nur‘ noch ein leicht überdurchschnittlicher Kriminalroman.

Das geschieht:

Kwan Ang – alias „Gui, der Geist“ – ist ein chinesischer Verbrecher großen Stils. Die gut geschmierten Behörden der Provinz-Großstadt Fuzhou schließen die Augen, so lange sich seine Untaten gegen die ‚Feinde‘ der Volksrepublik China richten. Dazu gehören Menschenrechtsverteidiger und Systemkritiker, denen oft nur die Flucht in den Westen und eine illegale ‚Einreise‘ als Ausweg bleibt.

Ideale Bedingungen für brutale Schlepper wie den „Geist“, der seinen Opfer das Geld abknöpft, sie per Schiff an die Küste der USA schafft und dort seinen amerikanischen Helfershelfern übergibt, von denen die Neuankömmlinge wie Sklaven gehalten werden. Viele „Ferkel“, wie diese Illegalen verächtlich genannt werden, überleben die Höllenfahrt nicht, auf der sie den „Schlangenköpfen“ – ihren Schleppern – hilflos ausgeliefert sind.

Der „Geist“ krönt seinen Menschenhandel mit Massenmord. Als ihm die US-Küstenwache auf die Spur kommt, versenkt er kurzerhand das Schiff mit den Auswanderern. Einige können sich an die nahe Küste retten. Der „Geist“ will diese ungebetenen Zeugen unbedingt beseitigen. Die wenigen Überlebenden können sich nach New York flüchten, wo sie zunächst untertauchen. Doch Kwan Ang hat auch hier ein mafiaähnliches Netz gesponnen und bleibt seinen Opfern auf der Spur.

Seine Gegner: Lincoln Rhyme, ein genialer Ermittler, war lange in Polizeidiensten, bis ihn ein Unfall vom Hals abwärts lähmte. Sein Verstand funktioniert freilich besser denn je, weshalb Rhyme seit einiger Zeit wieder verstärkt als Kriminalist tätig ist. Die Laufarbeit übernimmt seine Assistentin und Lebensgefährtin Amelia Sachs. Ihnen zur Seite stehen Beamte des FBI, der CIA und der Einwanderungsbehörde, was rasch zu Kompetenzrangeleien und Reibungsverlusten führt. Die muss der „Geist“ nicht fürchten, und so setzt er sein grausiges Handwerk scheinbar ungehindert in den Straßen von New York fort …

Einen Gang zurückgeschaltet

Die Handlung ist dieses Mal nicht mehr so fein gesponnen, der Plot nicht so komplex wie in den ersten drei Bänden der Rhyme/Sachs-Serie. Generell ist das kein Beinbruch, denn es kann keine Rede davon sein, dass „Das Gesetz des Drachen“ deshalb weniger unterhaltsam wäre. Deaver kann schreiben, Druck machen, Neugier wecken. Auch ist es immer zu begrüßen, wenn eingefahrene Geleise verlassen werden.

Hier führt die Weiche freilich auf eine Bahnstrecke, die dem Geschehen einen schlingernden Kurs beschert. Die verzweifelte Jagd nach dem scheinbar übermächtigen Gangster, der sich seinem hilflosen Opfer Schritt für Schritt nähert, ist ein ziemlich alter Hut. Tauchgänge in leichenübersäte Schiffswracks oder ausgedehnte Foltersitzungen können das nicht übertünchen.

Selbstverständlich kommt es zur Rettung in letzter Minute, auch wenn bis dahin diverse Nebenfiguren gar schröcklich auf der Strecke bleiben. Erfreulicherweise kontrolliert Deaver dieses Mal seinen hart an den Rand der Lächerlichkeit führenden Drang, die Handlung im Finale noch einmal Haken schlagen zu lassen, bis aus Schwarz erst Weiß und dann Rot geworden ist. Hier gibt es eine große Überraschung, die gut wirkt, und dann geht es stringent weiter, bis das Spiel in guter, alter „Whodunit“-Tradition endet: Auf einem Flugplatz versammeln sich die Guten und die Bösen, und Lincoln Rhyme erklärt wie einst Hercule Poirot seine schlauen Taten.

Eine wahrlich limitierte Hauptfigur

Über die Figuren gibt es wenig Neues zu berichten. Jeffery Deaver steckt in einer Sackgasse fest, die er selbst gepflastert hat. Seine Hauptfigur ist ein Mann, der buchstäblich auf seinen Kopf reduziert wurde. Lincoln Rhyme kann denken, aber nicht handeln. Das ist ein faszinierendes Konzept, aus dem der Verfasser in den ersten beiden Romanen der Serie Funken schlagen konnte. Dazu kommen die persönlichen Nöte eines aktiven Mannes, dem der eigene Körper zum Gefängnis wurde. Wie es Rhyme gelingt, sich trotz seiner Behinderung zu ‚befreien‘ und seine von Selbstmordgedanken erfüllte Depression zu überwinden, war fast noch spannender zu lesen als die klug ausgetüftelten Handlungsplots.

Doch dieser Prozess lässt sich nicht ad infinitum strecken; irgendwann kommt der Punkt, da muss der Held doch wieder an die Front, statt dies Stellvertretern zu überlassen. Das geht hier natürlich nicht, wenn man Wunder weiterhin der Science Fiction überlassen möchte. Also verlagert sich die Handlung mehr und mehr auf ein Ermittlerteam. Rhyme selbst ist ‚stromlinienförmiger‘ geworden. Seine krankheitsbedingten Rückfälle und Depressionen wirken nun wie Pflichtübungen, als ob Deaver hier und da einfiele, dass er ja einst seinen Helden als geplagten Mann eingeführt hat.

Mehr Raum gewinnt dadurch Amelia Sachs, die ihre Chance aber kaum zu nutzen weiß. Auch sie hat ihr Päckchen zu tragen, leidet an Arthritis und ist ein bisschen nervenleidend, was ihre Beweglichkeit aber nicht einschränkt; Amelia rennt, rast und taucht wie der Teufel und verärgert zwischen solchen Einsätzen mit an des Lesers Herz rührenden Heimchen-am-Herd-Anwandlungen, die sie letztlich nicht einmal selbst ernstnehmen kann.

Der Preis der Menschenwürde

Austauschbarer und schattenhafter denn je bleiben Rhymes und Sachses Kollegen und Handlanger. Viel Aufmerksamkeit widmet Deaver dagegen der chinesischen Subkultur in den USA. Es reisen keine verfolgten Engel auf Erden, sondern ganz normale und nicht zwangsläufig liebenswerte Menschen über das große Meer. Sie kommen nur, weil sie müssen; viel lieber wären sie zu Hause geblieben. Sogar der „Geist“ ist kein psychopathischer Irrer, sondern wurde durch traumatische Erfahrungen geprägt.

Hier und da übermannt Deaver patriotisch-scheinheilige Rührseligkeit, wenn er Amerika als Verteidiger der Unterdrückten dieser Erde zeichnet, aber er geht niemals so weit zu leugnen, dass die USA diese Einwanderer prinzipiell postwendend wieder abschieben würde. Die Verantwortung weist Deaver jedoch wieder einmal nicht einem System zu, das Menschenhilfe nur unterstützt, so lange es nicht ernsthaft ans Teilen geht, sondern korrupten Individuen innerhalb dieses Systems, das an sich gut ist: Auch heute muss der Schurke mit dem schwarzen Hut irgendwann auf der Szene erscheinen und die Verantwortung übernehmen.

Das Absinken der Qualitätskurve führte selbstverständlich nicht zum Abbruch der Serie, die weiterhin diese maßgebliche Forderung erfüllte: Sie war – und ist – ungemein erfolgreich und hat ein solide kopfstarkes Publikum gefunden, das immer gern zum aktuellen Band greift, obwohl die grundsätzlichen Probleme keineswegs gelöst wurden. Deaver ist als Autor ein Vollprofi, weshalb es ihm gelingt, die eigentlich nur noch auf Variationen basierende Rhyme-Sachs-Serie in Schwung zu halten.

Autor

Jeffery Deaver (geb. am 6. Mai 1950 in Glen Ellyn, Illinois) gehört zu den festen Größen des unterhaltsamen Thrillers. Ihm ist es gelungen, bereits drei Mal für den angesehenen „Edgar Award“ der „Mystery Writers of America“ nominiert zu werden. Zwei Mal konnte er den „Ellery Queen Mystery Magazine‘s Award“ für die beste Kurzgeschichte des Jahres gewinnen. Geschrieben hat Deaver sein ganzes Leben, sein erstes ‚Buch‘ verfasste er bereits mit 11 Jahren. Während seiner Schulzeit gab er ein Literatur-Magazin heraus. Später studierte Deaver Publizistik und Recht. Anschließend praktizierte er acht Jahre in New York als Anwalt. Nebenbei betätigte er sich als Musiker, Texter und Poet (!), bevor ihm schließlich als ‚richtiger‘ Schriftsteller der Durchbruch gelang. Heute lebt und arbeitet Deaver die meiste Zeit des Jahres im US- Staat Virginia.

Taschenbuch: 477 Seiten
Originaltitel: The Stone Monkey (New York : Simon & Schuster, Inc. 2002)
Übersetzung: Thomas Haufschild
http://www.jefferydeaver.com
https://www.randomhouse.de/Verlag/Blanvalet

eBook: 1759 KB
ISBN-13: 978-3-8948-0786-3
https://www.randomhouse.de/Verlag/Blanvalet

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