Jon Krakauer – In eisige Höhen (Lesung)

Katastrophe am Everest

Jon Krakauers Katastrophenbericht ist eine der bewegendsten Schilderungen einer Everest-Besteigung. Es gab schon andere Berichte, natürlich die vom Erstbesteiger Sir Edmund Hillary, aber auch die von Reinhold Messner.

Doch nur Krakauers Buch lieferte die Vorlage für zwei Hollywoodfilme. Aber Buch und Filme unterscheiden sich in zahlreichen Details, nur die grundlegenden Tatsachen sind gleich. Und dann bestehen noch Zweifel, ob der Bericht überhaupt stimmt. In jedem Fall kann der Konsument des Hörbuchs die ungekürzte Fassung des Textes begutachten – ein bemerkenswertes Detail, das nicht selbstverständlich ist.

Der Autor

Jon Krakauer war schon um die vierzig, als er 1996 nach Nepal flog. In seiner Jugend hatte er zahlreiche Bergtouren gemacht, die er in seinen Reportagen unter dem Titel „Auf den Gipfeln der Welt“ („Eiger Dreams„) beschrieben hat. Als Journalist ließ er sich mit seiner Lebensgefährtin Linda in Seattle nieder, wo er als Redakteur des Magazins „Outside“ – nicht zu verwechseln mit „Outside Online“ – arbeitet.

1996 erschien sein erster Bestseller „In die Wildnis“ („Into the Wild„) über einen jungen Aussteiger, der in Alaska umgekommen war. Auch darin ging es um das Scheitern von Träumen und Ambitionen an den harten Bedingungen der Realität, sei es in der Wildnis oder in den Bergen. Krakauer lebt mit seiner Frau in Colorado. Sein Nonfiction-Buch anno 2003 trägt den Titel „Mord im Auftrag Gottes„.

Der Sprecher

Christian Brückner ist einer der beliebtesten Sprecher Deutschlands. Bekannt wurde er als Stimmbandvertretung Robert de Niros. Seit langem setzt er Maßstäbe als Hörbuchsprecher und hat bei einem der Verlage seine eigene Edition.

Handlung

Jon Krakauer wollte als Journalist, also als Beobachter, an einer Expedition auf den höchsten Berg der Welt teilnehmen, um für das „Outside“-Magazin darüber zu schreiben: Der ungewöhnlich lange Artikel erschien in der Septemberausgabe 1996 und wirbelte viel Staub auf, enthielt aber einige falsche Darstellungen. Die Reaktionen und notwendigen Korrekturen flossen 1997 in dieses Buch ein.

Es war eine der geschäftigsten Saisons am Everest überhaupt, als Krakauer im April 1996 bereits angeschlagen im Basislager ankam. Es folgten vier Tage Akklimatisierung unter den fast ein Dutzend Expeditionsteams, von denen einige unter höchst dubiosen Umständen zustande gekommen waren. Laut Krakauers Darstellung war das Team des Bergführers Rob Hall eines der am besten geführten. Man fühlte sich sicher. Und doch sollte ausgerechnet Rob Hall auf dem Berg sterben. Ebenso sein Kollege Scott Fischer.

Als Jon Krakauer den Gipfel des Berges am frühen Nachmittag des 10. Mai 1996 erreichte, hatte er bereits 57 Stunden lang nicht geschlafen, kaum etwas essen können und litt unter dem massiven, anhaltenden Sauerstoffmangel – trotz des künstlichen Sauerstoffs, den alle außer den stärksten Bergsteigern atmen mussten. Die Luftdichte in 9000 Metern Höhe entspricht einem Drittel derer auf Meereshöhe.

Als er wieder absteigen wollte, bemerkte er zweierlei: merkwürdige Quellwolken, die das Tal heraufzogen, und mehr als zwanzig Bergsteiger, die seinen Abstieg blockierten. Die resultierende Verzögerung führte fast zu seinem eigenen Tod, denn als sich die heraufziehenden Wolken zu einem tobenden Schneesturm ausgewachsen hatten, sah Krakauer kaum die anderen Bergsteiger auf dem Südsattel oder die Zelte im darunter liegenden Lager IV.

Doch der Sturm wurde noch stärker, während sich noch fast zwanzig Kletterer auf dem Südwestgrat aufhielten. Am Ende des Tages waren fünf Teilnehmer der verschiedenen Expeditionen in Eis und Kälte umgekommen. Am Ende des Tages waren neun Menschen tot, am Ende der Saison zwölf – ein hoher Tribut an Leben, wie ihn der Everest selten erlebt hat.

Der Tod des neuseeländischen Bergsteigers Andy Harris ließe sich direkt auf Krakauers Mangel an geistiger Präsenz zurückführen, denn Krakauer hätte sonst bemerkt, dass Harris selbst bereits massiv unter der Höhenkrankheit litt, als er ihn zuletzt sah. Krakauer hätte etwas unternehmen können. Doch so muss er heute mit Harris‘ Tod auf dem Berg leben.

Durch den Einsatz des kasachischen Bergführers Anatoli Boukreev (der selbst ein Buch darüber geschrieben hat) gelang die Rettung von mehreren Expeditionsmitgliedern. Leider spielt dies Krakauer einigermaßen herunter, was wohl nicht ganz fair erscheint.

Mein Eindruck

Das Buch packt einen schon vom ersten Kapitel an, als der Autor den Moment auf dem Gipfel des Everest beschreibt und sich das Verhängnis bereits anbahnt, das zur Katastrophe führen soll. Immer wieder schiebt der Autor historische Rückblicke ein, um den Leser mit dem Berg und seinen erfolgreichen und erfolglosen Bezwingern bekannt zu machen. Krakauer gibt die Geschichte und die Abenteuer großer Everest-Pioniere wieder, darunter Sir Edmund Hillary und Tenzing Norgay, die zwei Männer, die den Gipfel 1953 als erste erreicht hatten: genau einen Tag vor der Krönung Königin Elizabeths II.

Einen großen Einschnitt bedeutete 1985 die Besteigung durch einen Amateur namens Dick Bass, der lediglich einen Haufen Geld bezahlt hatte. Nach dem Jahr 1988 setzte eine Art Massentourismus ein, und die nepalesische Teilnahmegebühr pro Tour erhöhte sich von 10.000 auf 65.000 Dollar.

Doch das schreckte etliche Leute nicht ab, die einfach nur ihre „Sieben-Gipfel-Quote“ komplettieren wollten: die Liste der jeweils höchsten Berge auf den Kontinenten. Auch in Krakauers Team befand sich so jemand darunter: In Sandy Hill Pittmans Sammlung fehlte noch der Everest. Er sollte sie beinahe umbringen.

Denn der Everest ist ein unversöhnlicher Berg. Er wird von den Sherpa als „Göttin des Himmels“ (Sagarmatha) kultisch verehrt, ebenso von den Tibetern. Noch bevor es dem ersten Menschen gelang, einen Fuß auf den Gipfel zu setzen, hatte der Everest bereits 24 Menschen aus 15 verschiedenen Expeditionen das Leben gekostet. Mehr als hundert sollten bis 1996 folgen.

Dabei ist es nicht einmal das Terrain selbst, dem die Menschen zum Opfer fallen. Häufig ist einfach die extreme Höhe schuld: Ab 8000 Metern beginnt die „Todeszone“, in der der Körper beginnt, sich selbst zu verzehren: kein Essen ist mehr möglich, und kein Schlaf. Große Gefahr droht von den durch die Höhe und dünne Luft ausgelösten Krankheiten: Lungen- und Gehirnödem, im Original HAPE und HACE genannt. Bei deren Auftreten hilft nur noch der rasche Abtransport in in tiefere Lagen oder die künstliche Herstellung einer entsprechenden Atmosphäre in einem Spezialzelt (Gamow-Zelt). Manchmal kommt auch diese Maßnahme zu spät.

In Rob Halls Expedition waren es nicht nur bergsteigerische oder gesundheitliche Unzulänglichkeiten, sondern einfach menschliche Fehler, die sich „zu einer kritischen Masse summierten“: falscher Ehrgeiz, Konkurrenzdenken, übersteigerte Personenverehrung oder einfach Geldgier. Am Ende fehlten Kraft und Zeit. Es kam zu einer kritischen Situation im Schneesturm, die direkt fünf Menschenleben forderte. Weitere kamen als indirekte Folge hinzu.

Krakauers Doku-Roman ist spannend, bewegend und dramatisch. Er macht wütend auf ein System, das die Gefahren des Berges herunterspielt oder gar leugnet. Um nicht nur seiner persönlichen Katharsis (emotionalen Läuterung) zu dienen, wie er sagt, fügte er zahlreiche, abgesicherte Fakten ein und verbrämte diese mit Literaturauszügen.

Der Sprecher

Der Sprecher Christian Brückner liest selbstredend wie ein Profi, der das schon ewig und drei Tage macht. Deshalb kommt es auf die Feinheiten an. Stets macht er an geeigneten Stellen eine Pause, die das Verständnis erhöht, erleichtert oder eine Denkpause erlaubt. Das kann nach dem Ende einer komplizierten Satzkonstruktion sein, am Ende eines Satzes, eines Absatzes – und natürlich zwischen den Kapiteln.

Das einzige Verständnisproblem, das daher auftauchen kann, besteht darin, dass der Hörer entscheiden muss, wer nun gerade spricht. Ist es, wie fast immer, der Autor selbst – oder vielmehr der Autor eines Literaturauszuges? Zum Glück lässt der veränderte Tonfall, dessen sich der Sprecher befleißigt, die Unterscheidung zu. Und das ist meist nur am Anfang eines Kapitels nötig.

Etwas anderes ist Brückners Aussprache von Namen und Bezeichnungen. Englische Namen, die wie deutsche aussehen, sind ganz besonders tückisch. Doch Brückner meistert das Problem und spricht die Namen nach englischen Regeln und Gepflogenheiten aus. Er hat sich offensichtlich gut vorbereitet. Dies gilt nicht nur fürs Englische, sondern auch für Nepalesisch. Wieder und wieder erstaunte mich, der ich das Original zur Kontrolle las, seine Aussprache der einheimische Bergnamen. Sie passten so gar nicht zur Vorstellung, die ich mir von Namen wie Makalu („mokalú“) und Kanchenjunga (kantschendschánga“) gemacht habe. Da ich kein Nepalesisch beherrsche, maße ich mir kein Urteil darüber an.

Unterm Strich

Krakauer liefert einen packenden, minuziös geschilderten Bericht, der trotz seiner persönlichen Sichtweise zu überzeugen weiß, weil er weder mit Hintergrundinformationen über Berge, Menschen und alpine Technik geizt, noch mit den Konsequenzen der Katastrophe nach seiner Rückkehr hinterm Berg hält.

Der Sprecher Christian Brückner besticht durch eine klare Vortragsweise, die sich an der Vermittlung deutlich erkennbarer Bedeutungseinheiten – Wörter, Sätze, Phrasen, Absätze, Kapitel – und an Verständlichkeit orientiert. Auch berichtsfremde Zitate sind zu unterscheiden, so dass es leichtfällt, ein Zitat als solches zu erkennen. Fußnoten werden weggelassen, wenn sie zu lang sind, kurze Fußnoten werden in den Vortrag unauffällig integriert. Insgesamt hat mir die Lesung sehr gefallen, ich finde sie vorbildlich gelungen. Musik und Geräusche gibt es keine, denn sie würden lediglich stören – ganz besonders bei einem so ernsten Thema.

Der Preis von knapp 30 Euro für neun CDs – anno 2005 – ist meines Erachtens ungewöhnlich günstig und sollte einen Anreiz bieten, sich das Hörbuch zuzulegen. Hier winken dem einsamen Trucker oder Wochenendpendler fast elf Stunden packende Beschreibungen einer abenteuerlichen Welt, in der dem Menschen gezeigt wird, wo seine Grenzen liegen: nicht zuletzt in ihm selbst.

Hinweise auf andere Quellen

Man möchte sich seiner kritischen Sicht über die Auswüchse des modernen Alpinismus im Hochgbirge anschließen. Aber man sollte auch andere Quellen hinzuziehen, um auch andere Aspekte der Wahrheit zu erfahren: Sehr empfehlenswerte Bücher zu dieser Tragödie sind: „Der Gipfel“ von Anatoli Boukreev und „Die letzte Herausforderung“ von Lene Gammelgaard, einer Teilnehmerin an der Mountain Madness Expedition des damals umgekommenen Bergführers Scott Fischer.

Außerdem gibt es bei Amazon.de auch ein Buch des beinahe auf dem Südsattel erfrorenen Kunden Beck Weathers – eine der erstaunlichsten Wiederauferstehungen, von der ich je gehört habe. Das Buch von Boukreev habe ich anderenorts besprochen. Der Film, den David Breashears und Ed Viesturs von der gleichzeitig stattgefundenen IMAX-Epedition gedreht haben, ist ebenfalls informativ – von dem beeindruckenden IMAX-Breitwandfilm ganz zu schweigen. David Breashears geht in seiner Biografie ebenfalls auf das Drama ein, natürlich nur mehr am Rande, denn am tragischen Gipfelsturm war er nicht beteiligt.

CD: 646 Minuten auf 9 CDs
Originaltitel: Into thin air, 1997
Übersetzt von Stephan Steeger.
ISBN-13: 978-3886987122

https://www.sprechendebuecher.de/

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