Richard Parry: Die Männer der Polaris. Die wahre Geschichte der tragischen Arktis-Expedition von 1871

Parry Männer der Polaris Cover kleinDas große Rennen um (und über) die Welt

Das Jahr ist 1871. Der Große Bürgerkrieg ist vorüber, die Blauen & die Grauen schlagen sich nicht mehr die Köpfe ein; Zeit für die immer noch jungen, jetzt wieder Vereinigten Staaten von Amerika, sich darauf zu besinnen, der Restwelt das Heil zu bringen, was sie bereits zu diesem Zeitpunkt als ihren von Gott (oder Gandalf) erteilten Auftrag erkannt haben.

Damit stehen sie nicht allein. Imperialismus politisch schwer im Kommen. Auf dem gesamten Globus machen sich mächtig aufgerüstete Nationen daran, ihrem Herrschaftsgebiet möglichst viele und lukrative Kolonien einzuverleiben. Die Filetstücke sind schon vergeben, als sich nun auch die USA an diesem Run beteiligen möchten. Wenn‘s nichts mehr zu erobern gibt, dann lässt sich immerhin einiger Ruhm damit ernten, unbekannte Länder zu entdecken (die dann womöglich doch das Ausbeuten lohnen).

Die Amerikaner hassen es, auch hier das Nachsehen zu haben. Besonders die Erfolge der Briten nagen an ihrem Stolz. Das Dach der Welt – der Nordpol – ist schon länger das Ziel aufwändiger Expeditions-Attacken, die mühsam als Forschungsreisen getarnt werden. Bisher endeten sie stets kläglich oder katastrophal, doch es könnte geschehen, dass ausgerechnet die ungeliebten „Limeys“ (dieses Schimpfwort ist tatsächlich schon so alt) beim nächsten Vorstoß quasi im nordamerikanischen Hinterhof den Hausherrn düpieren.

Eine eigene Expedition muss folglich her. Einen geeigneten Anführer gäbe es: Charles Francis Hall, erfolgreicher Geschäftsmann und Verleger aus Ohio, hat in den Jahre 1860 und 1871 zwei Polarreisen unternommen. Aus dem unerfahrenen Abenteurer wurde dabei ein erfahrener Reisender, der überlebte, weil er begriff, dass man in Norden nicht gegen, sondern mit der Natur leben muss. Hall lernt bereitwillig von den Inuit (früher „Eskimos“ genannt), er unternimmt ausgedehnte Fahrten über das Eis und bewährt sich dort, wo der weiße Mann in der Regel scheitert.

Der Traum vom Ruhm und die grausame Realität

Die Jagd auf den Nordpol ist ganz nach Halls Geschmack. Er ist keine weltfremde Gelehrtenseele, sondern ein Selfmade-Mann, der sich seinen Zielen mit Leib und Seele verschreibt. Mit der ihm eigenen Energie gelingt es ihm nicht nur, ein Schiff zu finden und eine Besatzung zusammenzustellen, sondern auch, die Politik auf seine Seite zu bringen. Präsident Grant selbst macht sich zum Fürsprecher der Expedition, und der Kongress bewilligt viel Geld für ihre Ausrüstung.

Wenn das Entdecken nur nicht so teuer wäre … Von Anfang an steht ein Unstern über der Reise. Die „Polaris“, ein alter Schlepper, ist trotz umfangreicher Umbauten denkbar ungeeignet für eine Eisfahrt nördlich des Polarkreises. Ihr Kapitän ist erfahren aber ängstlich und ein Säufer. Die Offiziere und die Wissenschaftler wurden nicht nach ihren Fähigkeiten, sondern nach Proporz ausgesucht: Jede Partei, die Geld zur Expedition zuschoss, will ihren Vertreter mit zum Pol schicken.

Dass dieser erreicht wird, steht schon vorab außer Frage und setzt Hall zusätzlich unter Druck. Zu diesem Zeitpunkt weiß er, dass er in gewaltigen Schwierigkeiten steckt: Die Schiffsführung ist heillos zerstritten, bevor die Eisgrenze überhaupt erreicht wurde. Als die „Polaris“ nach vielen Gefahren ihr Winterquartier aufschlägt, befindet sich bereits auf einer Reise ins Herz der Finsternis. Allein in der öden Eiswildnis bricht offener Krieg aus, der in Schiffbruch, Wahnsinn und Mord endet ….

Aus Entdecker-Helden werden Menschen

„Die Angst vor dem Tod ist schon lange aus mir herausgefroren und gehungert worden. Aber wenn ich umkomme, so hoffe ich doch, dass einige Mitglieder dieser Gruppe gerettet werden, damit sie die Wahrheit über die Vorkommnisse auf der ‚Polaris‘ erzählen können. Jene, die diese Expedition durchkreuzt und vereitelt haben, dürfen nicht ungeschoren davonkommen. Sie können ihrem Gott nicht entfliehen!“

George Tyson, selbst tief verwickelt in das „Polaris“-Desaster; schrieb Worte nieder, die man kaum in einem der typischen Helden-Hurra!-Berichte über wagemutige Expeditionen würde, die wir üblicherweise zu lesen bekommen. Selbst wenn auf einer solchen Reise etwas schief gegangen ist, wird dies mehr oder weniger ‚korrigiert‘ oder mit den außergewöhnlichen Bedingungen und Schwierigkeiten am Ort des Geschehens erklärt. Ansonsten sterben Entdecker immer heroisch; Robert F. Scott, der mutige aber untaugliche Fast-Eroberer des Südpols ist wohl das beste Beispiel.

Erst in den letzten Jahren wird kritischer auf die Weltenwanderer der weiteren oder auch nahen Vergangenheit geblickt. Dem Puristen gilt dies als Majestätsbeleidigung, aber wieso eigentlich? Schmälert es z. B. Roald Amundsens Leistungen, wenn man weiß, dass er menschlich ein wenig erfreulicher Zeitgenosse war? Stattdessen lässt sich auch aus dem Unerfreulichen viel lernen. Was die Polarwelt mit ihren extremen Lebensbedingungen mit denen treibt, die sich ihr unvorbereitet stellen, wurde selten so deutlich wie am Beispiel der „Polaris“-Expedition. An dieser Stelle würde es zu weit führen, die irrwitzige Kette der Irrtümer, Unterlassungen und Inkompetenzen nachzuzeichnen, doch was uns Autor Parry uns brillant aber unbarmherzig vor Augen führt, lässt den Leserkopf permanent in ungläubiges Schütteln geraten.

Eine Frage der Objektivität

„Die Männer der Polaris“ war 2001 nach recht kurzer Zeit das zweite Buch über die verhängnisvolle Expedition von 1871. Im Jahre 2000 hatte Chauncey Loomis eine aktualisierte Neuausgabe seines Klassikers „Weird and Tragic Shores“ (dt. „Verloren im Ewigen Eis. Der rätselhafte Tod des Arktisforschers Charles Francis Hall“) veröffentlicht. Dies ermöglichte interessante Vergleiche. Von den beiden Autoren ist Loomis der Zurückhaltende. Er stützt sich strikt auf die Quellen, die er sehr vorsichtig interpretiert. Parry geht hingegen in die Offensive. Er hält sich nicht damit auf, das Material seinen Lesern vorzustellen, um diesen die wertende Entscheidung zu überlassen. Stattdessen sind für ihn die Rollen von Anfang an verteilt. „Helden“ gibt es ohnehin in Parrys „Polaris“-Drama nicht. Buchstäblich jeder, der daran beteiligt ist, hat Dreck am Stecken, Präsident Grant nicht ausgenommen.

Schenkt man Parry Glauben, dass die Quellen tatsächlich hergeben, was er da beschreibt, dann hat er die bessere Recherche-Arbeit geleistet. Oder war er einfach mutiger in seiner Interpretation? Zumindest der Historiker ist skeptisch. Immer wieder beschreibt Parry, wie an Bord der „Polaris“ systematisch Log- und Tagebücher vernichtet oder ‚frisiert‘ wurden, um diverse Sünden zu vertuschen. Wie konnte er trotzdem so vieles wieder aufdecken? Loomis weist auf die zahlreichen Überlieferungslücken hin und berücksichtigt sie in seinem Werk. Parry hingegen füllt sie mit eigenen Schlussfolgerungen. Kennt man Loomis‘ „Polaris“-Buch nicht, wird man Parry uneingeschränkt Glauben schenken, denn bei ihm fügt sich ein Fakt zum anderen, bis das düstere Gesamtbild steht.

Was Parry verschweigt, ist die den historischen Laien stets frustrierende Tatsache, dass es letzte Sicherheit in der Geschichtswissenschaft nicht gibt. Selbst (und manchmal gerade) dort, wo die Quellenlage gut ist, gilt es stets zu beachten, dass Menschen nach bestem Wissen und Gewissen, aber mit einer gewissen Fehlerquote die Bruchstücke nachträglich zusammensetzen.

Spannung oder Fakten?

Der Tod von Charles Francis Hall beschreibt die Scheidelinie. Dass man ihn in der Tat umgebracht hat, konnte mit hoher Wahrscheinlichkeit bewiesen; das polare Klima ermöglichte es, Halls Leiche 1968 (!) zu exhumieren und zu untersuchen: Mit Arsen hat man es getan. Ob allerdings der von Parry ermittelte Mann der Mörder war, kann längst nicht so eindeutig entschieden werden wie Parry es vorgibt. Von Anfang an ist dieser Pechvogel – dessen Name hier für den Noch-nicht-Leser dieses Buches verschwiegen wird – sein Bösewicht im „Polaris“-Spiel. Jede Handlung, jedes Wort brandmarkt ihn in seiner ihm vom Verfasser zugedachten Rolle.

Auch sonst ist die Reise der „Polaris“ nach Parry von Anfang an eine Irrfahrt der Verdammten. Nur Streithansel, Dummköpfe und Versager fahren mit; ausgenommen bleiben nur die an Bord befindlichen Inuit. Vor Ort im hohen Norden reihen die selbstherrlichen Eroberer Fehler an Fehler, was vor allem im Nachhinein einfach zu konstatieren ist. Parry selbst weist mehrfach darauf hin, dass Anno 1873 die Wissenschaft noch im Dunkeln tappte, wie in der Eiswüste zu (über-) leben war. Auch das rigide Kastensystem, die Rassismen und sozialen Ungerechtigkeiten, die der „Polaris“-Expedition zusätzlich zu schaffen machten, müssten als Produkt ihrer Epoche und ihres Kulturkreises historisch, d. h. wertneutral zur Kenntnis genommen werden. Das gelingt Parry freilich nie.

Die (hinterlistige) Macht des Wortes

Man nimmt es ihm zunächst nicht übel, denn dieser Mann kann schreiben! Voller Ironie erzählt er die „Polaris“-Geschichte. Da umzingeln schon einmal nächtlich tückische Eisschollen ein kleines Beiboot, um sich auf es zu stürzen und zu zerdrücken. Liest sich witzig, ist aber pure Effekthascherei, die Parry buchstäblich zum Stilmittel erhebt. Das sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man mit dem Verfasser auf diese Reise der Irrungen & Wirrungen geht.

Trotz der genannten Bedenken kann dieses Buch uneingeschränkt empfohlen werden. Es wurde sorgfältig übersetzt sowie mit einigen wenigen aber gut gewählten Abbildungen und zwei Karten ausgestattet, auf denen sich die Fahrt nachvollziehen lässt. Dass letztlich doch der Glaube an Parrys Wort überwiegt, verdankt dieser auch dem Blick auf die rekonstruierte Route, die sich nur als irrationales Getorkel beschreiben lässt: Hier waren wahrlich weder Forscher, Entdecker oder auch nur Seeleute am Werk!

Taschenbuch: 410 Seiten
Originaltitel: Trial by Ice. The True Story of Murder and Survival on the 1871 Polaris Expedition (New York : Ballantine Books 2001)
Übersetzung: Frank Auerbach (unter Mitarbeit von Eveline Köhler und Theresia Übelhör)
http://www.randomhouse.de/goldmann

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