John Meaney – Tristopolis

In einer fernen Zukunft gewinnt die Menschheit ihre Energie aus den Knochen der Toten. Kriminelle Elemente haben es auf die Leichen besonders ‚energ(et)ischer‘ Zeitgenossen abgesehen, was eine kleine Gruppe von Polizisten zu verhindern sucht … – Nicht originelle aber einfallsreich variierte Mischung aus Science Fiction, Mystery & Thriller, die sich ein wenig zu offensichtlich diverser phantastischer Vorlagen aus Literatur und Film bedient: gern gelesen & genossen aber auch bald vergessen.

Das geschieht:

Im 7. Jahrtausend gleichen die großen Städte der Erde gewaltigen Friedhöfen mit bewohnbaren Mausoleen. Die Ähnlichkeit kommt nicht von ungefähr; sie basiert auf der einzigartigen Methode, die diese Gesellschaft zur Erzeugung ihrer Energie anwendet: „Nekroflux“ heißt sie, und ihre Quelle sind die Knochen der Verstorbenen. Sie enthalten in ihren Zellen elementare Erinnerungssplitter an das vergangene Leben, die sich in gewaltigen Meilern ‚auskochen‘ und in Energie verwandeln lassen.

Dabei gibt es einen Aspekt, der den Bürgern verschwiegen wird: Die Erinnerung derer, denen diese Knochen einst Halt & Stütze waren, lässt sich ‚destillieren‘ und schenkt denjenigen, die wissen, wie das funktioniert, drogenähnliche Rauschzustände. Am besten geeignet sind die Gebeine künstlerisch aktiver Menschen. Solche Knochen sind begehrt aber selten. Eine international agierende Verbrecherbande ist auf den Gedanken gekommen, zuverlässig für Nachschub zu sorgen, indem sie lebendige Genies umbringen und ihre Leichen bzw. Knochen rauben lässt.

Zwölf Opfer wurden bisher gezählt. Nummer 13 könnte die Operndiva Maria daLivnova werden, die ein Gastspiel in der Metropole Tristopolis geben wird. Zu ihrem Schutz kommandiert die Polizei Lieutenant Donal Riordan ab. Er kann den Mord an der Sängerin indes nicht verhindern; ausgerechnet der mächtige Direktor der städtischen Energiebehörde gehört zu einer Verschwörergruppe, die der „Schwarze Zirkel“ genannt wird.

Riordan wird von einer Sonderermittlungsbehörde der Bundespolizei rekrutiert. Er soll gemeinsam mit Commander Laura Steele und ihrer Truppe dem „Zirkel“ das Handwerk legen. Sie geraten an Gegner, die ebenso einfallsreich wie skrupellos versuchen, sie zu täuschen, durch Intrigen zu Fall zu bringen oder durch Mord auszuschalten …

Heiß diskutiert, gut zu lesen

Wieder einmal dürfen wir Zeugen werden, wie das Genre Science Fiction einen Quantensprung erfährt. Dies versucht uns zumindest die Werbung vorzugaukeln. „John Meaney hat das Genre neu definiert. Alles ist jetzt anders“, wird Stephen Baxter ‚zitiert‘, dessen Name in SF-Kreisen einen gewissen Klang hat. Hier muss man freilich an Baxter zweifeln bzw. sich die Frage stellen, wie viel man ihm für diese Aussage gezahlt hat.

Denn „Tristopolis“ ist sicherlich kein Meilenstein der SF, sondern ‚nur‘ ein spannender Roman mit entsprechender Handlung in einer geschickt konstruierten Kulisse. Das scheint den Werbe-Schreihälsen als Anreiz für Leser = Käufer nicht ausreichend zu sein, weshalb wieder einmal die Werbetrommeln gerührt werden, bis die Trommelfelle der Umworbenen zu platzen drohen bzw. sie so betäubt sind, dass sie sich wie gewünscht von ihrem Geld trennen. Solche Manipulation ist unnötig, denn „Tristopolis“ kann gut für sich selbst stehen. Autor Meaney serviert zwar wie gesagt alten Wein in neuen Schläuchen, doch 99 von 100 Romanen bedienen sich (nicht nur in der SF) der Variation des längst Bekannten.

Meaney geht von der Prämisse aus, dass die zukünftige Gegenwart untrennbar mit der Vergangenheit verknüpft ist. Vergangenheit bedeutet hier primär: mit dem Tod, der keineswegs das Ende bedeutet, sondern die Menschen dazu verpflichtet, für ein angenehmes Leben zu bezahlen. Die Energie für das alltägliche Leben wird aus Menschenknochen gewonnen. Die Gesellschaft kann und will nicht darauf verzichten, und obwohl der Normalbürger lieber nicht genau wissen möchte, wie das Verfahren funktioniert, ist der Tod allgegenwärtig nicht nur im Alltag, sondern auch in der Kultur geworden; kein Wunder also, dass die Städte, die auf endlosen Katakomben gründen, auch oberirdisch gewaltigen Friedhöfen gleichen.

Stadt als Pompös-Kulisse

Leben und Tod werden noch enger miteinander verknüpft, weil die Menschen nicht die einzige intelligente Lebensform dieser Erde darstellen. Neben ihnen existieren Ghule, Dämonen, Geister und andere (Un-) Wesen, die auf ‚unserer‘ Erde fiktiv und ins Reich der Sagen verbannt sind. Unter den Menschen befinden sich Hexen und Zauberer. Besessenheit ist kein Fluch, sondern das Natürlichste von der Welt, da Geister Maschinen und Steuergeräte ‚beseelen‘ und damit die Computertechnik weitgehend ersetzt haben.

Tristopolis wird als Schauplatz für das Geschehen eindrucksvoll geschildert. Dass diese gleichermaßen prächtig wie kalt und unwirtlich beschriebene Megalopolis diversen Vorlagen ‚entliehen‘ wurde, soll nicht als Vorwurf an den Verfasser gemeint sein. Das dumpf dröhnende Baxter-Lob noch im Ohr, möchte Ihr Rezensent mögliche Inspirationen zumindest erwähnen. Wer die „Städte“-Fantasien des François Schuiten oder die „Terminal City“-Comics von Michael Lark gesehen hat, wird vieles von dem wieder erkennen, das Tristopolis ausmacht. Der Filmfreund wird sich an Metropolis oder Gotham City oder die Metropole aus „Blade Runner“ erinnern.

Die Story selbst ist spannend und wird gut entwickelt. Originell ist sie wie gesagt nicht. Gothic ersetzt bzw. ergänzt Cyberpunk und wird durch konventionelle Horror-, SF- und Thriller-Elemente abgepuffert. Primär überzeugt vor allem das Geschick, mit dem der Verfasser als Geschichtenerzähler agiert und die diversen Bestandteile kombiniert. (Nebenbei: Die Geschichte spielt im siebten Jahrtausend, was wenig überzeugend wirkt, da die Menschen weiterhin Autos, Flugzeuge und andere Objekte eines sehr gegenwärtig wirkenden Alltags benutzen, selbst wenn diese im wahrsten Sinn der Worte wie von Geisterhand bewegt werden.)

Cop bleibt Cop – in jeder Epoche

Da haben wir ihn wieder einmal: den privat einsamen & beruflich unbestechlichen Cop, der seinen Weg geht, um der Gerechtigkeit zu ihrem Recht zu verhelfen, auch wenn sein Leben darüber in die Brüche oder gar zu Ende zu gehen droht. Donal Riordan ist – einem weiteren Klischee entsprechend – nur leidlich gut angesehen bei seinen Vorgesetzten, weil er mit dem Fluch des selbstständigen Denkens und Handels geschlagen wurde.

Das System, in dem er lebt, sieht er kritisch, aber er verteidigt es, weil das sein Job ist. Den Ausbruch wagt Riordan erst, als im keine Alternative mehr bleibt, und begründen kann er ihn, weil er auf einer anderen Ebene seinen Idealen folgen kann. Riordan wird erst renitent, als man ihn verrät und besagte Ideale verhöhnt. Er muss durch die Hölle gehen, aus der er geläutert und voll des ebenso rechtschaffenen wie rachsüchtigen Zorns auf den „Schwarzen Zirkel“ hervorgeht.

Der gibt sich elitär und wichtig, aber im Grunde geht es ihm nur um die Befriedigung selbstsüchtiger Bedürfnisse, wozu berufliche und gesellschaftliche Privilegien korrumpiert und missbraucht werden: Die Mitglieder des „Zirkels“ wollen „high“ werden und beschaffen sich ihren ‚Stoff‘ .Ein SF-Motiv ist das kaum, sondern höchstens eine Bestätigung der Vermutung, dass sich die menschliche Begierden der Zukunft zwar formal ändern können aber grundsätzlich bestehen bleiben.

Die dunklen aber unterhaltsamen Seiten der Zukunft

Bei näherer Betrachtung knirscht es auch ohne die Umtriebe des „Zirkels“ tüchtig im Getriebe dieser Metropole. Die nichtmenschlichen Bewohner von Tristopolis gelten als Bürger zweiter Klasse. Es gibt sogar eine politische Partei, die ihnen die Bürgerrechte gänzlich streichen will; aus intelligenten Wesen mit durchaus eigenen Willen würden Sklaven, die nach Belieben ausgenutzt werden dürften; eine Drohung, die für weitere dramatische Verwicklungen sorgt.

Selbstverständlich gibt’s auch eine Liebesgeschichte, die – noch selbstverständlicher – voller Hindernissen steckt, die hier primär darauf basieren, dass Riordans Herzensdame Steele ein Zombie ist und die Gesellschaft von Tristopolis Beziehungen zwischen Lebenden und Toten ungern toleriert. Den nekrophilen Aspekt dieser Beziehung behandelt Meaney sehr diskret, wobei hilfreich ist, dass die Zombies der Zukunft weder so grässlich anzuschauen sind noch sich so unfreundlich benehmen wie ihre romeroesken Vorfahren.

Der Purist könnte „Tristopolis“ durchaus berechtigt als modisch gestylte und sich an den Leser anbiedernde, dabei jedoch keine neue Wege wagende Science Fiction verdammen. Den durchschnittlichen Leser wird das kaum interessieren. Er erlebt ein SF-Abenteuer mit einer sympathischen Hauptfigur und vielen schrägen Nebendarstellern. Meaney hat sich große Mühe gegeben, seine Totenwelt lebendig und mit vielen einfallsreichen und witzigen Details zu gestalten. Sich darauf einzulassen macht Spaß und lässt wenn schon nicht vergessen, so doch verzeihen, dass quasi jedes Element eine ‚Leihgabe‘ ist, die ihre Funktionalität bereits unter Beweis gestellt hat und zudem in ihrem Potenzial eingeschränkt ist. Vielleicht kehrte Meany auch deshalb nur noch einmal in die „Tristopolis“-Welt zurück: „Tristopolis – Böses Blut“ erschien 2008.

Autor

John Meaney wurde 1957 in Paddington, Nord-London, als Sohn irischstämmiger Eltern geboren. Seine Kindheit verbrachte er im „irischen Ghetto“ von Queen’s Park bei Kilburn; später zog die Familie nach Slough westlich von London um. Nach seiner Schulzeit schrieb sich Meaney an der Birmingham University ein, wo er Physik studierte. Er setzte dies an der „Open University“ fort, wobei er sein Fernstudium um das Fach Computerwissenschaften ergänzte. Später ging er nach Oxford, wo er einen akademischen Grad erwarb. Anschließend arbeitete er viele Jahre als Berater und Lehrer in der IT-Branche.

Der phantastischen Literatur ist Meaney nach eigener Auskunft schon seit Grundschultagen verfallen. Selbst aktiv als Schriftsteller wurde er Anfang der 1990er Jahre. „Spring Rain“, eine Kurzgeschichte, wurde 1992 seine erste Veröffentlichung. 1998 erschien „To Hold Infinity“, Meaneys erster Roman, der vom „Daily Telegraph“ als „Book of the Year“ ausgezeichnet wurde. Zwischen 2000 und 2005 erschien die „Nulapeiron“-, 2010-2013 die „Ragnarok“-Trilogie.

Als IT-Spezialist arbeitet Meaney inzwischen nur noch stundenweise, während seine schriftstellerischen Aktivitäten kontinuierlich zunehmen. Eine Größe ist er auch in der Kampfsportszene; seit 1972 trainiert er Shotokan-Karate und hält einen Schwarzen Gürtel in dieser Disziplin. Mit seiner Familie lebt und schreibt John Meaney heute in Kent. Über seine Arbeit und seine Haudrauf-Aktivitäten gibt er eher launig als informativ auf seiner Website Auskunft.

Taschenbuch: 509 Seiten
Originaltitel: Bone Song (London : Gollancz 2007/New York : Spectra Books 2008)
Übersetzung: Peter Roberts
Cover: Franz Vohwinkel
http://www.randomhouse.de/heyne

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