Ridley Pearson – Die letzte Lüge

Das geschieht:

Vor zweieinhalb Jahren hat Umberto Alvarez seine Familie bei einem Zugunglück verloren. Er macht dafür die Northern Union Railroad und besonders ihren charismatischen aber skrupellosen Vorstandsvorsitzenden und Chef William Goheen verantwortlich. Der will seine Gesellschaft mit aller Macht an die Spitze bringen und schreckt dabei vor krummen Geschäften nicht zurück.

Mit seinen Anschuldigungen ist Alvarez vor Gericht gescheitert; sogar im Gefängnis hat er gesessen, ist ausgebrochen und seither auf der Flucht. In regelmäßigen Abständen verübt er Sabotageakte auf Güterzüge der Northern Union, die dem Image der Firma mächtigen Schaden zufügen. Die Sicherheitsleute der Bahn jagen Alvarez, und mit Peter Tyler tritt nun auch das National Transportation Safety Board, verantwortlich für die Sicherheit der US-amerikanischen Transportwege, auf den Plan.

Tyler, ein ehemaliger Kriminalpolizist braucht seinen neuen Job bei der NTSB. Er ist ein guter Ermittler und merkt bald, dass die NUR ihm gegenüber mauert. Die schöne Nell Priest, die für die Northern Union Security arbeitet, muss ihn auf Weisung von ganz oben belügen. Aber Tyler kann sie auf seine Seite ziehen. Auch mit Goheen persönlich legt er sich an; keine gute Idee, denn dieser lässt seine Verbindungen spielen, um Tyler an die kurze Leine zu legen. Alvarez könnte diesem zudem bestätigen, dass die Northern Union bzw. ihr Sicherheitschef O’Malley mit dem „Team“ eine heimliche Söldnertruppe unterhält, die vor Folter und Mord nicht zurückschreckt.

Alvarez spürt, dass sich das Netz um ihn zusammenzieht. Doch den letzten und spektakulärsten Coup, der seinen Todfeind endgültig vernichten wird, will er unbedingt durchziehen. Auch er kämpft deshalb mit allen Mitteln, bis die Schienen der Eisenbahn Freund & Feind im großen, leichenreichen Finale zusammenführen …

Schnell, spannend – selbstgerecht

„Die letzte Lüge“ ist ein Buch, dessen Handlung – der Kalauer bietet sich an – wie auf Schienen verläuft: geradlinig und ohne Abweichungen. Die Spannung entsteht aus der Variation des Bekannten. Wie wird es dem Bösewicht gelingen, der bestens organisierten Sicherheitstruppe und der Polizei ein Schnippchen zu schlagen? Autor Pearson kehrt dafür das beliebte Motiv vom „unmöglichen“ Mord im fest verschlossenen Raum um, indem er auf extreme Weitläufigkeit setzt. Das macht er gut, was wichtig ist, da der Leser darüber logische Löcher und andere Unerfreulichkeiten besser vergisst. Besonders das Finale lässt an Spannung nichts zu wünschen übrig!

Die eigentliche Kritik entzündet sich deshalb an einem anderen Punkt. Lobenswerterweise legt Pearson keine politisch gar zu korrekte Story, sondern dieser ein kontroverses Element einfügt. Es geht um Selbstjustiz, die der Verfasser offenbar nicht grundsätzlich ablehnt, sondern unter gewissen Rahmenbedingungen duldet oder latent gutheißt.

Selbstjustiz ist keine spezifisch US-amerikanische Tradition. Man könnte allerdings auf diesen Gedanken kommen, denn schon lange und immer wieder hören wir im alten Europa von entschlossenen Pioniergestalten, die sich vom Gesetz verraten & verkauft fühlen und es daher entschlossen in die eigene Hand nehmen. In einem Land, das einen hohen Prozentsatz der irdischen Stahl- und Eisenvorräte in Waffenform gießt, ist ein gewaltreicher Ablauf dieses Verfahrens quasi garantiert. Da der anständige US-Bürger dem Staat, dem Gesetz oder den großen Konzernen ohnehin notorisch misstrauisch gegenübersteht, wird Selbstjustiz in weiten Kreisen mit mehr oder weniger laut geäußerter Zustimmung bewertet.

Dynamik und Verbrechen

Auf diesen Zug springt Pearson auf. (Schon wieder ein Kalauer!) Er geht nicht so weit, Selbstjustiz zu propagieren. Am Beispiel Peter Tylers zeigt er sogar deren Auswüchse auf, die sich stets gegen den selbst ernannten Rächer richten. Der Einmann-Feldzug des Umberto Alvarez ist da freilich von anderem Kaliber. Jawohl, er bekommt seine Revanche, aber bevor der eigentliche Übeltäter im Staub liegt, müssen Unschuldige unter seiner Rachelust leiden oder sogar ihr Leben lassen. Über diese Konsequenz von Selbstjustiz schweigt sich Pearson aus; für ihn gilt anscheinend, dass Späne fallen, wo gehobelt wird.

Immerhin ist die Eisenbahn das richtige Milieu für das Geschehen. Im 19. Jahrhundert, der Hochzeit der durch Gesetze kaum eingeschränkter Raubritter und Industriebarone, entstand die Bahn als Aderwerk der noch jungen Vereinigten Staaten. Rau ging es bei ihrem Bau zu, denn es gab viel Geld zu verdienen oder besser: zusammenzuraffen und zu stehlen. Später wurden Züge – wahlweise von Indianern oder Räubern – überfallen. Im frühen 20. Jahrhundert sprangen ‚Hobos‘, durch die Weltwirtschaftskrise arbeits- und heimatlos geworden, auf die Waggons auf, woran sie Eisenbahnbedienstete und Sicherheitsleute brutal zu hindern trachteten.

Im 21. Jahrhundert ist es nach Pearson auf den Schienen nur scheinbar friedlich geworden. Zwielichtige Bosse wittern und wollen weiterhin das große Geld, der kleine Mann kann dagegen mit relativ einfachen Mitteln großen Schaden anrichten, da ein Zug an seine Schienen gebunden ist und sein Entgleisen spektakuläre Folgen nach sich zieht. Auch diese Kulisse ist nicht gänzlich neu aber Pearson hat sich in die Materie eingearbeitet und beherrscht sie immerhin so gut, dass er uns weismachen kann, was für den reibungslosen Ablauf der Handlung wichtig ist.

Figuren aus der Tube

Ebenfalls beliebt in „God‘s Own Country“ ist der Kampf David gegen Goliath. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, lass dich nicht unterbuttern, du kannst es aus der Gosse schaffen – mit solchen und ähnlichen Hollywood-Binsenweisheiten kann man noch immer sein Publikum finden. Also wählt Ridley Pearson einen Helden, der in seinem Beruf aufgeht aber von einem widrigen Schicksal in Gestalt publicityorientierter, verständnis- und herzloser Beamter und windiger Medienwölfe zu Boden geworfen wurde. Einen Verdächtigen hat Peter Tyler im Affekt niedergeschlagen. Der war nachgewiesenermaßen ein Strolch aber ein schwarzhäutiger, der in den politisch korrekten Vereinigten Staaten nur unter Ausschluss von Zeugen und Medien hätte verhauen werden dürfen. Tyler hat man erwischt und nun hat er alles verloren – sein Weib, seinen Job, seinen Ruf, seinen irdischen Besitz.

Trotzdem lässt er selbstverständlich nicht nach in seinem Kreuzzug gegen das Böse. Der echte Krimiheld kriegt traditionell tüchtig auf die Schnauze, bevor er schließlich rehabilitiert, mit der weiblichen Heldin liiert oder anderweitig belohnt wird bzw. wenigstens mit strahlender Rüstung als moralischer Sieger das kriminalistische Schlachtfeld verlässt.

Auch sonst geht Pearson nicht gerade einfallsreich vor, wenn es um die Charakterisierung seiner Figuren geht, sondern setzt auf bewährte Klischees. Nell Priest ist – bald in jeder Hinsicht – die Frau an Tylers Seite, wobei die Verbindung (angeblich) rassistischer Cop/schwarze Schönheit für Seiten schindende Soap-Opera-Elemente sorgt. Priest ist selbstverständlich tüchtig, selbstbewusst und darf deshalb zusätzlich hübsch sein. Ihr Kreuz trägt sie als Mitarbeiterin einer zwielichtigen Sicherheitstruppe mit sich herum, denn wie es sich gehört, ist sie im Grunde ihres Herzens mindestens ebenso ehrenwert wie Peter Tyler.

William Goheen gibt den mächtigen aber bösen Wirtschaftstycoon, den es – auch eine US-Besonderheit – als bewundertes Vorbild und eben als Superstrolch gibt, der seine Macht entweder für seine Firma, seine Mitarbeiter und die Vereinigten Staaten von Amerika oder nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist und über Leichen geht. Pearson versucht den Spagat und schildert Goheen als Mann, der vom rechten Wege abkam. Der eigentliche Schuft ist nicht er, sondern Sicherheitschef O‘Malley. Der darf sich als brutal-schlauer Schweinehund so richtig austoben („Die Nase des Toten war zerschmettert, das rechte Auge ausgelaufen in einem Puzzle aus zerbrochenen Knochenteilen.“), während Geheen in letzter Sekunde den Bogen vom Obergauner zum gescheiterten Visionär schlagen kann. Da ist es allerdings zu spät, das Steuer wirklich herumzureißen: „Die letzte Lüge“ bleibt Thriller-Durchschnitt, der in den genannten Punkten einen unschönen Nachgeschmack hinterlässt.

Autor

Ridley Pearson (geb. 1953 und aufgewachsen in Riverside, US-Staat Connecticut) gehört zur nicht gerade kopfstarken Gruppe der Kriminal-Schriftsteller, die den Zuspruch des Publikums ebenso wie das Wohlwollen der Kritik für sich in Anspruch nehmen können. Im Vordergrund steht die Krimiserie um das Polizistenduo Lou Boldt und Daphne Matthews, die seit vielen Jahren ihr hohes Niveau halten kann.

Dabei hat Pearson eigentlich recht lärmend mit rasanten Spionage- („Never Look Back“, 1985, „Blood of the Albatross“, 1986) und Katastrophen-Thrillern wie „The Seizing of Yankee Green Mall“ (1987, dt. „Ultimatum“) begonnen. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurden seine Fähigkeiten auf dem Gebiet des Unterhaltungsromans deutlich: Gründliche Recherche, Ideenreichtum und glaubhafte Figuren verbinden sich bei ihm mit einem schnellen, spannenden, ‚filmisch‘ anmutenden Handlungsablauf zu selten origineller aber stets kurzweiliger Unterhaltung.

Das wurde sogar im fernen England zur Kenntnis genommen, wo Pearson 1991 als erster US-Amerikaner überhaupt ein Raymond Chandler Fulbright-Stipendium an der Universität zu Oxford erhielt; zwei Lou Boldt/Daphne Matthews-Romane entstanden hier.

Pearson ist ein talentierter Musiker, dessen Repertoire von Folk Rock bis Filmmusik reicht. Bekannt ist er als Bassgitarrist der „Rock Bottom Remainders“, in der hauptsächlich Autoren spielen, darunter Stephen King, Dave Barry, Amy Tan, Greg Iles und Matt Groening.

Ridley Pearsons Website

Taschenbuch: 412 Seiten
Originaltitel: Parallel Lies (New York : Hyperion 2001)
Übersetzung: Rolf Tatje
http://www.luebbe.de

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