John Brunner – Ein irrer Orbit. SF-Roman

Die Vereinigten Staaten der Apartheid

Die US-Bevölkerung ist rassisch gespalten in die weiße Mehrheit der „Blanks“ und der farbigen „Knieblanks“ (beide Wörter sind aus dem Afrikaans der Kapprovinz abgeleitet), die in eigenen Enklaven leben müssen. Zwischen beiden Gruppen wird die Angst voreinander und der Hass füreinander geschürt von der Mafia der Waffenhändler, den Gottschalks, die daran kräftig verdienen, dass beide Gruppen ständig aufrüsten.

„Ein irrer Orbit“ (1969) bildet zusammen mit „Morgenwelt“ (1968) und „Schafe blicken auf“ (1972) jenes Trio an gewichtigen, sozial engagierten Romanen, das John Brunners Ruhm innerhalb der modernen Science Fiction begründet hat. Auch wenn dieses Buch unter diesen der formal schwächste sein mag, ragt er doch noch haushoch über die Masse der SF-Produktion hinaus.

Der Autor

John Kilian Houston Brunner wurde 1934 in Südengland geboren und am Cheltenham College erzogen. Dort interessierte er sich schon früh „brennend“ für Science Fiction, wie er in seiner Selbstdarstellung „The Development of a Science Fiction Writer“ schreibt. Schon am College, mit 17, verfasste er seinen ersten SF-Roman, eine Abenteuergeschichte, „die heute glücklicherweise vergessen ist“, wie er sagte.

Nach der Ableistung seines Militärdienstes bei der Royal Air Force, der ihn zu einer pazifistisch-antimilitaristischen Grundhaltung bewog, nahm er verschiedene Arbeiten an, um sich „über Wasser zu halten“, wie man so sagt. Darunter war auch eine Stelle in einem Verlag. Schon bald schien sich seine Absicht, Schriftsteller zu werden, zu verwirklichen. Er veröffentlichte Kurzgeschichten in bekannten SF-Magazinen der USA und verkaufte 1958 dort seinen ersten Roman, war aber von der geringen Bezahlung auf diesem Gebiet enttäuscht. Bald erkannte er, daß sich nur Geschichten sicher und lukrativ verkaufen ließen, die vor Abenteuern, Klischees und Heldenbildern nur so strotzten.

Diese nach dem Verlag „Ace Doubles“ genannten Billigromane, in erster Linie „Space Operas“ im Stil der vierziger Jahre, sah Brunner nicht gerne erwähnt. Dennoch stand er zu dieser Art und Weise, sein Geld verdient zu haben, verhalf ihm doch die schriftstellerische Massenproduktion zu einer handwerklichen Fertigkeit auf vielen Gebieten des Schreibens, die er nicht mehr missen wollte.

Brunner veröffentlichte „The Whole Man“ 1958/59 im SF-Magazin „Science Fantasy“. Es war der erste Roman, das Brunners Image als kompetenter Verfasser von Space Operas und Agentenromanen ablöste – der Outer Space wird hier durch Inner Space ersetzt, die konventionelle Erzählweise durch auch typographisch deutlich innovativeres Erzählen von einem subjektiven Standpunkt aus.

Fortan machte Brunner durch menschliche und sozialpolitische Anliegen von sich reden, was 1968 in dem ehrgeizigen Weltpanorama „Morgenwelt“ gipfelte, der die komplexe Welt des Jahres 2010 literarisch mit Hilfe der Darstellungstechnik des Mediums Film porträtierte. Er bediente sich der Technik von John Dos Passos in dessen Amerika-Trilogie. Das hat ihm von SF-Herausgeber und –Autor James Gunn den Vorwurf den Beinahe-Plagiats eingetragen.

Es dauerte zwei Jahre, bis 1969 ein weiterer großer sozialkritischer SF-Roman erscheinen konnte: „The Jagged Orbit“ (deutsch 1982 unter dem Titel „Das Gottschalk-Komplott“ bei Moewig und 1993 in einer überarbeiteten Übersetzung auch bei Heyne erschienen). Diesen Erfolg bei der Kritik konnte er 1972 mit dem schockierenden Buch „Schafe blicken auf“ wiederholen. Allerdings fanden es die US-Leser nicht so witzig, dass Brunner darin die Vereinigten Staaten abbrennen ließ und boykottierten ihn quasi – was sich verheerend auf seine Finanzlage auswirkte. Gezwungenermaßen kehrte Brunner wieder zu gehobener Massenware zurück.

Nach dem Tod seiner Frau Marjorie 1986 kam Brunner nicht wieder so recht auf die Beine, da ihm in ihr eine große Stütze fehlte. Er heiratete zwar noch eine junge Chinesin und veröffentlichte den satirischen Roman Muddle Earth (der von Heyne als „Chaos Erde“ veröffentlicht wurde), doch zur Fertigstellung seines letzten großen Romanprojekts ist es nicht mehr gekommen Er starb 1995 auf einem Science-Fiction-Kongress, vielleicht an dem besten für ihn vorstellbaren Ort.

Handlung

Matthew Flamen, einer der letzten Kritiker der Gesellschaft, ein sogenannter „Medienkiebitz“, deckt mit Hilfe von mehreren Freunden und Bürgern ein Komplott der Gottschalks auf: Diese Konzernherren wollen ein Waffensystem einführen, das es Einzelpersonen erlauben würde, ganze Straßenzüge einzuäschern, ohne dabei selbst verwundbar zu sein.

Erführe die weiße Bevölkerung, dass die Schwarzen solche Waffensysteme zuerst besitzen, würde sie deren Einsatz zuvorkommen, indem sie sämtliche Schwarzen-Enklaven vernichten würden: Die Paranoia der Gesellschaft auf ihrem Höhepunkt und zugleich an ihrem Ende – die Gesellschaft vernichtet sich dabei selbst.

Mein Eindruck

Wichtig sind neben dem Aspekt der Psychologie und der Kritik Brunners am paramilitärisch-industriellen Komplex die Urheber des Wissens und der Kritik. Neben Flamens Intelligenz und seinem wütenden Drang, Aufklärung zu erlangen, ist vor allem der große weise Mann des Romans zu nennen, Xavier Conroy. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, ist zornig und engagiert, vor allem aber verlässt er sich als einziger nur auf den gesunden Menschenverstand. Alle anderen hängen an den Aussagen der allgegenwärtigen Computer. Conroy erst setzt die Fakten in Verbindung zueinander und zieht Schlüsse, so dass Flamen und Co. handeln können. Ihm gebührt auch das letzte Wort des Romans – ein Alter Ego des Autors.

Die Literaturkritik hat darauf hingewiesen, dass das Happy-End des Romans leider erst durch das Mittel eines im wahrsten Sinne des Wortes „deus ex machina“ herbeigeführt wird: Eine Maschine, ein Roboter der Gottschalk, eröffnet den Blick in eine schreckliche Zukunft, nur um daraufhin in Apathie zu verfallen. Das ist für guten Stil etwas zu plump, bringt aber endlich die Wende in der Handlung, die Wende zum Guten.

Unterm Strich

Bildeten in „Stand On Zanzibar“ bzw. „Morgenwelt“ die Folgen der Überbevölkerung wie etwa Eugenik-Gesetze und weitverbreitete Aggression das handlungsbestimmende Problem, so ist die thematische Basis von „The Jagged Orbit“ die Übermacht der Medien und Großkonzerne sowie psychologische Konflikte, die sich in Rassenhass und vor allem in Paranoia äußern. Die Lektüre dieses Romans wäre heute dringender als je zuvor anzuempfehlen.

Schon das Cover von Andreas Reiner weist auf ein Hauptthema des Romans hin: die fortgeschrittene Paranoia der amerikanischen Gesellschaft und ihre „Therapie“ mit Hilfe der computerisierten Psychiatrie, die selbst wiederum paranoid ist. Die Bevölkerung ist rassisch gespalten in die weiße Mehrheit der „Blanks“ und die farbigen „Knieblanks“ (beide Wörter sind aus dem Afrikaans der Kapprovinz abgeleitet), die in eigenen Enklaven leben müssen. Zwischen beiden Gruppen wird die Angst voreinander und der Hass füreinander geschürt von der Mafia der Waffenhändler, den Gottschalks, die daran kräftig verdienen, da beide Gruppen ständig aufrüsten. Anno 2020 erscheint diese Analyse stimmiger und aktueller denn je.

Der Text

„The Jagged Orbit“, so der Originaltitel, ist, verglichen mit heutiger SF-Kost, nicht einfach zu lesen, denn der Text besteht aus einzelnen Impressionen, die wie ein Film geschnitten sind – eine Technik, die der Autor von John Dos Passos und Alfred Döblin („Berlin Alexanderplatz“) übernommen hatte.

Die Übersetzung

Die deutsche Übersetzung wird dem Buch weitgehend gerecht, aber dass Pukallus seine Fassung von 1982 überarbeitet haben will, glaube ich nicht. Auf den Seiten 209, 318, 440 und 450 finden sich Druckfehler oder eine falsche Satzstellung. Auch die anbiedernde Anrede „G’spusi“ wird heutzutage eher im tiefsten Bayern gebraucht als im Hochdeutschen; der Gebrauch dieses Wortes wirkt völlig deplatziert.

Nachwort

In seinem Nachwort allerdings weist der Übersetzer auf einige interessante Umstände hin, die es diesem Brunner-Roman in Deutschland schwer gemacht haben, wahrgenommen zu werden. Einen SF-Roman mit den Themen Rassismus und Verfolgungswahn gerade in diesen Tagen (nach dem Terrorherbst 1977) in Deutschland zu veröffentlichen – dafür ist Heyne jedenfalls zu danken.

Taschenbuch: 471 Seiten
Originaltitel: The Jagged Orbit, 1969
Aus dem Englischen von Horst Pukallus
ISBN-13: 9783453066069

www.heyne.de

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