Nesbø (Nesboe), Jo – Leopard

Mit dem „Schneemann“-Fall hat Jo Nesbø im Grunde genommen alles aus seinem Lieblingsermittler Harry Hole herausgeholt, was der verbitterte Mitvierziger in seiner Midlifecrisis bieten konnte: Ein genialer Fall, eine komplexe Ermittlungsreihe, ein skrupelloses Storyboard, faszinierende, manchmal sogar krankhaft-wahnsinnige Figuren und Wendungen, wie man sie selbst im hoch gelobten skandinavischen Thriller/Krimi-Sektor nur selten aufs Tablett gelegt bekommt. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an die Fortsetzung gewesen, die Nesbø ein wenig nach hinten verlegt hat, nun aber mit einem lauten Knall zur Diskussion bringt. „Leopard“ soll nun den Schneemann ersetzen, ihm zumindest ebenbürtig sein. Eine schwere Aufgabe, wie auch der Autor weiß. Doch der würde sich nicht an eine solche Herausforderung wagen, wüsste er nicht, dass seine Geschichten jedes Mal wieder das Potenzial haben, an solche Geniestreiche anzuknüpfen.

_Story:_

Harry Hole knabbert immer noch an den Depressionen, die ihm der letzte Fall und die Trennung von seiner Geliebten Rakel beschert hat. Seit sechs Monaten lebt er im Untergrund von Hongkong, hat sich hier dem Opium verschrieben und steht auch bei den Triaden mit größeren Schulden tief in der Kreide. Als die norwegische Ex-Kollegin Kaja Solness plötzlich in seiner neuen Umgebung auftaucht und ihn bittet, zurückzukehren und an der Aufklärung eines weiteren Serienmords teilzuhaben, ist dies für Hole eine Art Chance, die er sich nicht nehmen lassen sollte. Doch Harry lässt sich nur schwer überreden, weil er nicht mehr zulassen will, dass ihn ein Fall emotional derartig berührt. Die Aussicht, seinen im Sterben liegenden Vater ein letztes Mal am Krankenbett zu sehen, überzeugt ihn letzten Endes doch, den Flieger nach Oslo zu nehmen und Solness zu begleiten.

Zurück im Polizeidienst hat die Koryphäe des Morddezernats jedoch direkt Startschwierigkeiten. Ein Kollege vom Kriminalamt will ihn fertigmachen und duldet keine Nebenbuhler bei der Suche nach dem Mörder der Personen, die vor kurzem unabhängig voneinander eine Berghütte besucht und dort genächtigt haben. Erst nach einigen Tagen entsteht dieser Zusammenhang, den Hole mit sehr freizügigen und nicht immer konventionellen Mitteln verfolgt, und der ihm nicht nur den Widerstand seiner Vorgesetzten, sondern auch immer mehr den Unmut seiner Kollegen einbringt. Als er schließlich suspendiert zu werden droht und ihm gleichzeitig die Parallelen zum Schneemann-Fall zu Kopf steigen, ist Harry nahe dran, endlich die Brocken hinzuschmeißen. Doch die hinterhältige Art und Weise, sowie die brutalen Folgen der Mordserie lassen ihm keine Ruhe und fordern seinen Einsatz – und auch wenn seine Methoden inzwischen deutlich in Frage gestellt werden, das Gerangel mit einigen zwielichtigen, korrupten Gestalten beim Kriminalamt seinen Tribut fordert und er bei einem Einsatz in den Bergen nur knapp dem Tod entrinnt, weiß er im Inneren, dass nur er es ist, der Ergebnisse bringen kann. So düster diese auch sein mögen …

_Persönlicher Eindruck:_

Zweifelsohne stand Jo Nesbø nach dem beeindruckenden „Schneemann“ unter gehörigem Druck; das Buch wurde seinerzeit in allen erdenklichen Bestseller-Listen an der Spitze geführt, konnte sich dort zu Recht längerfristig halten und zeigte nicht nur einen Kriminalfall in seiner pikantesten Inszenierung, sondern auch Protagonisten, wie sie eindringlicher und intensiver kaum wirken könnten. An deren Front stand selbstredend des Autors langjähriger Wegbegleiter Harry Hole, seines Zeichens eigenbrödlerischer Hauptkommissar der Osloer Polizei, Draufgänger, Miesepeter, suizidgefährdeter, stets vom Alkohol verfolgter Trinker und in der Quintessenz schließlich ein Mensch, der stets am Limit lebt, dort aber gar nicht leben mag. Die extremere Variante von Indridasons Erlendur kehrt also nun zurück und liefert sich unfreiwillig ein weiteres Gefecht mit einem Serientäter. Doch genau das ist es letzten Endes nicht, was „Leopard“, den schon im Vorfeld reservierten Bestseller-Leader von Nesbø, eigentlich ausmacht!

Stattdessen wird der Eindruck erweckt, als wolle der Autor in erster Linie eine Geschichte um seinen Liebling herumstricken, nicht jedoch einen Mordfall bzw. eine Serie, die einer intensiven Aufklärung von Seiten der entsprechenden Ermittlungsbehörden bedarf. Natürlich ist der Fall spannend. Natürlich ist auch die Art und Weise, wie die Geschichten innerhalb der Story verstrickt sind und wie die Morde schlussendlich umgesetzt wurden, grandios erzählt und unglaublich verzwickt zu einem Puzzle kombiniert worden. Doch es ist dieses Mal wirklich der Charakter Hole, der das Charisma des Romans beschreibt. Seine düstere, undurchdringliche Seele, seine stete Unberechenbarkeit, der Wahnsinn, der seine Taten lenkt, dann aber auch wieder die Genialität, mit der er der Leidenschaft für seinen immer geliebten und nur unfreiwillig aufgegeben Job nachgeht – all das vereint sich in „Leopard“ noch fokussierter und spezifischer, so dass es den Mordfällen so manches Mal schwer fällt, einfach nur für sich zu sprechen und nicht immer wieder vom Rummel um den Störenfried Hole eingeholt zu werden.

Vielleicht mag diese Darstellung auch ein wenig überspitzt sein, doch zusammengefasst befasst sich Nesbø weitaus umfassender mit seinem Antihelden als dies in all seinen vorherigen Episoden der Fall gewesen ist. Dies mag mehrere Gründe haben, von denen in der Gesamtbetrachtung jedoch nur einer wirklich in Frage kommt: Es ist der Schwanengesang auf eine der besten, wenn auch nur sehr schwer greifbaren Romanfiguren, die mit „Leopard“ womöglich seinen Abgang zelebriert. Verständlich wäre es vor dem Hintergrund dessen, wie sich die Story entwickelt sicherlich, denn Hole ist noch destruktiver seinem eigenen Körper und Geist gegenüber als noch im schwer verdaulichen „Schneemann“ und bringt viele Beispiele dafür, warum es wohl besser wäre, den Hut zu nehmen. Beispiele, die auch dem Leser eine unbeschreibliche Hoffnung suggerieren, dass jetzt Schluss sei – ohne dass hierbei negative Assoziationen zur Story und deren Verlauf eröffnet werden sollen.

Letztere ist nämlich gewohntermaßen stark, packend, gemein, fies und Hole-typisch ungerecht. Nicht nur der Fall an sich wirft zahlreiche Fragen auf, auch die intriganten Machenschaften in den einzelnen Dezernaten bringt Unruhe in die Sache und heizt die Spannung nachhaltig an. An gewissen Punkten der Handlung weiß man absolut nicht mehr, wem man überhaupt noch trauen kann und welcher Charakter nun zu welcher Seite gehört. Alles ist so perfide inszeniert, dann wieder schnell auf den Punkt gebracht, um direkt im nächsten Moment wieder wie Dynamit zu explodieren und einen Scherbenhaufen aus tausenden Puzzlestücken zu hinterlassen – Nesbø-like, fantastisch, auf jeden Fall aber auch sehr kontrolliert und niemals hektisch.

Hektik wäre bei einer Distanz von beinahe 700 Seiten aber auch eine Komponente, die kaum erträglich wäre – und dabei sollte man berücksichtigen, dass es dem Autor nach dem furiosen Auftakt tatsächlich gelingt, das hohe Tempo bis kurz vor Schluss durchzustehen. Leider leidet in den Schlusssequenzen die Glaubwürdigkeit ein wenig an den sich überschlagenden Ereignissen. Was beim „Schneemann“ alles noch passte und homogen wirkte, scheint hier einen Schritt zu weit hergeholt – wenn auch nicht völlig weltfremd. Aber vielleicht hätte man die Story dann doch auf den europäischen Kontinent verlagern und sich den Exkurs nach Kongo sparen sollen. Doch das ist sicherlich alles nur eine Frage der Betrachtungsweise. Für meinen Geschmack ist die Lösung jedenfalls nur semi-elegant.

Dass „Leopard“ allerdings ein durchweg starker Thriller ist, steht außer Frage, ebenso wie die Tatsache, dass man mit Nesbøs Neuem nur dann wirklich was wird anfangen können wird, wenn man den Vorgänger genossen hat. Mit dieser Startvoraussetzung darf man sich jedoch wiederholt auf richtig starkes Krimi-Entertainment freuen, vielleicht sogar auf Holes letzten Auftritt. Wie auch immer: Im Vergleich mit der saisonalen Konkurrenz dürfte „Leopard“ definitiv in der Spitzengruppe liegen!

|Gebunden: 698 Seiten
Originaltitel: The King Maker
Übersetzt von Günther Frauenlob und Maike Dörries
ISBN-13: 978-3-550-08774-5|

_Jo Nesbø bei |Buchwurm.info|:_
[„Das fünfte Zeichen“ (Hörbuch) 2768
[„Die Fährte“ (Hörbuch) 2939
[„Der Erlöser“ (Hörbuch) 4847
[„Schneemann“ 5347