Laurie R. King – Die Insel der flüsternden Stimmen

Die psychisch kranke Rae zieht sich auf eine einsame Insel zurück, um dort ein altes Haus wiederaufzubauen. In den Trümmern entdeckt sie Spuren, die auf ein hässliches Familiengeheimnis hindeuten, während in der Nacht Schritte und Stimmen hörbar sind … – Als Mischung aus Mystery und Thriller kann dieser Roman lange die spannende Balance halten. Dann kommt der Moment der Aufklärung, der die Geschichte ins Routinierte kippen lässt: trotzdem ein rundum spannendes Werk!

Das geschieht:

Die Newborns sind eine alte, reiche Familie aus Boston im US Staat Massachusetts. Großvater William, ein übermächtiger Patriarch, hat seine Sippe fast ein volles Jahrhundert in Angst und Schrecken versetzt. Sein Bruder Desmond fand es ehrenvoll, freiwillig in den I. Weltkrieg zu ziehen. In den Schützengräben hat er seine Gesundheit und seinen Verstand eingebüßt, was den Newborns Schande brachte, wie der unduldsame William befand. Desmond entzog sich dem Tyrannen und ließ sich in den 1920er Jahren auf einer der San Juan Inseln vor der Küste des Staates Washington nieder. Ganz allein baute er dort „Folly“ ein seltsames Gebäude, wie der Name schon sagt, der für ein schnurriges, eigentlich sinnloses Unterfangen steht, wie es ein Prachthaus auf einem unwirtlichen Eiland (das bald ebenfalls Folly genannt wurde) zweifellos darstellt.

Folly brannte 1927 nieder, Desmond verschwand spurlos. Seither wurde er totgeschwiegen in der Familie. William achtete er auffällig streng auf die Einhaltung dieser Regel. Brach man sie, durfte man seines beträchtlichen Zornes gewiss sein, wie noch Rae Newborn, seine Enkelin, erleben musste. Rae ist das Sorgenkind der Familie, eine Frau, die unter schweren Depressionen leidet und vor einem Jahr völlig zusammenbrach: Ein betrunkener Autofahrer hatte Raes Gatten und ihre jüngste Tochter umgebracht und sie schwer verletzt. Kaum vier Monate später wurde sie von zwei Strolchen überfallen und beinahe vergewaltigt.

Nach Monaten im Irrenhaus hat sich Rae halbwegs wieder erholt und verordnet sich eine Rosskur: Sie will Großonkel Desmonds Haus wieder aufbauen ganz allein! Den mahnenden Stimmen der Psychiater, der Familie und bald auch der guten Leute von Friday Harbor zum Trotz beginnt Rae ihr Projekt. Aber sie muss wieder mit ihrer Krankheit kämpfen, hört Geräusche und Stimmen. Als sie eines Tages den Abdruck eines fremden Stiefels findet, informiert sie Sheriff Jerry Carmichael, der natürlich nichts findet. Als Rae das Fundament von Folly freilegt, entdeckt sie Desmonds von Kugeln durchsiebtes Skelett! Der verwirrte Kriegsheld hat sehr offensichtlich seine geliebte Insel nie verlassen, und seinem bei der Leiche geborgenen Tagebuch muss Rae entnehmen, dass Großvater William der letzte Besucher dort war …

Kalte Welt für Außenseiter

Wer nun meint, damit sei die Katze aus dem Sack gelassen, kann beruhigt sein: Dies ist nur einer von vielen Erzählsträngen, die Laurie R. King hier kunstvoll spinnt. „Die Insel der flüsternden Stimmen“ ist ein überwiegend überzeugender, weil klug erdachter, ungemein sorgfältig in Szene gesetzter und spannender Thriller und dies trotz des wie so oft dämlichen deutschen Titels. Sicherlich gibt es keine absolut treffsichere Übersetzung von „Folly“ (vielleicht „Die Narreninsel“?), aber trotzdem wurde hier nicht die beste Alternative gesucht, sondern plump das Netz über die hiesigen Mystery Fans ausgeworfen.

Dabei flüstern höchst selten Stimmen auf Folly. Stattdessen stehen das gleichnamige Haus und seine Bewohner im Mittelpunkt. Gleich zwei Mal in einem Jahrhundert zeigt sich, dass es seinen Namen zu Recht trägt. Zwei bis ins Mark verstörte Menschen errichten ein Narrenhaus auf einer einsamen Insel. So sieht es die ‚normale‘ Welt, die strikt negiert, dass sich diese beiden recht wohl in ihrer Abgeschiedenheit fühlen. Die Situation eskaliert erst, als sich die Außenwelt erneut in den Vordergrund drängt.

Großvater William Newborn, den wir nur in Schilderungen und alten Tagebuchaufzeichnungen kennen- und trotzdem fürchten lernen, hat sich des peinlichen Bruders kurzerhand entledigt. Dasselbe Schicksal scheint ein Dreivierteljahrhundert später seiner Großnichte zu blühen. Das deuten jedenfalls die vielen seltsamen Ereignisse an, die Rae Newborn den Aufenthalt auf Folly erst unbehaglich und schließlich lebensgefährlich machen.

Gepflegtes Handwerk sorgt für solide Unterhaltung

Wieder macht es Autorin King (Nomen est Omen?) sich und ihrem faszinierten Publikum nicht so einfach. Finstere Gestalten durchstreifen die idyllische Inselwelt, junge Frauen verschwinden spurlos, und irgendwo im Hintergrund munkelt der böse Schwiegersohn. Erst im Finale wird‘s recht konventionell; die graue Eminenz im Hintergrund betritt die Szene, und es gibt sogar ein Feuergefecht in dunkler Nacht. Das ist schade, aber es entwertet erfreulicherweise nicht die Geschichte an sich.

Die bleibt über die volle Distanz von immerhin 600 Seiten interessant bis fesselnd. Erfreulicherweise kann die Figurenzeichnung mithalten. King belebt ihre Geschichte mir vielschichtigen bis zwiespältigen Protagonisten, von denen eine ausreichend große Zahl sich latent verdächtig verhält. Hauptfigur Rae Newborn ist ein angenehm schwieriger Charakter. Ihre psychischer Zustand sorgt nicht nur in ihrem Umfeld, sondern auch unter den Lesern für Ungewissheit: Was bildet sich Rae ein, was ist real? Da King dabei nicht mit billigen Tricks arbeitet, zieht sich diese Frage spannungsförderlich bis ins Finale durch.

„Folly“ erhielt inzwischen (natürlich) eine Art Fortsetzung. 2003 erschien zumindest in den USA „Keeping Watch“. Es stellt Sheriff Carmichaels Bruder Allen in den Mittelpunkt stellt, der es mit einem Fall von Kindesmissbrauch zu tun bekommt; ein Thema, zu dem King immer wieder und wohl am eindringlichsten in „With Child“ (1994; dt. „Geh mit keinem Fremden“) zurückkehrt.

Autorin

Laurie R. King wurde 1952 im Großraum San Francisco geboren. Sie studierte Theologie an den Universitäten von Santa Cruz (Kalifornien) und Berkeley. Mit einem Magister Grad zog sie sich zunächst ins Familienleben und aufs Land zurück, wo sie die nächsten Jahren damit verbrachte, zwei Kinder großzuziehen und ein heillos verfallenes Farmhaus zu renovieren; das dabei erworbene handwerkliche Fachwissen floss in die Figur der Rae Newborn ein und trägt zur Authentizität von „Die Insel der flüsternden Stimmen“ entscheidend bei.

In ihrer Freizeit begann King zu schreiben. „The Beekeeper’s Apprentice“ (dt. „Die Gehilfin des Bienenzüchters“) entstand 1987, wurde aber erst 1994 veröffentlicht und bildete den Auftakt einer Serie historischer Krimis, die den legendären Meisterdetektiv Sherlock Holmes als verheirateten Mann zeigen, der seine Fälle nicht mehr mit Dr. Watson, sondern mit seiner Gattin Mary Russell löst. 1993 erschien „A Grave Talent“ (dt. „Ein Super Talent“/„Die Farbe des Todes“/„Was niemand sieht und niemand weiß“), der erste von insgesamt fünf Thrillern mit den Detectives Kate Martinelli und Alonzo Hawkin von der Mordkommission San Francisco; er trug King den „Edgar Award“ für den besten Romanerstling des Jahres ein, dem umgehend der „Creasey Dagger“ der „England‘s Crime Writer’s Association“ folgte.

Weitere Preise und Nominierungen säumen seitdem Kings Karriere. Zuverlässig erscheint mindestens einen neuer Thriller pro Jahr. Immer dabei sind Sherlock Holmes und Mary Russell, denn die Mischung aus Historienkrimi und Mann-Frau-Seifenoper hat ein breites weibliches Publikum gefunden und wird kontinuierlich fortgesetzt.

Website der Autorin

Taschenbuch: 592 Seiten
Originaltitel: Folly (New York : Bantam Books 2001)
Übersetzung: Sabine Schulte
http://www.rowohlt.de

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