Joyce Carol Oates – Mit offenen Augen

Eigentlich führt die fünfzehnjährige Francesca ein glückliches Leben in Seattle mit ihrem älteren Bruder Todd und der kleinen Schwester Samantha. Ihr Vater Reid Pierson ist ein ehemaliger Football-Star, der inzwischen als Sportkommentator Karriere gemacht hat. Doch die Idylle zerbricht in einem Sommer: Auf einer Party will ein älterer Junge Franka zum Sex zwingen. Nur mit Mühe kann sie sich befreien und fliehen. In diesem Moment wird „Freaky Green Eyes“, ihr Alter Ego geboren, ihre starke, kämpferische Seite, die sich von niemandem schikanieren lässt.

Kurz darauf beschließt ihre Mutter Krista, sich für eine Weile in ein Strandhaus in Skagit Harbor zurückzuziehen. Sie will dort malen und ein wenig Abstand gewinnen. Beide Elternteile betonen, dass kein Grund zur Sorge besteht, doch Franka spürt, dass sich ihre Eltern entfremden. In dieser schwierigen Zeit bricht der Kontrollwahn des Vaters stärker denn je hervor. Nach außen hin erscheint Reid Pierson als strahlender Held, doch insgeheim versucht er alles, um seine Familie zu „disziplinieren“. Franka leidet unter der Zerrissenheit und dem Wunsch, beiden Elternteilen Loyalität zu zeigen.

Kurz nach einem Streit mit ihrer Mutter trifft die Nachricht ein, dass Krista Pierson verschwunden ist. Mit ihr der Künstler Mero Okawa, mit dem sie in Skagit Harbor eine enge Freundschaft eingegangen ist. Obwohl Mero als homosexuell gilt, geht bald das Gerücht um, die beiden seien miteinander durchgebrannt. Auch Frankas Vater unterstützt diese Theorie und hetzt die Kinder gegen die Mutter auf. Franka wird jedoch das schreckliche Gefühl nicht los, dass ihr Vater etwas mit dem Verschwinden zu tun hat …

Familiäre Probleme sind durchaus ein Spezialgebiet von Joyce Carol Oates, die sich nicht scheut, in ihren Werken heikle Themen aufzugreifen.

Typische Jugendprobleme

Sowohl die ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht als auch Schwierigkeiten mit den Eltern werden in diesem Buch angesprochen. Franka ist eine typische Fünfzehnjährige, auch wenn sie aus einem reichen Elternhaus stammt und einen prominenten Vater besitzt. Inmitten einer Party voller älterer Teenager fühlt sie sich verloren, unansehnlich mit ihren roten Haaren und den Sommersprossen, ein stacksiges Mädchen, das mit Jungs noch keine näheren Erfahrungen gesammelt hat. Der Partyflirt mit einem Älteren gerät aus der Bahn – zum ersten Mal bekommt Franka die bedrohliche Seite der Sexualität zu spüren. Auch die ungetrübte Familienharmonie gehört von nun an der Vergangenheit an. Zwar lässt Franka durchblicken, dass ihr Vater manchmal zu „Disziplinarmaßnahmen“ greift, verteidigt ihn jedoch stets im gleichen Atemzug, weil sie davon überzeugt ist, dass er damit nur seine Liebe beweisen will.

Einen Riss erhält diese Verharmlosung, als Franka bei einer Einladung die Wildtiere freilässt, welche die Kinder der Gastgeber in kleinen Käfigen gefangen hielten. Angespornt durch ihr mutiges neues Ich „Freaky“ nimmt Franka in Kauf, dass ihr Vater ihr vor aller Augen Schläge androht und sie tagelang ignoriert, in seiner festen Überzeugung, dass seine Tochter nicht Courage, sondern Schande bewiesen hat. Zu dieser Zeit glaubt Franka auch manchmal, die Mutter weinen zu hören, redet sich aber ein, dass es ein gedämpftes Lachen gewesen sein muss. Lieber verleugnet sie alle Anzeichen, als dass sie anerkennt, dass ihr Vater nicht der wunderbare Mensch ist, den die Medien und sein Umfeld in ihm sehen wollen. Stattdessen ist Franka nur zu gerne bereit, den Verleumdungen über ihre Mutter Glauben zu schenken. Es ist leichter, der Mutter eine Affäre zu unterstellen, als zu glauben, dass der glorreiche Vater am Zerbrechen der Harmonie Schuld sein könnte.

Auch wenn der Roman im weiteren Verlauf eine kriminalistische Wendung nimmt, sind diese Probleme vielen Jugendlichen bekannt. Die Familie bricht auseinander, auch die Geschwister halten nicht mehr zusammen, wie hier im Falle Todd. Der Neunzehnjährige ist lediglich Reids leiblicher Sohn, und obwohl Krista seit fünfzehn Jahren seine Mutterrolle übernommen hat, zeigt sich nun mehr denn je, dass er sich ausschließlich als Kind seines Vaters betrachtet. Franka bleibt allein in ihrem Kummer, denn weder Todd, der seinen Vater verteidigt, noch ihre kleine Schwester Samantha, die nur wenig davon versteht, was geschieht, kann sie behelligen, auch Tante Vickie bedeutet keine Zufluchtsmöglichkeit, da sie von jeher eine Abneigung gegen ihren Schwager Reid hegte. Frankas Zuflucht lautet „Freaky“, ihr Alter Ego, ihre starke Persönlichkeit, die sich nicht einschüchtern lässt und in deren Rolle sie schlüpft, wenn sie sich bedrängt fühlt.

Vom Drama zum Thriller

Eine Wendung erfährt die Handlung mit dem plötzlichen Verschwinden von Krista Pierson und ihrem neuen Bekannten Mero. Mit einem Mal ist nicht die Scheidung, sondern der Tod eines Elternteils Frankas größte Befürchtung. Stärker denn je leidet sie unter der Zerrissenheit, denn an den Tod der Mutter zu glauben, bedeutet gleichzeitig, ihren geliebten Vater zu verdächtigen. Oder hat doch Mero, den Franka schließlich kaum kennt, etwas mit ihrem Verschwinden zu tun? Hat er sie entführt oder gar getötet, liegt Reid also richtig mit seinen Äußerungen, dass er nichts damit zu tun hat?

Franka weiß es nicht, will es gar nicht wissen, verdrängt, streitet ab und gibt der Polizei flapsige Antworten. Die Medien schalten sich ein und stellen Theorien auf, Franka fühlt sich ständig in der Öffentlichkeit beobachtet. Fast fürchtet man, dass die Geschichte mit einem offenen Ende schließt, doch letztlich klären sich alle Fragen, es gibt sogar einen kleinen Epilog, in dem Franka einige Monate nach den Ereignissen Revue passieren lässt. Was als Teenagerproblembuch beginnt, endet als Drama mit Thrillereinschlag und hohem Spannungspotenzial.

Kaum Schwächen

Mängel sind dem Werk kaum anzukreiden, sieht man davon ab, dass das Buch anfangs sich etwa an Zwölfjährige zu richten scheint, mit dem Mordverdachtsthema jedoch eine Wendung einschlägt, bei der die Leser besser vierzehn Jahre oder älter sein sollten, da es ansonsten sehr aufwühlen kann. Auch ist es nicht immer leicht nachzuvollziehen, weshalb sich Franka so stark auf die Seite ihres Vaters schlägt und lange Zeit ihrer Mutter die alleinige Schuld an der Familienkrise gibt, selbst noch nachdem ihr Vater sie in der Öffentlichkeit demütigt und zu verprügeln droht. Dazu gehört auch ihre krasse Aussage bei der Polizei, dass sie nicht von ihrer „Mutter“, sondern lieber von „Krista Connor“ sprechen möchte, ihren Mädchennamen benutzend. Nachdem Franka bis dahin immer zerrissen schien, die Schwachpunkte ihres Vaters wohl ahnte, wenn auch verharmloste, kommt die Wandlungsphase, in der sie sich komplett hinter den Vater stellt und ihre Mutter verleugnet, zu plötzlich und unmotiviert.

Als Fazit bleibt ein gelungenes Jugendbuch, das sich sowohl mit dem normalen Thema Scheidung befasst als auch Thrillerelemente enthält. Aufgrund der gegen Ende immer aufwühlenderen Thematik ist das Werk eher ab vierzehn Jahren geeignet.

Die Autorin Joyce Carol Oates, geboren 1938 in New York, studierte Englisch und Philosophie und lehrte an verschiedenen Universitäten. Mittlerweile hat Oates rund 60 Romane und 300 Erzählungen veröffentlicht. Ihre Themen reichen von Gesellschaft und Sozialprobleme über Thriller, Jugendbücher und Phantastik. Sie gilt als eine der bedeutendsten Vertreterinnen amerikanischer Gegenwartsliteratur. Weitere Werke sind u. a. „Bellefleur“, „Engel des Lichts“, „Blond“, „Zombie“ und „Im Dickicht der Kindheit“.

Taschenbuch: 272 Seiten
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