Frank Rainer Scheck / Erik Hauser (Hg.) – Berührungen der Nacht. Englische Geistergeschichten in der Tradition von M. R. James

24 Geschichten lassen die große Zeit der englischen Gespenstergeschichte aufleben. Sie stehen in der Tradition von M. R. James, der als Meister gilt und zum Vorbild einer eigenen Schule von Autoren wurde, die nach seinem Vorbild neue Storys schrieben. Die ungemein lesenswerte, sorgfältig edierte und hervorragend übersetzte Sammlung liefert ausführliche Hintergrundinformationen zur „James-Gang“ und zur zeitgenössischen Phantastik: Feinste Lektüre für schauerliche Nächte.

Inhalt

Frank Rainer Scheck: Dr. James und seine ‚Gang‘, S. 7-26

M. R. James
– Zwei Ärzte (Two Doctors, 1919), S. 31-41: Wie sehr ihn Dr. Abel verabscheut, erfährt sein Kollege Dr. Quinn auf schauerliche Weise in der letzten Nacht seines Lebens.
– Die Beschwörung (The Experiment, 1930), S. 42-49: Wer sich gewaltsam eines ungeliebten Familienmitglieds entledigt hat, sollte es keinesfalls wiedererwecken.

A. C. Benson
– Aus dem Meer (Out of the Sea, 1905), S. 53-68: Strandgut darf der Finder behalten, doch kann es sein, dass er mehr aufstöbert, als er verkraften kann.
– Das verschlossene Fenster (The Closed Window, 1903), S. 69-81: Das Fenster des alten Turms öffnet sich in eine fremde Welt, deren Bewohner auf neugierige Besucher förmlich lauern.

Arthur Gray (‚Ingulphus‘)
– Der Nekromant (The Necromancer, 1912), S. 85-93: Ein fanatischer Hexenjäger erfährt, dass es Schwarze Magie wirklich gibt.
– Einbildungen (Suggestions, 1925), S. 94-108: Ein geisterhafter Zwilling verfolgt seinen verstörten ‚Bruder‘ – bis er ihn eines Tages erwischt.

E. G. Swain
– Der Mann mit der Walze (The Man with the Roller, 1912), S. 112-123: Eine Fotografie wird zum Medium und erinnert an ein altes Verbrechen.
– Familie Richpin (Family Richpin, 1912), S. 124-142: Ein konfuser Geist bringt seinen tumben Nachfahren in peinliche Situationen.

W. C. Dickinson
– Die alte Abtei (The Eve of St. Botulph, 1953), S. 146-159: Die Frage, ob in dieser Klosterruine tatsächlich der Teufel umgeht, wird dem Historiker eindeutig beantwortet.
– Ein Werk des Bösen (The Work of Evil, 1963), S. 160-169: Vom Erbe eines Hexenmeisters sollte man unbedingt die Finger lassen.

Frederick Cowles
– Die seltsamen Geschehnisse in Upton Stonewold (The Strange Affair at Upton Stonewold, 1993), S. 174-192: Wird ein Grab sorgfältig versiegelt, geschah das nicht grundlos, wie man hier lernt, als man es trotzdem öffnet.
– Das Haus der Tänzerin (The House of the Dancer, 1938), S. 193-205: Die Liebe zu einer vor drei Jahrhunderten verschwundenen Hexe endet tragisch für alle Beteiligten.

R. H. Malden
– Die Grabplatte (The Priest’s Brass, 1943), S. 209-228: Manchmal können weder Riegel noch Schlösser sie halten; was der alte Küster damit meinte, enthüllt sich dem neugierigen Hobbyforscher bald allzu deutlich.
– Berührungen der Nacht (Before Sunset and Moonrise, 1943), S. 229-242: In dunkler Winternacht hat der Priester im einsamen Moor eine Begegnung, die seiner Gesundheit überaus abträglich ist.

A. N. L. Munby
– Die Alabasterhand (The Alabaster Hand, 1949), S. 246-256: Es gibt einen guten Grund, wieso der alte Chorstuhl stets unbesetzt blieb, wie der neue Priester feststellt, als er diese Tradition ignoriert.
– Nummer neunundsiebzig (Number Seventy-Nine, 1949), S. 257-263: Der untröstliche Merton versucht seine vor Wochen verstorbene Braut zurückzuholen, wobei er die Konsequenzen nicht sorgfältig genug durchdenkt.

Eleanor Scott
– Celui-là (Celui-Là, 1929), S. 269-290: Beim Erholungsurlaub am Meer stolpert der Gast über ein heidnisches Relikt, das ihm eine denkwürdig Begegnung mit gar nicht gastfreundlichen Strandbewohnern einträgt.
– Die zwölf Apostel (The Twelve Apostels, 1929), S. 291-319: Der verstorbene Alchimist hinterließ einen Schatz, der scharf und schleimig bewacht wird.

Basil A. Smith
– Der Schalottenstein (The Scallion Stone, 1977), S. 322-343: Das seltsame Denkmal erinnert leider nur nebulös an einen erbitterten Kampf mit dem Bösen, das nun wieder auflebt.
– Properts Vermächtnis (The Propert Bequest, 1981), S. 344-399: Der alte Gelehrte sicherte seine geliebte Bibliothek mit allen Mitteln, von denen manche nicht dieser Welt entstammen.

Margaret Irwin
– Das Buch (The Book, 1930), S. 401-418: Das Buch des Hexenmeisters beschert seinem Leser Reichtum und Anerkennung, wofür allerdings hässliche Gegenforderungen gestellt werden.
– Die Messe (The Earlier Service, 1935), S. 419-437: Die alte Kirche verwandelt sich in einen Ort des Schreckens, als Teufelsanbeter ihr Unwesen treiben.

L. T. C. Rolt
– Die Freuden der Musik (Music Hath Charme, 1948), S. 440-459: Böse Menschen kennen keine Lieder, lautet ein Sprichwort; auf Hexen und Dämonen trifft dies aber nicht zu.
– Das Wappenzimmer in Ashcombe (A Visitor in Ashcombe, 1948), S. 460-470: Der mutige Hausherr findet heraus, was in dem Zimmer umgeht, bevor es ihn ebenfalls findet.

Anhang:

M. R. James
Geschichten, die ich schreiben wollte, S. 472-475
Einige Bemerkungen über Gespenstergeschichten, S. 476-484
Seid gut zu Euren Gespenstern!, S. 485-489

L. T. C. Rolt: Die Geistergeschichte – ein Nachruf (The Passing of the Ghost Story, 1956), S. 490-501

Frank Rainer Scheck: Editorische Notiz, S. 502-506

Eine Empfehlung für die Neugierigen

Er war ein hochgelehrter und angesehener Historiker, privat ein geselliger und beliebter Mann – und ein Großmeister der englischen Geistergeschichte: In dieser dritten aber keinesfalls drittrangigen Eigenschaft hat Montague Rhodes James (1862-1936) diese Nische der Phantastik spielerisch und professionell zugleich zu seiner Domäne gemacht. Weil er einen langen Schatten auf das Genre wirft (was die hier zu besprechende Sammlung einschließt), lohnt es sich, vorab einige Charakteristika seiner unheimlichen Erzählungen anzusprechen.

James‘ Geister sind eine ganz eigene Brut. Möglicherweise gequälte Kreaturen, die sich nach Erlösung sehnen, stimmt sie dies den Lebenden gegenüber keineswegs freundlicher. Sie sind bis ins Mark bösartig, und wer ihnen begegnet, nimmt meist ein schlimmes Ende. Neugier oder Unkenntnis gelten nicht als Entschuldigungen, zumal die Geisterjäger gewarnt sind: Der typische James-‚Held‘ ist Historiker, Geistlicher oder Antiquar und kennt sich mit alten, dem Laien unleserlichen Manuskripten und mittelalterlicher Kunst bestens aus. Weil James‘ Geschichten in einer zumindest in dieser Hinsicht besseren Vergangenheit spielen, ist können sie dem frönen, denn Geldsorgen kennen diese etwas weltfremden Männer – Junggesellen selbstverständlich – nicht; sie haben es und damit die Zeit, ihrem Forscherdrang nachzugeben.

Was wie bereits erwähnt fatal ausgehen kann – für die Betroffenen im negativen, für die Leser im positiven Sinn. James war ein Agnostiker, der an Geister nicht unbedingt glaubte, sie aber trotzdem ernst nahm. Das Ergebnis sind Spukstorys, die ohne Wenn und Aber von übernatürlichen Einbrüchen in die geordnete diesseitige Welt erzählen. Sie sind intellektuell. präzise und liebevoll zugleich konstruiert und ausgeführt. Psychologische Tiefgründigkeit, die der Literaturkritik als Qualitätsmerkmal gilt, wird man bei James höchstens ansatzweise finden. Er beschreibt beinahe dokumentarisch, was angeblich geschehen ist.

Zu Füßen des Meisters aber ihm nicht untertan

Schon seine Zeitgenossen haben diese ‚nur‘ unterhaltsamen Geistergeschichten geliebt. James pflegte sie zunächst im Kreise von Freunden und Schülern vorzutragen. Von diesen fühlten sich nicht wenige selbst berufen, ähnliche Geister spuken zu lassen: Die „James-Gang“ entstand, und als dieser Jahrgang ausstarb, wuchs eine neue Generation heran, die sich den alten Traditionen verpflichtet fühlte.

Frank Rainer Schenk und Erik Hauser haben elf Mitglieder der „James-Gang“ ausgewählt, die mit jeweils zwei Geschichten dem verehrten Vorbild ihre Reverenz erweisen. M. R. James selbst ist natürlich ebenfalls mit zwei Storys vertreten. Sie wurden in Deutschland nie zuvor veröffentlicht, wie überhaupt die beiden Herausgeber großen Wert auf Geschichten legten, die hierzulande unbekannt waren.

Wer die Frage stellt, wieso sich jemand im 21. Jahrhundert für Geister interessieren sollte, die in uralten Kirchen und anderen staubigen Gemäuern ihr tödliches aber vergleichsweise unblutiges Unwesen treiben, wird die Antwort rasch finden: James und seine „Gang“ verstanden ihren Job! Furcht ist ein Gefühl, das sich zwar erzwingen lässt, aber wesentlich intensiver wirkt, wenn es heraufbeschworen wird. Es muss sich allmählich manifestieren, quasi zwischen den Zeilen aufwallen, womit es der zunehmend nervöse Leser vor dem ahnungslosen Protagonisten zu spüren beginnt, bevor die Falle schließlich zuschnappt.

No Sex please!

Nicht alle James-Eleven waren ‚linientreu‘. A. C. Benson gehört zu den Autoren, die nicht widerstehen können, den (ansonsten wunderschön gruselig) entfesselten Schrecken als Strafe für dreisten Übermut zu begründen. Das Opfer verschuldet sein Schicksal buchstäblich selbst; eine Sicht, die noch der frühen Phantastik des 19. Jahrhunderts verhaftet ist und von James mit Kopfschütteln kommentiert wird: „In [einem Buch] wimmelt es nur so von Zisterziensern., die in ihren modrigen Gewändern durch die Gänge gleiten, man weiß nicht recht wozu.“ (S. 486)

Humor ist dagegen ausdrücklich gestattet. Viele James-Erzählungen gewinnen durch ihren täuschend leichten Plauderton, in den sich der Schrecken wie oben erwähnt einschleicht. Das Kauzige der Figuren wird nicht geleugnet, der Witz ist trocken und manchmal britisch schwarz. Die James-Gang folgt dem Meister in diesem Punkt souverän. Einem Kirchenhistoriker wird z. B. ein Wasserspeier in Ungeheuer-Gestalt so angepriesen: „Da oben kannst du ein prächtiges Beispiel bewundern – einen Teufel, der ein Kind in seinem Maul zermalmt.“ (S. 431)

Die jüngeren Mitglieder der James-Gang geben dem Psychologischen mehr Raum. Neben Schuld und Sühne tritt dabei der Sex. James bezeichnete ihn noch als „Kardinalfehler“: „Sex ist lästig genug in unseren Romanen; in einer Gespenstergeschichte oder als Rückgrat einer solchen stehe ich ihm unduldsam gegenüber.“ (S. 482). Frederick Cowles bestätigt dies mit „Das Haus der Tänzerin“ überzeugend aber sicherlich nicht absichtlich oder – was schlimmer ist – wenigstens unterhaltsam. Autoren wie Margaret Irwin machen dagegen deutlich, dass sich altes Grauen und moderne Seelenschau durchaus effektvoll verbinden lassen; der Purist wird freilich mit Recht monieren, dass gerade Irwins Geschichten nicht zu den Höhepunkten dieser Sammlung gehören. Der ‚reine‘ Grusel kommt ohne Türen in die Kellerräume des Hirns aus; die einzigen Geheimnisse, die er benötigt, nisten in Geheimtüren und hinter Falltüren.

Rundum-Service für den Gruselfreund

„Berührungen der Nacht“ ist als Buch eine Ausnahmeerscheinung auf dem deutschen Buchmarkt. Es verstößt im Grunde gegen alle Kriterien, die heute angeblich auflagenstarken und gern gekauften Horror ausmachen: Präsentiert werden Kurzgeschichten von Autoren, die niemand kennt und die sämtlich gestorben & begraben sind; dies zum Teil schon vor sehr langer Zeit. Die Figuren sind zwar gern Wissenschaftler und damit theoretisch hauptrollenkompatibel, ginge ihnen nicht die Dynamik des Dan Brownschen Forscherhelden vollständig ab. Wenn sie ihr Ende ereilt, schwelgen die Verfasser nie in detailfreudigen, d. h. blutigen Schilderungen. Die Geister sind darüber hinaus böse, keineswegs attraktiv; sie eignen sich ganz gewiss nicht als Projektionsfläche für pubertäre Mädchenträume von glutvoll-brünstigen Vampiren oder Werwölfen.

Schlimmer noch: „Berührungen der Nacht“ ist ein Buchprojekt mit sekundärliterarischem Anspruch. Die Herausgeber haben viel gelungene Hintergrundarbeit in ihr Werk gesteckt. Eingerahmt werden die 24 Storys durch die Darstellung der „James-Gang“ und ihrer literaturhistorischen Bedeutung sowie durch Anmerkungen von M. R. James selbst, der sich über das Genre der Geistergeschichte und das eigene Werk erhellende Gedanken gemacht hat. Für einen launigen Ausklang sorgt James-Eleve L. T. C. Rolt mit seinem (scheinheiligen) Abgesang auf die klassische „ghost story“, die sehr klar das Bild der englischen Geistergeschichte in der Tradition von M. R. James abrundet.

Die Geschichten selbst werden eingeleitet von ausführlich recherchierten biografischen und bibliografischen Informationen zu den jeweiligen Autoren. Mit der ebenfalls beispielhaften „editorischen Notiz“, die über die Veröffentlichungsgeschichten der abgedruckten Erzählungen in Kenntnis setzt, komplettiert sich ein Band, den der Freund der klassischen Geisterstory in Griffnähe wissen möchte, wenn die (Lese-) Nächte länger werden!

Paperback: 506 Seiten
Originalzusammenstellung
Übersetzung: Erik Hauser (10), Frank Rainer Scheck (8), Manfred Allié, Andreas Diesel, Manfred Görgens (je 2)
http://www.festa-verlag.de

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