Paul Duncan/Jürgen Müller (Hgg.) – Film Noir. 100 All-Time Favorites

Duncan Mueller Film Noir Cover kleinInhalt:

– Notizen zum Film Noir (S. 6-19): Auf wenigen Seiten formulierte Paul Schrader, selbst ein renommierter Filmregisseur und – u. a. als Drehbuchautor für Martin Scorseses „Taxi Driver“ (1976; in diesem Buch ab S. 518 gewürdigt) – mit dem Genre wohlvertraut, bereits 1972 eine der besten und deshalb zurecht immer wieder zitierten Definitionen des „Film Noir“. Schon in der ersten Zeile nennt er die drei zentralen Konstanten: Zynismus, Pessimismus, Düsternis.

Französische Kritiker waren es, die 1946 ein ‚neues‘ US-amerikanisches Kino erkannt zu haben glaubten, das mit der „Crime-doesn’t-Pay“-plus-Happy-End-Mentalität brach. Nach der „Großen Depression“ hatte der Zweite Weltkrieg die vertraute Wertewelt nachdrücklich erschüttert. An den umkämpften Fronten hatte sich Furchtbares ereignet; die Erinnerungen brachten die Überlebenden unbewältigt zurück. ‚Daheim‘ waren die gesellschaftlichen Strukturen ins Rutschen geraten. In Abwesenheit der kämpfenden Männer hatten die Frauen in den entstandenen Lücken beruflich Fuß gefasst sowie privat – auch sexuell – an Selbstbewusstsein gewonnen. Würden sie diese Positionen räumen und an den heimischen Herd zurückkehren? Selbst (und gerade) diejenigen, die es erwarteten, stellten sich besorgt diese logische Frage: Warum sollten sie?

Die Populärkultur reagierte auf die sozialen Umbrüche. Zusammen mit „femmes fatales“ drängten Gangster, die sich vor dem Kriegsdienst gedrückt hatten, habgierige Kriegsgewinnler, verzweifelte Verlierer und brutale, unberechenbare Psychopathen in die entstandenen Nischen. Das filmische Instrumentarium zur Aufarbeitung gab es bereits. Schon früh hatten jene, die den Film als Form des künstlerischen Ausdrucks erkannten, mit Licht und Schatten gespielt, um Stimmungen zu erzeugen und zu beeinflussen.

Vor allem der deutsche Stummfilm lotete die Spannweite des Machbaren aus. In den 1920er Jahren und nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933 wanderten viele deutsche Regisseure und Kameramänner in die USA aus. In Hollywood setzten sie ein, was sie gelernt hatten, und gaben ihre Kunst an wissbegierige Kollegen weiter. Nach dem Krieg kam der Moment: Das Kino war reif für das „schwarze“ Kino, das in anderthalb Jahrzehnten zahlreiche Meisterwerke hervorbrachte, zu den drei weiter oben genannten Eigenschaften zunehmen Wahnsinn sowie Mordlust addierte und auch nach Abebben der eigentlichen „Noir“-Welle keineswegs verschwand: Schließlich hat jede Ära ihre schattigen Winkel.

– Out of Focus (S. 20-35): Jürgen Müller und Jörn Hetebrügge legen die „Verkantungen, Unschärfen und Verunsicherungen“ im „Film Noir“ offen. Als Beispiel dient ihnen „The Lady from Shanghai“ (dt. „Die Lady von Shanghai“), mit dem Regisseur Orson Welles 1946 ein Schlüsselwerk des Genres vorlegte. Inhaltlich wie formal beinhaltet dieser Film nach Ansicht der beiden Autoren sämtliche „Noir“-Elemente, die sie detailliert auflisten und entschlüsseln. Sie werden im folgenden Hauptteil immer wieder zur Sprache kommen.

– Eine Einführung in den Neo-Noir (S. 36-49): Der ‚klassische‘ „Film Noir“ endete nicht Ende der 1950er Jahre. Die Zahl der Filme, die sich dem Genre zuordnen lassen, nahmen zwar an Zahl ab. Natürlich gerieten darüber Stilmittel, die sich über viele Jahre bewährt hatten, nicht schlagartig in Vergessenheit. Douglas Keesey zeichnet die Geschichte des „Neo-Noir“ nach, der die alten, düsteren Werte bewahrt und sich gleichzeitig neue Errungenschaften der Filmtechnik zu Eigen macht. Inzwischen ist der „Film Noir“ problemlos farbig, digitaltonspurig und notfalls dreidimensional, ohne seine unheilschwangeren Unterton zu verlieren. Er ist auch im 21. Jahrhundert problemlos präsent und wird es bleiben.

– Auf den Seiten 50 bis 663 werden 100 sorgfältig ausgewählte „Noir“-Filme vorgestellt. Die Liste beginnt 1920 mit dem deutschen Klassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“, konzentriert sich später auf die große Zeit des Genres und bietet dann dem „Neo-Noir“ breiten Raum; letzter Film ist „Drive“ von 2011.

Einer knappen Inhaltsangabe folgt eine kurze Analyse. Den Haupttext begleiten Info-Boxen, in denen noirtypische bzw. filmhistorische Begriffe („Detektivfilm“, „Noir-B-Movies“, „Dokumentarischer Noir“, „Die Schwarze Liste“) erläutert oder wichtige Regisseure (Alfred Hitchcock, Billy Wilder, Robert Siodmak, Fritz Lang, Martin Scorsese), Buch- und Drehbuchautoren (Raymond Chandler, Cornell Woolrich), Kameramänner sowie Schauspieler/innen (Bogart & Bacall, Robert Mitchum, Kirk Douglas, Ava Gardner) vorgestellt werden. Hinzu kommen prägnante Zitate.

Klein- und großformatige Standfotos und Plakate illustrieren den Text nicht nur, sondern verschaffen ihm eine zusätzliche Informationsebene. Dabei wird stets herausgestellt, dass „Film Noir“ keine seitenstabile Schublade darstellt, sondern Überlappungen mit anderen Genres üblich sind. Darüber hinaus wird deutlich, dass „Film Noir“ keineswegs ein US-amerikanisches Phänomen war und ist: „Schwarze“ Filme entstehen überall auf der Welt: Unglück will global bewältigt werden.

– Dem Hauptteil folgen ein Register, eine Liste sehenswerter „1000 Film Noirs“, ein Autorenverzeichnis und die „Credits“ (Impressum).

Hommage und Huldigung

Qualität hat manchmal nicht nur ihren Preis, sondern auch ihr Gewicht: Genau 3,526 Kilogramm sind es in diesem Fall. Für ein Buch ist das beachtlich, wie jede/r bestätigen wird, der diesen Prachtband auf dem Rücken liegend zu lesen versuchte. Es geht nicht lange gut; selbst der gut gepolsterte Bauch dieses Rezensenten gab dem Druck des Lektürevergnügens buchstäblich nach. Dieses Buch will und muss mindestens durch stabiles Holz abgestützt werden, ehe es sich seinem Leser erschließt.

Die Mühe nimmt man gern auf sich, denn die Opulenz dieses Bandes spricht ebenso für sich wie seine Informationsstärke. Schlägt man „Film Noir“ auf, klaftern die Seiten stolze 58 x 23 cm; diese Angabe ist wichtig, denn oft werden Filmfotos doppelseitig abgedruckt. Pixelige Verschwommenheit ist ein ‚Ideal‘, auf das sich ausstattungsfaule Verlage berufen. Schon vor einem Jahrhundert entstandene Standfotos waren zwar nicht farbig aber von glasklarer Schärfe – und so werden sie in diesem Buch wiedergegeben. Wirkt ein Bild realitätsfern belichtet oder verfärbt, war dies vom Fotografen oder Filmemacher gewollt und vorgegeben.

Dickes Fotopapier von ausgezeichneter Qualität ermöglicht eine Druckqualität, die der Verlag mutwillig bzw. selbstbewusst dadurch austestet, dass er den Text weiß auf ansonsten pechschwarzen Seiten druckt. Minderwertiger Druck ließe die Buchstaben in der Umgebungsschwärze ‚ersaufen‘. Hier ist das Druckbild klar. Selbst die manchmal allzu modisch und gradklein gewählte Schrift lässt sich spätestens unter der Lupe problemlos entziffern. Den mächtigen Papierblock hält und stützt ein robuster Leinenrücken. Die Erinnerung an die zuletzt gelesene Seite unterstützt ein hübsch als Zelluloidstreifen gestaltetes Lesebändchen.

Mit Freude lernen

Mehr als zwei Dutzend filmerfahrener Autoren tragen ihr Wissen bei. Zwei kundige Herausgeber tragen dafür Sorge, dass daraus ein Buch wie aus einem Guss entsteht: kein reiner Bildband, sondern ein Sachbuch, das den Leser informiert und zufrieden zurücklässt. Sprünge oder Brüche lassen sich nicht feststellen; die unterschiedliche Herkunft der Autoren bleibt unbemerkt: „Film Noir“ ist ein Buch, das simultan diesseits und jenseits des Atlantiks entstand und beiden Märkten gerecht werden kann.

Die Bedingungen dieses Erfolgs sind denkbar simpel und werden gerade im Film-Sachbuch trotzdem häufig ignoriert: Der Leser ist durchaus bereit sowie gewillt, informiert zu werden. Man muss ihn deshalb weder mit inhaltsarmen, notdürftig umformulierten Pressetexten und Werbefotos noch mit umständlich gestelzten Fachartikeln drangsalieren. Wissen unterhaltsam zu präsentieren ist keine Kunst, sondern sollte ein selbstverständliches und allseits beherrschtes Handwerk sein.

In diesem Fall finden Inhalt und Form zu einer jederzeit erfreulichen Synthese. „Film Noir“ setzt Maßstäbe. Ähnlich kompetente Bücher zu anderen Genres lassen sich im Programm des Taschen-Verlags übrigens ebenfalls finden. Mit diesem Brocken – den man tunlichst nicht in rutschigen Händen über die eigenen Füße, Haustiere oder Kleinkinder halten sollte – setzt man diesem freilich eine Krone auf!

Gebunden: 688 Seiten
Originalausgabe = dt. Erstausgabe
www.taschen.com

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