Patrick Redmond – Der Musterknabe

England, 1945: Die sechzehnjährige Anna Sidney erwartet ein Kind vom Soldaten Edward, der kurz nach ihrem Kennenlernen in den Krieg gezogen ist. Obwohl er Anna versprochen hat, sie danach zu heiraten, kehrt er nicht mehr zurück. Ein harter Schlag für das Mädchen, das mit 13 die Eltern bei einem Fliegerangriff verlor und jetzt bei Tante Vera und Onkel Stan lebt. Ihr Sohn Ronnie wird zu ihrem Lichtblick im Leben, den sie gegen alle widrigen Umstände behält. Während Onkel Stan ein netter, aber sehr schwacher Mann ist, terrorrisiert Vera Anna unentwegt herum. Ronnie wächst zu einem hübschen, intelligenten Jungen heran, der von Anna vergöttert wird und sie für ihr bisheriges Leid entschädigt. Niemand ahnt etwas von seinem eiskalten Charakter unter der strahlenden Fassade, auch nicht, als er Tante Vera über einen Rollschuh ins Frittierfett stolpern lässt und ihre schwere Armverbrennung wie einen Unfall aussehen lässt.

Im idyllischen Oxfordshire lebt die kleine Susan Ramsey, ein bildhübsches Mädchen, das eine besonders enge Beziehung zu ihrem liebevollen Vater hat. Auch als ihre Mutter nach einem Nervenzusammenbruch in eine Klinik muss, beweist sie Tapferkeit. Doch kurz nach der Genesung stirbt Susans Vater an einem Herzinfarkt und ihre Welt bricht zusammen. Aus Angst vor Einsamkeit heiratet ihre Mutter Andrew Bishop, der Susan über Jahre hinweg sexuell missbraucht. Um ihre labile Mutter zu schonen, verheimlicht Susan die Übergriffe und zieht sich immer mehr von ihrer Umwelt zurück.

Ronnie und Susan sind vierzehn, als sie sich auf der Schule begegnen. Beide sind Außenseiter, wunderschön und von den anderen argwöhnisch betrachtet, die sich schnell anfreunden. Endlich kann Susan ihr schreckliches Geheimnis jemandem anvertrauen. Ronnie begeht als Liebesbeweis ein furchtbares Verbrechen. Langsam erahnt Susan seinen dunklen Charakter. Und sie weiß auch, dass sie sich in tödliche Gefahr bringt, wenn sie sich von ihm löst …

Wie bereits in seinen beiden vorherigen Romane „Das Wunschspiel“ und „Der Schützling“ greift Patrick Redmond die Abgründe psychopathischer Seelen auf.

Doppelte Spannung

Zwei parallel verlaufende Handlungsstränge versprechen doppelte Spannung. Ronnie ist der unberechenbare Psychopath mit dem Engelsgesicht, der einerseits geniale Schulleistungen erbringt und andererseits vor nichts zurückschreckt, wenn es darum geht, sich zu rächen oder seine Mutter zu beschützen. Der arrangierte Unfall seiner Tante Vera ist nur der Auftakt und der Leser darf gespannt sein, welche Taten Ronnie im weiteren Verlauf noch begehen wird. Dabei stellt sich auch die Frage, ob er seinen dunklen Charakter dauerhaft geheimhalten kann oder ob jemand – und wenn ja, wer und wann – sein Wesen durchschaut.

Im anderen Handlungsstrang dreht sich die Spannung um die Frage, ob und wie sich Susan gegen ihren Stiefvater zu Wehr setzen kann, und wird gesteigert, als die beiden Stränge zusammenfallen und sich Ronnie und Susan an der Schule begegnen. Es ist eine Freundschaft zwischen zwei schönen Menschen, die dunkle Geheimnisse in sich tragen und sich danach sehnen, einen Seelenpartner zu finden, dem sie sich anvertrauen können. Susan fürchtet sich davor, dass sie tatsächlich verdorben ist, wie ihr Stiefvater ihr einredet, während Ronnie jemanden sucht, der seine Abgründe verstehen kann. Die zaghafte Liebe zwischen den beiden vermittelt ihnen zunächst Stärke, bis Susan allmählich ahnt, dass Ronnie ein Psychopath ist. Wieder scheint es keine Lösung für sie zu geben, zu groß ist die Angst vor seiner Rache und zu gering die Chance, dass ihr überhaupt jemand Glauben schenkt. Alles scheint möglich in Redmonds Roman, von diversen Morden und anderen Verbrechen bis hin zu Selbstmorden, und ein gutes Ende ist nicht garantiert.

Überwiegend gelungene Charaktere

Der ausgefeilteste Charakter ist eindeutig „Susie Star“, wie Susan Ramsey von ihrem liebevollen Vater genannt wird. Das bildschöne Mädchen, das immer wieder mit Elizabeth Taylor verglichen wird, ist zunächst ein liebenswertes Kind, das stark auf den immer lustigen Vater fixiert ist. Trotz ihrer märchenhaften Schönheit ist sie kein zaghaftes Püppchen, sondern setzt sich bereits im Alter von sieben Jahren selbstbewusst für ihre Freundin ein, indem sie die eifersüchtige Klassenintrigantin Alice in einen Kuhfladen schubst. Der Nervenzusammenbruch ihrer Mutter verursacht einen Schock, doch Susan bleibt tapfer und vertraut ihrem Vater, der ihr verspricht, dass die Mutter eines Tages gesund wiederkehrt.

Mr. Ramsey ist ein herzensguter Mensch, der zwar nicht geschickt mit Geld umgehen kann, aber überall beliebt und Susan in jeder Lage eine Stütze ist. Sein Tod trifft auch den Leser tief, ohne dass dabei in die Kitschkiste gegriffen werden müsste. Der folgende Missbrauch durch Susans Stiefvater macht aus dem Thriller phasenweise ein berührendes Psychodrama. Susans Zwiespalt, sich entweder gegen ihren Peiniger zu wehren oder zu riskieren, dass diese Wahrheit ihre Mutter endgültig den Verstand verlieren lässt, wird bewegend und realistisch geschildert, ebenso wie die Veränderung, die im früher so lebenslustigen Mädchen vorgeht. Die äußere Schönheit bleibt, doch Susan zieht sich immer weiter in sich zurück, wird aufsässig und meidet selbst ihre alte Freundin Charlotte. Einzig der Gedanke an ihren verstorbenen Vater, der immer ihre Stärke lobte, gibt ihr einen letzten, verzweifelten Halt, von dem man aber ahnt, dass auch er nicht ewig bestehen kann.

Ein weiterer interessanter Charakter ist Charles Pembroke, der Sohn von Mrs. Pembroke, bei der Anna als Gesellschafterin arbeitet. Eine Kriegsverletzung entstellt seine linke Gesichtshälfte und verhindert lange Zeit, dass er Vertrauen zu Anna fasst und ihr seine Liebe gesteht. Trotz ihrer ehrlichen Zuneigung sind es freundschaftliche Gefühle, die Anna in die Ehe einwilligen lassen. Der sensible Charles spürt früh, dass Annas ganze Liebe ihrem Sohn Ronnie gehört, der wiederum den Stiefvater als Feind betrachtet und bei jeder Gelegenheit subtile Spitzen fallen lässt. Auch wenn eindeutig Ronnie und Susan im Blickfeld des Lesers stehen, nimmt man auch Anteil an den Schicksalen der Nebenfiguren, an der zögerlichen Liebe zwischen Charles und Anna, an Annas bedingungsloser Liebe zu Ronnie und ihrem Bestreben, ihm alle materiellen Wünsche zu erfüllen, und am fragilen Geistesgzustand von Susans Mutter.

Kaum Schwachstellen

Es gibt insgesamt nur Kleinigkeiten an diesem Werk zu kritisieren. Gerade im Vergleich mit Susan fällt die Charakterisierung von Ronnie ein wenig ab. Er ist teilweise ein Klischee-Psychopath, wie man ihn schon aus vielen anderen Romanen kennt – nach außen hin intelligent, gutaussehend und höflich, innerlich eiskalt und abgestumpft. Auch die enge Mutter-Sohn-Bindung, die über das gesunde Maß hinausgeht, ist Teil vieler Psychothriller und, obwohl hier durch Annas schwere Vergangenheit gut begründet, wenig originell. Das andere Manko besteht darin, dass Charles Pembroke etwas zu leicht hinter Susans Geheimnis kommt. Obwohl er nur über spärliche Indizien verfügt, zieht er rasch seine Schlüsse, was zu unrealistisch gestaltet ist.

Als Fazit bleibt ein durch und durch spannender Thriller über einen Psychopathen und das berührende Schicksal eines jungen Mädchens vor dem Hintergrund der Fünfzigerjahre. Der Protagonist ist zwar etwas klischeehaft geraten, dafür aber überzeugen die anderen Charaktere umso mehr. „Der Musterknabe“ ist mindestens ebenso gelungen wie die beiden ersten Romane des Autors.

Der Autor Patrick Redmond wurde 1966 geboren. Bereits zu Schulzeiten wollte er Schriftsteller werden, doch auf Drängen seines Vaters schlug er eine juristische Laufbahn ein. Heute schreibt er hauptberuflich. Sein Debütroman „Das Wunschspiel“ stürmte auf Anhieb die Bestsellerlisten, danach folgte „Der Schützling“. Sein viertes Buch ist noch nicht auf Deutsch erschienen.

Taschenbuch: 512 Seiten
Originaltitel: Apple of my Eye
Verlag: Goldmann Verlag
Auflage: 13. November 2006
www.goldmann-verlag.de