Dietmar Arnold/Ingmar Arnold/Frieder Salm – Dunkle Welten. Bunker, Tunnel und Gewölbe unter Berlin

Berlin unten: die frühen Jahrzehnte

Wo‘s finster wird und tröpfelt, dorthin zieht es den Normalbürger normalerweise nicht. Das ändert sich, wenn er (oder sie) glaubt, es gäbe am verschmähten Ort etwas Besonderes zu sehen (oder einzustecken). Dennoch machen sich die meisten Bewohner Berlins wohl selten Gedanken darüber, dass sich unter ihrer großen Stadt eine weitläufige, leere, düstere, verwunschene Welt erstreckt, ohne die sie jedoch gar nicht existieren könnten.

Dabei liegt der Gedanke nahe: Wo viele Menschen auf engem Raum leben, wird dieser rasch knapp und teuer. So weicht man gern unter die Erde aus, wenn dies möglich ist. Schon im 17. Jahrhundert lassen sich entsprechende Aktivitäten nachweisen; eigentlich recht spät im Vergleich zu anderen Städten, doch leider wurde Berlin auf einer ziemlich sandigen Fläche mit hohem Grundwasserstand errichtet, wo das Graben kompliziert wird.

So beschränkte man sich zunächst auf jene Flecken, die ein bisschen trockener waren. Im Kapitel „Fundament und Gründung“ listen die Autoren Gräben und Befestigungen, Kasematten und Pulvermagazine, Wasserspeicher und Filtergewölbe, Brauereikeller und Weinschenken, Rinnsteine und Abwasserkanäle, Gruften und Denkmale auf, die bis ins späte 19. Jahrhundert ihren Platz im Untergrund fanden. Dazu kam ein Berliner Kuriosum: eine hoch entwickelte, unterirdische Rohrpost!

Die Verfasser halten sich an die Chronologie und schildern nun das Labyrinth der U-Bahn-, Fußgänger- und Autotunnel und Gleise, das Berlin seit dem späten 19. Jahrhundert unterquert. Sie beschränken sich auf blinde Stollen und tote Bahnstationen, die ausgehoben und später vergessen wurden, nachdem die beteiligten Firmen pleite machten, das Projekt von der Zeit eingeholt wurde oder Unfälle zur Aufgabe zwangen. Außerdem beschreiben sie die noch heute übliche Praxis, Tunnel ‚auf Verdacht‘ zu bohren, wenn man Menschen und Maschinen schon einmal unter Tage hat.

Berlin ganz unten: Nazi-Zeit und Kalter Krieg

Dann schlagen die Autoren ein düsteres, von zahllosen Geheimnissen umwittertes Kapitel auf: „Bunker und Bomben“ prägten das unterirdische Berlin, als die Nationalsozialisten 1933 die Macht in Deutschland übernahmen. Je stärker sich das Kriegsglück gegen das Hitler-Regime wandte, desto tiefer gruben sich seine Repräsentanten in die Erde. Wahnwitzige Großanlagen wurden geplant und begonnen, meist aber nie vollendet.

„Trümmerberge und Fluchttunnel“ beschreibt die Nachkriegszeit und die Jahre des Kalten Krieges. Schwer trug und trägt Berlin am Erbe der Nazi-Bunker, die sich weder vollständig abreißen noch verdrängen lassen. In den 1950er Jahren kamen schon wieder neue Bunker hinzu: Im Zuge der „roten Gefahr“, die aus dem nahen Osteuropa dräute, galt es sich erneut zu schützen. Atombombensichere Katakomben wurden konstruiert, während auf der ‚Gegenseite‘ die Vorbereitungen zur Teilung Berlins liefen.

Die Mauer verlief auch unterirdisch, was man sich nur schwer vorstellen kann. Mit diabolischer Findigkeit verstopfte das DDR-Regime jede Röhre, durch die seine unwilligen Bürger & Bauern in den Westen schlüpfen konnten. Die Eingesperrten gruben sich unter Lebensgefahr eigene Tunnel in die ersehnte Freiheit. Von dort machten sich Agenten der „freien Welt“ (im Jargon der DDR-Obrigkeit: „subversive Wühler“) ihrerseits auf, die bösen Kommunisten-Teufel von unten auszuhorchen.

Nicht die Freiheit, sondern das Eigentum der Welt im Auge hatten Kriminelle, die Tunnelschächte gen Banken und sonstige Erfolg versprechende Ziele trieben. Die „Unterwelt im Untergrund“ hat in Berlin sogar eine längere Tradition als Bunker-Buddler und grabende Agenten. Von den Brüdern Sass bis zum schlauen „Dagobert“ erstreckt sich die Galerie der Verbrecher mit Spaten und Taschenlampe.

Vom Umgang mit dem Unterirdischen

„Umbrüche und neue Dimensionen“ verdeutlichen die Tatsache, dass Berlin unter der Erde heute lebendiger denn je ist. Die gewaltigen Umbauten zur deutschen Hauptstadt nach der Wende förderten praktisch überall Reste der Vergangenheit ans Licht. Oft werden sie stillschweigend entfernt, was vor allem die Historiker erzürnt, die für einen geregelten Umgang auch mit Nazi-Bunkern plädieren, die nun einmal Zeitzeugen sind, selbst wenn sie heute als politisch höchst unkorrekt gelten.

Wie man mit historischen Untertage-Bauten umgehen soll und kann, machen die Autoren abschließend deutlich. Es ist möglich, und es kann ein Gewinn für die Stadtkultur der Gegenwart sein. Vor allem hat sich herausgestellt, dass der Berliner Untergrund fasziniert: Dieses Kapitel erzählt von der unerhörten Resonanz, die das Buch „Dunkle Welten“ erfuhr. TV-Berichte und Presseartikel lockten so viele Interessenten an, dass inzwischen regelrechte Untergrund-Führungen organisiert werden, die auf Monate ausgebucht sind.

Hellsichtiges Buch über düsteres Thema

In diesem Dunkeln ist gut munkeln. Mit „Dunkle Welten“ ist Dietmar und Ingmar Arnold sowie dem Fotografen Frieder Salm für den Links-Verlag ein echter Bestseller geglückt, der seit 1997 immer wieder ergänzt und neu aufgelegt wird. Das kommt nicht von ungefähr, denn für dieses Werk fand Berücksichtigung, was ein gutes Sachbuch ausmacht:

– akribische Recherche und die Suche nach aussagekräftigen Quellen: Hier profitieren die Autoren von ihrer – auch beruflichen – Nähe zum studierten Objekt. Dietmar Arnold vermisst und dokumentiert im Auftrag des Berliner Senats den Untergrund der Stadt, sein Bruder Ingmar ist studierter Historiker und Archäologe. Beide sind in der Arbeitsgemeinschaft „Berliner Unterwelten“ aktiv.

– Vollständigkeit bei gleichzeitiger Übersichtlichkeit: Berlins Untergrund ist nach Jahrhunderten der Wühlerei ein einmaliges Gewirr von Gängen und Bauten, die jeden Maulwurf ratlos zurückschrecken lassen würden. Die Arnold-Brüder bringen Ordnung in das Labyrinth, sie können es in eine chronologische Reihenfolge bringen. Vielleicht listen sie ein wenig zu eifrig noch jeden zerbeulten Bierkessel auf, aber lieber ein bisschen zu viel Begeisterung als ein öder Schnellschuss für das „Sachbuch des Monats“.

– flüssiger Schreibstil: Angesichts des Themas ist dies keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Die Autoren müssen viel über Tiefbaupraktiken referieren, was den architekturbegeisterten Leser sicherlich entzücken wird. Das Kunststück besteht darin, auch den Laien bei der Stange zu halten; es gelingt hier, weil die Artefakte des Untergrunds nie isoliert stehen bleiben, sondern in die ‚oberirdische Geschichte‘ Berlins eingebunden werden.

– gutes Fotomaterial, das den Text ergänzt: In diesem Fall ist dies noch untertrieben; man kann nur staunen, was ein fähiger Fotograf aus Motiven wie „halb eingestürzter, abgesoffener, modriger Bunker mit Tropfsteinen und Schuttbergen“ machen kann. Frieder Salm hat sich der nicht geringen Mühe unterzogen, mit viel Licht (und langen Kabeln) in die Tiefe zu kriechen, wo er sich dann genau überlegte, wohin er den Schein seiner Leuchten richtete. Der Effekt ist bestechend: Aus oft profanen Stätten werden mysteriöse Wunderhöhlen, die man am liebsten sofort vor Ort bestaunen möchte.

Ein verdienter Bestseller

Da verzeiht man den urbanen Höhlenforschern, dass sie manchmal gar zu laut schimpfen über einen Berliner Senat, der wenig von der Bewahrung der für seine Hauptstadt offenbar zu wenig repräsentativer oder unansehnlicher Objekte hält. Dies ist zweifellos beklagenswert, aber andererseits ist da das sehr reale Problem leerer Kassen, dem womöglich einfach allzu viele nach Ansicht der AG „Berliner Unterwelten“ als Denkmal zu schützende Artefakte gegenüberstehen. Außerdem gilt: Der schwer- und selbstgefälligen Politik kann ein bisschen privater Eifer (oder ein Tritt in den Hintern) nur gut tun.

So wird „Dunkle Welten“ sicherlich noch einige Neuauflagen und Erweiterungen erleben. Der Preis ist stolz, das muss angemerkt werden, aber das Buch ist ihn definitiv wert! 101 farbige und 168 schwarzweiße, meist historische Aufnahmen sorgen für einen weiteren Kauf- und Leseanreiz.

Gebunden: 240 Seiten
http://www.christoph-links-verlag.de

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