Micaiah Johnson – Erde 0

Stell dir vor, du kannst in andere Welten reisen – aber nur wenn du dort bereits tot bist …
Ausgerechnet ihre Herkunft, die ihr bislang immer im Weg stand, wird für die junge Cara zum Ticket in ein besseres Leben: Der charmante Wissenschaftler und Firmenmogul Adam Bosch sucht Menschen aus prekären Verhältnissen, denn er hat einen Weg gefunden, in parallele Welten zu reisen – doch dieser Weg steht nur denen offen, die in der Parallelwelt bereits tot sind.
Als Weltenspringerin soll Cara möglichst viele Informationen für Adam sammeln. Bei einem ihrer Sprünge begegnet sie jedoch einer Version von Adam, die als despotischer Herrscher die ganze Welt unterdrückt. Kann Cara Adam und dem, was er angeblich für die Erde 0 plant, wirklich trauen?

Die amerikanische Autorin Micaiah Johnson legt mit »Erde 0« einen Science-Fiction-Roman vor, der nicht nur mit detailliert und glaubwürdig ausgearbeiteten Parallelwelten, vielfältigen Charakteren und einer rasanten Story besticht, sondern fast nebenbei auch hoch aktuelle Themen wie Diversity, Armut und gesellschaftliche Ausgrenzung behandelt.
(Verlagsinfo)

Erde 0 – die Ausgabe der Welt im Multiversum unendlicher Möglichkeiten, die von einigen als Ausgangspunkt aller Welten gesehen wird. Wie wunderbar absurd diese Vorstellung ist, wird sie bereits auf den ersten Seiten des Buches eingestreut von der Ich-Erzählerin, die später nicht erneut auf diese Definition zurück kommt. Was trocken und wissenschaftlich klingt, bildet die Basis für dieses ungewöhnliche Buch und rückt doch der Erzählung Raum gebend in den Hintergrund, so dass die Trockenheit im Text nicht naturwissenschaftlich begründet, sondern allenfalls durch die Bilder des Lebensumfeldes entsteht: die Wüste in einer postapokalyptischen Welt außerhalb der Mauern der letzten großen Städte der Reichen und Mächtigen, die Wüste, in der die Erzählerin geboren wurde und aus der sie mit all ihrem Streben auszubrechen sich sehnt. Natürlich ergreift sie die erste sich bietende Gelegenheit und wird zur Weltenwanderin.

Micaiah Johnson wuchs in der kalifornischen Mojave-Wüste auf, umgeben von Bäumen namens Joshua und Frauen, die Geschichten erzählten. Sie erhielt ihren Bachelor of Arts in kreativem Schreiben an der University of California, Riverside, und ihren Master of Fine Arts in Literatur an der Rutgers University – Camden. Derzeit promoviert sie an der Vanderbilt University, wo sie sich mit „Critical race theory“ und Robotern beschäftigt. Ihr Debütroman „Erde 0“ war ein Sunday Times Bestseller, New York Times Editor’s Choice, und gehört zu NPRs besten Büchern 2020.
(Verlagsinfo)

Zur Autorin selbst findet man im Netz nicht viel außer ihrer Vorstellung über den Verlag und eine Homepage, auf der wenig mehr als dieser Roman vorgestellt wird. Warten wir ab, was die Zeit bringt, und widmen uns heute nur dem Roman – was Aufgabe genug ist.

Die Geschichte beginnt mit dem normalen Alltag der Weltenwanderer, ihrer Aufgaben und der Prozeduren, doch Micaiah Johnson erzählt keine Geschichte über den normalen Alltag und die Prozeduren. Ihre Protagonistin streut sehr bald Bemerkungen ein, mit denen irgendetwas im Zusammenhang mit den Ansagen der sie umgebenden Personen nicht zu stimmen scheint. Und nach einigen Seiten eröffnet sich bereits der Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten allein dieses Settings vor dem Hintergrund eines bereisbaren Multiversums. Und schon wieder dieser Begriff. Johnson kommt mit erstaunlich geringer Nennung dieses Wortes aus, und dem belesenen Science-Fiction-Fan wird er sicherlich auch nicht neu sein. Was aber in dieser Rezension kaum anders als ein technischer Kniff dargestellt werden kann, ist für Johnson die Spielwiese, auf der sie auf vielfältigen Ebenen Gedankenspiele zeigen kann, ohne ihre Grenzen auszureizen, denn das würde zum völligen Verlust einer Geschichte führen. Wir lesen hier also kein Fachbuch über Möglichkeit und Paradoxa eines Multiversums, sondern die Geschichte einer Frau, die aus den äußersten Grenzen der menschlichen Zivilisation in die Sicherheit des städtischen Lebens drängt und dort auf die Abgründe der Menschlichkeit stößt, die sich gleich ihrer Herkunft überall unter Menschen auftun. Johnson nennt es Klassizismus und meint damit alles an Abstufungsmöglichkeiten, die zwischen Menschen entstehen können. Sie lässt die Protagonistin erleben, wie der Klassizismus ihren Weg erschwert oder begrenzt, ihre Familie ausgrenzt, ihren Fokus weg von ihrem Leben auf das angestrebte Leben anderer lenkt, und, am wichtigsten, ihren eigenen Blick auf die Mitmenschen einengt und sie ihrem eigenen Klassizismus zum Opfer fällt.

Es ließen sich einige kritische Themen feststellen, wenn man das Buch auf diese Weise liest. Vordergründig erzählt Johnson jedoch eine eindringliche und aufwühlende Geschichte um Beziehungen, Verlust, Brutalität und Grausamkeit unter Menschen, auch Rache und Neuanfang, so dass sich nie das Gefühl einstellt, einem erhobenen Zeigefinger auf die Gesellschaft aus Geld, Macht, Machtmissbrauch und Korruption oder Unterdrückung, Rassismus und Fremdenhass ausgesetzt zu sein. Jedoch spielen diese Dinge eine Rolle und verleihen dem Roman die vielschichtige Tiefe, die man gleich nach den ersten Sätzen erwartet, wenn sich die Formulierungen in ihrer einfachen Klarheit den Weg ins Bewusstsein bahnen. Es war ein wunderbarer Moment, von diesem Text direkt beschlagnahmt zu werden. Beeindruckend. Im Gegensatz dazu verhält sich der Charakter der Protagonistin, diese geschundene Person, die ihr ganzes Leben erfahren musste, keinen Wert zu besitzen und mit ihren Taten stets ein Entweder-Oder, Leben oder Tod zu erzwingen, stets mit dem Rücken zur Wand und ohne echte Aussicht auf Sicherheit. Sie in die Sicherheit der Stadt zu versetzen und über die Mulitversen erfahren zu lassen, was irgendwo möglich sein könnte, verändert sie und schafft damit den Wunsch, ebenfalls etwas zu verändern, Einfluss zu nehmen und für etwas oder jemanden Wichtig zu sein.

In diesem Sinn führt Johnson das Buch auch zu einem Finale im Rahmen der unendlichen Möglichkeiten, fokussiert durch die Protagonistin – und das echte Finale, das Ende, offenbart wie auch der Einstieg die Kunstfertigkeit des Geschriebenen. Simon Weinert als Übersetzer gebührt hier der Dank, dieses Wesen des Romans zu erfassen und zu übertragen. An dieser Stelle darf der Kritikpunkt angebracht sein, dass der Originaltitel, gerade auch im Rückblick auf die Geschichte, deutlich aussageschwerer ist und mindestens drei Aspekte des Romans erfasst und damit ein Sinnbild der Vielschichtigkeit der Geschichte ist, während der deutsche Titel zwar interessant auf dem Umschlag aussieht, jedoch wenig mit dem Text zu tun hat.

Insgesamt ist der schlanke Roman gleichwohl emotional packende Unterhaltung voller Verlust, Brutalität und Menschlichkeit und Zuneigung, als auch ein sprachlicher Genuss und vielschichtiger Aussagekraft.

Paperback
Deutsche Erstausgabe
aus dem Englischen von Simon Weinert
Originaltitel:
The Space between Worlds
Erscheinungstermin: 01.10.2021
416 Seiten
ISBN: 978-3-426-52558-6

Das Buch beim Verlag
Autorenhomepage: https://www.micaiahjohnson.com/

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