John Brunner – Träumende Erde

Verschwindibus: Endlösung Weltflucht?

Die Welt ist überbevölkert. Die Menschen sind in Wohnsilos zusammengepfercht, Lebensmittel und Trinkwasser sind knapp, die Lage ist deprimierend und hoffnungslos. Da taucht plötzlich eine neue Droge auf, ein Rauschmittel, das euphorische Glücksgefühle hervorruft. Die Droge ist billig und überall zu haben. Ein Glücksrausch erfasst die Massen; die drückenden Probleme sind vergessen. Doch das Mittel hat einen merkwürdigen Nebeneffekt: Leute, die völlig abhängig davon sind, verschwinden spurlos.

Das Rauschgiftdezernat der Vereinten Nationen setzt seinen besten Mann auf das Problem an: Nicholas Greville. Er geht den Spuren dieser Verschwundenen nach – und stößt dabei auf recht merkwürdige Dinge, die sich zu einem verrückten Puzzle zusammenfügen. (Verlagsinfo)

Der Autor

John Kilian Houston Brunner wurde 1934 in Südengland geboren und am Cheltenham College erzogen. Dort interessierte er sich schon früh „brennend“ für Science Fiction, wie er in seiner Selbstdarstellung „The Development of a Science Fiction Writer“ schreibt. Schon am College, mit 17, verfasste er seinen ersten SF-Roman, eine Abenteuergeschichte, „die heute glücklicherweise vergessen ist“, wie er sagte.

Nach der Ableistung seines Militärdienstes bei der Royal Air Force, der ihn zu einer pazifistisch-antimilitaristischen Grundhaltung bewog, nahm er verschiedene Arbeiten an, um sich „über Wasser zu halten“, wie man so sagt. Darunter war auch eine Stelle in einem Verlag. Schon bald schien sich seine Absicht, Schriftsteller zu werden, zu verwirklichen. Er veröffentlichte Kurzgeschichten in bekannten SF-Magazinen der USA und verkaufte 1958 dort seinen ersten Roman, war aber von der geringen Bezahlung auf diesem Gebiet enttäuscht. Bald erkannte er, dass sich nur Geschichten sicher und lukrativ verkaufen ließen, die vor Abenteuern, Klischees und Heldenbildern nur so strotzten.

Diese nach dem Verlag „Ace Doubles“ genannten Billigromane, in erster Linie „Space Operas“ im Stil der vierziger Jahre, sah Brunner nicht gerne erwähnt. Dennoch stand er zu dieser Art und Weise, sein Geld verdient zu haben, verhalf ihm doch die schriftstellerische Massenproduktion zu einer handwerklichen Fertigkeit auf vielen Gebieten des Schreibens, die er nicht mehr missen wollte.

Brunner veröffentlichte „The Whole Man“ 1958/59 im SF-Magazin „Science Fantasy“. Es war der erste Roman, das Brunners Image als kompetenter Verfasser von Space Operas und Agentenromanen ablöste – der Outer Space wird hier durch Inner Space ersetzt, die konventionelle Erzählweise durch auch typographisch deutlich innovativeres Erzählen von einem subjektiven Standpunkt aus.

Fortan machte Brunner durch menschliche und sozialpolitische Anliegen von sich reden, was 1968 in dem ehrgeizigen Weltpanorama „Morgenwelt“ gipfelte, der die komplexe Welt des Jahres 2010 literarisch mit Hilfe der Darstellungstechnik des Mediums Film porträtierte. Er bediente sich der Technik von John Dos Passos in dessen Amerika-Trilogie. Das hat ihm von SF-Herausgeber und –Autor James Gunn den Vorwurf den Beinahe-Plagiats eingetragen.

Es dauerte zwei Jahre, bis 1969 ein weiterer großer sozialkritischer SF-Roman erscheinen konnte: The Jagged Orbit (deutsch 1982 unter dem Titel „Das Gottschalk-Komplott“ bei Moewig und 1993 in einer überarbeiteten Übersetzung auch bei Heyne erschienen). Bildeten in Stand On Zanzibar die Folgen der Überbevölkerung wie etwa Eugenik-Gesetze und weitverbreitete Aggression das handlungsbestimmende Problem, so ist die thematische Basis von The Jagged Orbit die Übermacht der Medien und Großkonzerne sowie psychologische Konflikte, die sich in Rassenhass und vor allem in Paranoia äußern. Die Lektüre dieses Romans wäre heute dringender als je zuvor anzuempfehlen.

Diesen Erfolg bei der Kritik konnte er 1972 mit dem schockierenden Buch „Schafe blicken auf“ wiederholen. Allerdings fanden es die US-Leser nicht so witzig, dass Brunner darin die Vereinigten Staaten abbrennen ließ und boykottierten ihn quasi – was sich verheerend auf seine Finanzlage auswirkte. Gezwungenermaßen kehrte Brunner wieder zu gehobener Massenware zurück.

Nach dem Tod seiner Frau Marjorie 1986 kam Brunner nicht wieder so recht auf die Beine, da ihm in ihr eine große Stütze fehlte. Er heiratete zwar noch eine junge Chinesin und veröffentlichte den satirischen Roman „Muddle Earth“ (der von Heyne als „Chaos Erde“ veröffentlicht wurde), doch zur Fertigstellung seines letzten großen Romanprojekts ist es nicht mehr gekommen Er starb 1995 auf einem Science-Fiction-Kongress, vielleicht an dem besten für ihn vorstellbaren Ort.

Handlung

Dies ist die Geschichte von Nick Greville, Polizist im Rauschgiftdezernat der UNO, wo ein aussichtslos scheinender Kampf gegen die neue Wunderdroge geführt wird. Grevilles Kampf ist auch ein persönlicher, nachdem er unfreiwillig seinen ersten Schuss verpasst bekommen hatte.

Die Welt ist überbevölkert. Die Menschen sind in Wohnsilos zusammengepfercht, Lebensmittel und Trinkwasser sind knapp, die Lage ist deprimierend und hoffnungslos. Die Droge breitet sich in der Gesellschaft rasend schnell in allen Schichten aus – ein willkommener Fluchthelfer aus einer überfüllten Welt mit zu Ende gehenden Ressourcen und düsterer Zukunft. Die spezielle Wirkung der Droge: Nach etwa dem hundertsten „Schuss“ verschwindet der Junkie spurlos.

Es dauert eine Weile, bis Greville akzeptieren kann, dass diese Süchtigen im Endstadium sich nicht einfach in einen anderen Erdteil absetzen. Sie verschwinden vielmehr in eine andere Wirklichkeit, weil die elektrochemisch verschlüsselten Signale aus der „Umwelt“ mit Hilfe der Droge im Gehirn anders übersetzt werden. Ist dies also die endgültige Lösung des Bevölkerungsproblems? Ist die Droge, die Menschen dahinrafft, am Ende sogar ein Segen?

Mein Eindruck

„Woher weißt du, dass das, was du als Rot siehst, dasselbe ist, was ich als Rot sehe?“ John Brunner ging davon aus, dass man das nicht mit absoluter Sicherheit sagen kann und schrieb einen Roman über eine neue Droge, „Glückliche Träume“, die die Realitätserfassung der Süchtigen in weit größerem Maß verändert als bekannten Halluzinogene, die in den Sechzigern relativ populär waren.

Brunner hat eine aufregende und zugleich verrückte Idee zu einem relativ spannenden Roman verarbeitet. Doch der erfahrene Leser erkennt schon lange vor der Hauptfigur, wohin die Reise geht. Der Schluss bzw. die Auflösung des Problems ist für meinen Geschmack allerdings zu weit hergeholt.

Bischof Berkeleys Frage

Für philosophisch gebildete Leser ist die Frage von Interesse, wie die Junkies in die Parallel-Wirklichkeit verschwinden – durch Solipsismus etwa? Das erinnert an die Frage von Bischof Berkeley ((https://de.wikipedia.org/wiki/George_Berkeley)): „Verursacht ein Baum, der im Wald umfällt, ein Geräusch, wenn keiner da ist, der das hören kann?“

Der Autor Brunner verweist mit der Veranschaulichung dieses Problems auf die Notwendigkeit, dass sich Menschen stets gegenseitig wahrnehmen müssen, um sich als lebendig empfinden zu können. Die Droge verhindert genau diesen Kontakt, der Gemeinschaft und Zusammengehörigkeitsgefühl herbeiführt. Dabei fällt heute auf, dass die übermäßige Nutzung von Internet und Handy genau die gleiche Wirkung hat…

Drei Ausgaben

Der deutsche Wikipedia-Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/John_Brunner#Werke listet alle bekannten Werke des Autors auf, weist aber insbesondere bei den dt. Veröffentlichungen Lücken auf.

1) 1967 erschien die Geschichte erstmals in der Übersetzung von Hubert Straßl im Pabel-Verlag (heute VPM) in der UTOPIA-Reihe.

2) 1985 veröffentlichte der Hohenheim-Verlag eine gebundene Ausgabe in neuer Übersetzung (Hans Maeter) mit 223 Seiten Umfang.

3) Auf dieser Ausgabe beruht die Taschenbuchausgabe, die der Heyne Verlag mit gleichem Seitenumfang 1985 veranstaltete.

Taschenbuch: 223 Seiten
Originaltitel: The Dreaming Earth, 1963
Aus dem Englischen von Hans Maeter
ISBN-13: 978-3453312074

www.heyne.de