Poe – Grube und Pendel und andere Erzählungen. Mit Illustrationen von Harry Clarke

Klassische Poe-Auswahl, mit passenden Illustrationen

Dieser Auswahlband mit elf Erzählungen von Edgar Allan Poe versammelt die bekanntesten Geschichten wie etwa „Der Untergang des Hauses Usher“, „Ligeia“ oder „Der Doppelmord in der Rue Morgue“, bringt aber auch weniger bekannte wie „Die Brille“ und „Die längliche Kiste“. Alle Geschichten entstammen der Ausgabe der Dieterichschen Verlagsbuchhandlung von 1954 und wirken sprachlich dementsprechend veraltet.

Der Autor

Edgar Allan Poe (1809-49) wurde mit zwei Jahren zur Vollwaise und wuchs bei einem reichen Kaufmann namens John Allan in Richmond, der Hauptstadt von Virginia, auf. Von 1815 bis 1820 erhielt Edgar eine erstklassige Schulausbildung in England. Er trennte sich von seinem Ziehvater, um Dichter zu werden, veröffentlichte von 1827 bis 1831 insgesamt drei Gedichtbände, die finanzielle Misserfolge waren. Von der Offiziersakademie in West Point wurde er ca. 1828 verwiesen. Danach konnte er sich als Herausgeber mehrerer Herren- und Gesellschaftsmagazine, in denen er eine Plattform für seine Erzählungen und Essays fand, seinen Lebensunterhalt sichern.

1845/46 war das Doppeljahr seines größten literarischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgs, dem leider bald ein ungewöhnlich starker Absturz folgte, nachdem seine Frau Virginia (1822-1847) an der Schwindsucht gestorben war. Er verfiel dem Alkohol, eventuell sogar Drogen, und wurde – nach einem allzu kurzen Liebeszwischenspiel – am 2. Oktober 1849 bewusstlos in Baltimore aufgefunden und starb am 7. Oktober im Washington College Hospital.

Poe gilt als der Erfinder verschiedener literarischer Genres und Formen: Detektivgeschichte, psychologische Horrorstory, Science Fiction, Short Story. Neben H. P. Lovecraft gilt er als der wichtigste Autor der Gruselliteratur Nordamerikas. Er beeinflusste zahlreiche Autoren, mit seinen Gedichten und seiner Literaturtheorie insbesondere die französischen Symbolisten. Seine Literaturtheorie nahm den New Criticism vorweg.

Er stellt meines Erachtens eine Brücke zwischen dem 18. Jahrhundert und den englischen Romantikern (sowie E.T.A. Hoffmann) und einer neuen Rolle von Prosa und Lyrik dar, wobei besonders seine Theorie der Short Story („unity of effect“) immensen Einfluss auf Autoren in Amerika, Großbritannien und Frankreich hatte. Ohne ihn sind Autoren wie Hawthorne, Twain, H.P. Lovecraft, H.G. Wells und Jules Verne, ja sogar Stephen King und Co. schwer vorstellbar. Insofern hat er den Kurs der Literaturentwicklung des Abendlands maßgeblich verändert. In nur 17 Jahren des Publizierens.

Die Erzählungen

1) Ligeia (1832)

Die Lady Ligeia ist nicht nur unglaublich schön, sondern auch sehr klug, was die Philosophie angeht. Zu ihren wichtigsten Maximen, die sie noch auf dem Sterbebett flüstert, gehören Worte von John Granville: „Und darin liegt der Wille, der nicht stirbt.“

Nach ihrem Tode zieht der Erzähler gramgebeugt vom Rhein nach England in eine frühere Abtei, wo das Bett seiner neuen Braut Lady Rowena inmitten eines höchst bizarr eingerichteten Raumes steht. Bildet er es sich im Opiumrausch ein, oder fallen aus dem Nichts Tropfen in den Wein, der er Rowena reicht? Schon wenige Tage später ist sie tot. Doch was sich dann mehrere Stunden später von ihrem Totenbett erhebt und sich den Schleier vom Gesicht reißt, ist keineswegs die blonde Lady Rowena, sondern schwarzhaarige Schönheit. Und jeder Zweifel verfliegt, als sie die Augen öffnet…

Mein Eindruck

Die Erzählung enthält das berühmte Gedicht „Der Eroberer Wurm / The Conqueror Worm“, das mich schon immer an William Blakes Gedicht „The sick rose“ erinnert hat. Es ist Ligeia als Autorin zugeschrieben. Sie gewährt dem Wurm keinen Triumph, sondern was triumphiert, ist einzig und allein Ligeias Wille – über den Tod hinaus. Poe betrachtete diese Erzählung als seine gelungenste. Wie „Morella“, „Eleonora“ und „Berenice“ (1835) gehört sie zu seinen Femme-fatale-Erzählungen.

2) Der Untergang des Hauses Usher (1839/45)

In der Umgebung von Baltimore 1845: Philipp Belfield reist, durch einen Brief seines Jugendfreundes Roderick alarmiert, auf den abgelegenen, inmitten von Sumpfland errichteten Stammsitz der Familie Usher. Ein drohendes Unheil scheint über dem alten Gemäuer zu schweben, denn Roderick Usher, der letzte Spross der alten Familie, ist von einer seltsamen Krankheit gezeichnet …

Roderick Usher, der Letzte seines Geschlechts, hat seine Sinne unglaublich verfeinert und spielt gar seltsame Musik, findet sein Freund und Gast, der uns berichtet. Usher leidet an einer Gemütskrankheit, die nicht von schlechten Eltern ist. Tatsächlich glaubt er sogar, seine verstorbene, geliebte Schwester Magdalena sei noch am Leben und suche ihn jede Nacht heim.

Offenbar ist ihm nicht mehr zu helfen, und unser Gewährsmann sucht schleunigst das Weite, als sich etwas wirklich Grauenerregendes ereignet. Denn das ‚Haus‘ Usher meint sowohl das Geschlecht der Ushers als auch ihren Stammsitz als Gebäude. Geht das eine unter, so auch das andere.

Mein Eindruck

Die Gothic-Autoren hatten eine Vorliebe für alte Geschlechter und uralte Gebäude. Das fing schon mit dem ersten Roman an: „Die Burg von Otranto“ von Hugh Walpole aus dem Jahr 1764 trägt das Motiv sogar in seinem Titel. Doch Edgar Allan Poe war der erste Schriftsteller, der diese Vorliebe in einen direkten kausalen Zusammenhang mit den Menschen setzte. Das ‚Haus‘ Usher meint sowohl das Geschlecht der Ushers als auch ihren Stammsitz als Gebäude. Geht das eine unter, so auch das andere.

Als Roderick und Madeline sterben, beginnt auch das Gebäude zu wanken, denn wahrscheinlich bricht der See nun in die Katakomben ein. Philip sucht schleunigst das Weite, als er sieht, dass sich der Riss, der sich, wie er beim Kommen sah, durch die Fassade zieht, rasend schnell verbreitet. Mit knapper Not entkommt er über den Dammweg, als das ganze verfaulte ‚Haus’ in die Tiefen des schwarzen Sees versinkt.

Der Fluch

Die Frage ist jedoch, warum die beiden letzten Angehörigen des Geschlechtes von Usher sterben müssen. Dies ist die zentrale Frage, die jeder Leser oder Hörer für sich beantworten muss. Beide fühlen die Last der vielen Generationen, die sie jeden Tag durch einen einfachen Besuch der Gruft direkt vor sich sehen können. Madeline erzählt, dass Bruder und Schwester von Kindesbeinen mit dem Tod vertraut gewesen seien. Der Tod hatte nichts Schreckliches für sie, daran kann es also nicht gelegen haben.

Es kann auch nicht der Fluch sein, den sie sich durch Generationen der Inzucht vielleicht zugezogen haben. Denn sie selbst haben den Inzest nie begangen, wenn man ihnen glauben darf, obwohl beide einander wertschätzen. Ihr Erbe ist auf Seiten Madelines eine zunehmende Hinfälligkeit – ein häufiges Motiv bei Poe – sowie wiederkehrender Starrkrampf und seitens Rodericks eine übersteigerte Verfeinerung aller Sinne. Diese „Familienkrankheit“ führte dazu, dass er sich praktisch lebendig begraben hat, um nicht mehr leiden zu müssen. Lebensfreude bedeutet für ihn Todesqualen. In einem sehr realen Sinn ist das Haus also ein gigantischer Sarg.

Deshalb ist es nur eine Konsequenz aus seinem Wahn, diese Disposition in die Tat umzusetzen: Er bestattet Madeline nach einem ihrer Katalepsieanfälle in ihrem für sie vorbereiteten Sarg. Doch Roderick kann mit seinem superfeinen Gehör genau ihren äußerst langsam gehenden Atem hören. Dennoch schließt er den Sargdeckel und wartet, bis seine Schwester wieder erwacht…

Leitmotive

Zur Erbsünde des Inzests kommt also das Verbrechen der fahrlässigen Tötung hinzu. „Diese Familie muss aufhören zu existieren“, bekräftigt er immer wieder. Er ähnelt dem Ritter Everett in dem Roman, den Philipp vorliest. Der Ritter muss einen Drachen vor einem goldenen Palast erschlagen, wohl um eine Jungfrau zu retten. Der Drache, das sind die Generationen von Ahnen, und der goldene Palast ist die Erlösung durch den Tod – oder die Unschuld, die mit der Buße einhergeht. Wer die Jungfrau ist, dürfte klar sein: Madeline. Nur dass diese, als sie an Rodericks Türschwelle erscheint, wie eine Furie erscheint, die mehr Ähnlichkeit mit einem Drachen hat. Aber das sind nur Äußerlichkeiten. Als die beiden Geschwister aufeinandertreffen, bedeutet das den Tod für beide.

Das Motiv des Scheintodes und des Lebendig-begraben-werdens kommt unzählige Male bei Poe vor. Das gilt auch für das Motiv der Rückkehr aus dem Reich der Toten. Aber selten wurden beide Motive so stilistisch glänzend und dramaturgisch wirkungsvoll miteinander verbunden wie inn dieser klassischen Erzählung. Es ist auch ein Plädoyer für die Befreiung von der Last der Generationen, zumal von inzestuösen Generationen. Darin deckt sich die Aussage der Story mit der Ideologie Amerikas: Befreiung von den Altlasten Europas mit seinen Monarchien und dekadenten Herrscherhäusern (Poe lebte selbst als Junge an einer englischen Privatschule!) und Aufbruch in eine neue Welt, wo ein neues Eden aufgebaut werden kann. Deshalb muss Philip, der anfangs frohgemute Außenstehende, unbedingt entkommen statt in den Untergang mitgerissen zu werden.

Das Gedicht „Das Geisterschloss“

In dieser Textfassung ist das sechsstrophige Gedicht „Das Geisterschloss“ (im Original „The Haunted Palace“) enthalten. Es bildet innerhalb der Erzählung eine Erweiterung der Bedeutungsebenen. Der Palast steht im Land des Königs „Gedanke“ und ist zunächst wunderschön. Doch in Gestalt der Sorge erobert „wildes Volk“ den Herrschersitz und alle Schönheit und Pracht schwindet, um bizarren Anblicken Platz zu machen. Aus einem freundlichen Lächeln wird so wahnhaftes Lachen.

3) William Wilson

Der in betagtem Alter befindliche Erzähler, der sich „William Wilson“ nennt, berichtet von seiner Jugend, seinem dritten „Lustrum“ (jeweils fünf Jahre), das er in einem altertümlichen Schulinternat in England verbrachte. Dort schwingt er sich mit seiner Herrschsucht und dem Einfallsreichtum, die Merkmale seiner Sippe seien, zur Autorität unter den Schülern wie unter dem Personal empor. Alle tanzen nach seiner Pfeife – bis auf einen.

Diese eine Schüler trägt – sicher nur durch Zufall – den gleichen plebejischen Namen wie William selbst und ist, wie er herausfindet, am gleichen Tag geboren. Der andere Wilson gibt dem Erzähler-Wilson stets Kontra, doch auf eine durchdachte Weise, dass der Erzähler-Wilson nie direkt verwundet sein kann. Dieser revanchiert sich, indem er die Eigenart des anderen, stets nur im Flüsterton zu sprechen, zum Anlass für mehrere Attacken nimmt, um ihn der Lächerlichkeit preiszugeben. Der andere erkennt jedoch, dass der Standesdünkel des Erzähler-Wilson ebenfalls als Zielscheibe dienen kann. In wechselseitigem Wettstreit entwickelt sich eine merkwürdige Art von Freundschaft.

In seiner letzten Nacht im Internat will William seinem Rivalen einen Streich spielen, doch was er in dessen Bett vorfindet, sieht ihm selbst ähnlich, dass er in Panik davonläuft. Später erfährt er, dass sich der andere Wilson ebenfalls aus dem Internat davongemacht hat. Die erste Anlaufstation ist das College von Eton nahe Windsor. Zwei Jahre reichen William, um sich den Ruf eines Wüstlings und Säufers zu erwerben, doch in seiner letzten Nacht erscheint ein ungebetener Besucher, der ihm nur einen Namen zuflüstert: „William Wilson“. Er verschwindet. Das ernüchtert William und er beschließt, seine zelte in Eton abzubrechen, um sie in Oxford aufzuschlagen.

Oxford hat bereits einen üblen Ruf, und William braucht nicht lange, um es hier zu einem weiteren üblen Ruf zu bringen. Er nutzt die Zeit von weiteren zwei Jahren, um sich als Falschspieler einen gewissen Reichtum zu erwerben. Doch als er auch den jungen Lord Glendinning bis aufs Hemd ausnehmen will, erscheint erneut jener verflixte Wilson, um auf die Kartenverstecke in Williams Jacke und Hemdsärmel hinzuweisen. Dann verschwindet er wieder. Die Mitspieler entdecken Williams gezinkte Karten und zwingen ihn, aus Oxford zu verschwinden. Paris, Rom, Berlin, Ägypten – wo auch immer William sein Glück als Betrüger versucht, taucht auch zuverlässig Wilson auf, als wäre er sein Schatten.

Als er auch noch in Rom auf der Party eines neapolitanischen Barons, der eine entzückende Tochter mitgebracht hat, auftaucht, platzt William der Kragen. Er schleift Wilson in ein verschließbares Nebenzimmer und ersticht ihn mit seinem Degen im Zweikampf. Doch nun verändert sich die Wirklichkeit und ein Spiegel erscheint, in dem sich William selbst erblickt…

Mein Eindruck

Zunächst könnte man meinen, der andere Wilson sei eine Art Schutzengel. Doch diese Hypothese hält nicht lange stand. Denn William kommt immer wieder davon statt gestoppt zu werden. Auch hilft der Schutzengel keineswegs anderen, sondern gebietet lediglich William Einhalt. Der andere ist viel zu sehr ein Spiegelbild Williams, um ein Engel zu sein, allerdings mit positiven Vorzeichen: Er ist das personifizierte schlechte Gewissen der besseren Hälfte in Williams Psyche. Wo William Luzifer spielt, stellt Wilson seine unterdrückte gute Seite dar. Mehr erfährt der Leser nicht.

4) Der Mann in der Menge (The Man of the Crowd, 1840/45)

Der Erzähler sitzt eines Tages in einem Café in London und teilt die Passanten in Klassen ein. Er ist offenbar ein genauer Beobachter. Da bemerkt er einen ungewöhnlichen, alten Mann, weil er aussieht wie der „Erzfeind“, der Teufel, persönlich. Er folgt ihm den ganzen Tag hindurch, wie der sich durch die Menge schiebt und nirgendwo eine Rast einlegt, um sich zu stärken oder zu ruhen. Nein, der Mann, der Dolch und Diamant unter seinem Mantel stecken hat, sucht immerzu nur die Menge. Und als sich ihm sein Verfolger in den Weg stellt, schaut er nicht auf, sondern umgeht ihn einfach.

Mein Eindruck

Die ungewöhnliche, völlig handlungslose Story ist die detailliert beobachtende Studie eines neuen psychologischen Typus, wie er nur in der Siedlungsform Stadt und ihrer anonymen Gesellschaft vorkommt: der Mensch, der nur zufrieden ist, wenn er in einer Menschenansammlung anonymen Kontakt findet. Dass dieser Typ keine menschlichen Bedürfnisse an den Tag legt, macht ihn zu unheimlich. Poe schreibt ihm Schuld zu, aber woher diese rührt, bleibt unklar.

5) Der Doppelmord in der Rue Morgue (The Murders in the Rue Morgue, 1841/45)

In Paris hat der Erzähler die Bekanntschaft des Monsieur C. Auguste Dupin gemacht. Dieser hält sich mit den Zinsen aus dem kümmerlichen Rest des väterlichen Erbes, das vor den Gläubigern bewahrt werden konnte, über Wasser. Wie der Erzähler liebt er Bücher und wird eingeladen, mit dem Erzähler ein kleines Häuschen zu bewohnen, das dieser gekauft hat. Zusammen frönen die beiden Singles ihrer Vorliebe zur Literatur.

Bemerkenswert ist Dupins Vorliebe für die Nacht und deren Vorgänge. Darüber hinaus verblüfft er den Erzähler immer wieder durch bizarre Einfälle und Ansichten. Bei den nächtlichen Spaziergänge stellt Dupin regelmäßig seine scharfe Beobachtungsgabe unter Beweis, aber auch Schlussfolgerungen, zu denen der Erzähler seiner Lebtag nicht imstande wäre, wie er sagt: induktives und deduktives Denken. Er selbst seine Gabe sowohl kreativ als auch zerstörerisch.

Man nehme nur einmal diesen seltsamen Doppelmord in der Rue Morgue, über den die Zeitungen der ganzen Stadt berichten. Madame L’Espanaye und ihre Tochter wurden auf bestialische Weise umgebracht. Nachdem offenbar die Tochter erwürgt worden war, wurde ihr Körper kopfüber in den Kamin gesteckt, und zwar derart fest, dass vier Männer nötig waren, um sie herauszuholen. Die Leiche ihrer bedauerlichen Mutter fand man im Hof unter dem Wohnungsfenster, das immerhin in den oberen Stockwerken liegt. Offenbar wurde sie daraus hinausgeworfen – nachdem ihr der Unhold die Kehle aufgeschlitzt und dabei fast ihren Kopf vom Rumpf getrennt hatte….

Doch obwohl die Damen am Tag vor dieser Mordnacht 4000 Franken in Gold ausgehändigt bekommen hatten, handelt es sich keineswegs um einen Raubmord: Das Geld ist noch vollständig in der verwüsteten Wohnung vorhanden. Die Tat wirkt ebenso rätselhaft wie das Motiv. Nicht weniger als zwölf Zeugen berichten in der Zeitung über ihre Beobachtungen. Die Nachbarn berichten, zwei verschiedene Stimmen in der Nacht gehört zu haben: eine barsche, raue, die offenbar Französisch sprach, und eine schrille, die irgendeinem Ausländer gehört haben muss. Über dessen Nationalität gehen die Ansichten weit auseinander.

Dupin sieht sich erst dann zum Handeln veranlasst, als der Kassenbote Le Bon, der den Damen das Geld von seiner Bank gebracht hatte, als einziger Verdächtiger verhaftet wird. Er kennt den braven Mann und will ihn vor dem Henker bewahren. Da Dupin den Polizeipräfekten kennt, bekommt er die Erlaubnis, den Tatort zu besichtigen. Der Erzähler begleitet ihn und staunt nicht schlecht über das seltsame Betragen, das Dupin dort an den Tag legt.

Der Detektiv, der zuvor seinen Vorgänger Vidocq (ca. 1830) ordentlich niedergemacht hat, nimmt die gesamte Nachbarschaft in Augenschein und natürlich die Rue Morgue – die Straße des Leichenschauhauses – vor dem Tatort. Dann schaut er sich in der mit Blutspritzern verschmierten und verwüsteten Wohnung um. In der Tat scheint es sich um ein Locked Room Mystery zu handeln: Alle Fluchtwege sind entweder versperrt oder nicht passierbar. Wie konnten der oder die Täter entkommen, als die Nachbarn anrückten?

Am nächsten Abend legt Dupin eine Pistole auf seinen Tisch und gibt auch seinem Freund eine geladene Waffe. Er habe den Fall gelöst und erwarte einen Besucher. Ob der auch der Mörder sei, werde sich noch herausstellen. Der Erzähler wundert sich nicht wenig. Aber wie heißt es doch bei „Hamlet“? „Bereit ist alles.“

Mein Eindruck

Wie der Kenner der Geschichte weiß, ist die Lösung des Rätsels höchst ungewöhnlich. Aber was am Ende übrig bleibt, wenn man zuvor alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen hat, muss, so unmöglich es auch scheint, die Wahrheit sein. Das sagt später auch Sherlock Holmes, die berühmteste Schöpfung Arthur Conan Doyles. Nur dass eben Poe all dies schon fünfzig Jahre vorher als These aufgestellt hat, wenn auch nicht exakt in dieser Formulierung und mit der penetranten Wiederholung.

Gemeinsamkeiten

Ein Vergleich Sherlocks mit Dupin lohnt sich. Es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Beide sind Originale in dem Sinne, dass sie sich völlig anders verhalten – und vor allem denken! – als der Normalbürger, der unser jeweiliger Gewährsmann ist (bei Holmes bekanntlich Dr. John Watson, bei Poe ein Unbekannter).

Beide sondern sich von ihrer Umgebung ab, haben sich eigentümliche Gewohnheiten zugelegt, so etwa die nächtlichen Spaziergänge Dupins oder das Geigenspiel und Koksen Sherlocks. Dennoch sind die beiden Sonderlinge keine Menschenfeinde, sondern setzen sich sehr gerne für unschuldige Opfer ein, zumal dann, wenn ihnen diese Personen selbst bekannt sind (bei Dupin ist es der Kassenbote Le Bon). Dies scheint eine wichtige Voraussetzung für einen guten (literarischen) Detektiv zu sein.

In Absonderung und Einsatz für den Nächsten drückt sich die von Dupins erwähnte Ambivalenz der Beobachtungsgabe aus: Sie ist Segen und Fluch zugleich. In Wahrnehmung und Deduktion ist sie eine kreative Fähigkeit, in der scharfen Beurteilung vieler Details, die die Mitmenschen gerne verborgen hätten, offenbart sie jedoch eine unangenehme Seite: Der Detektiv kommt die mit den Verbrechen auch die hässliche Seite der Menschheit zu sehen und muss sich wohl oder übel ein dickes Fell zulegen, um nicht zum moralischen und emotionalen Krüppel zu verkommen.

Dass er dieser Krüppel nicht ist, dessen kann er sich und seiner Umgebung stets aufs Neue versichern, wenn er sich für die Aufklärung eines Verbrechens einsetzt und unschuldige Opfer vor weiterem Übel bewahrt. Auf diese Weise sieht sich der Detektiv stets von Hässlichkeit und Unmoral angegriffen, die ausgleichende Erlösung muss von den Lebenden kommen. Ein Detektiv ohne Anerkennung scheint irgendwie nicht in Ordnung zu sein, zumal nicht im Oberstübchen.

Unterschiede

Doch es gibt auch jede Menge Unterschiede zwischen Holmes und Dupin. Letzterer versteht sich ausgezeichnet auf das Auswerten von Zeitungsberichten, wie „Der Fall der Marie Roget“, eine andere Erzählung, sowie „Rue Morgue“ zeigen. Die meiste Zeit sitzt er gemütlich in seinem Fauteuil und sinniert vor sich hin, den Fall auf diese Weise lösend. Ausnahmsweise begibt er sich an den Tatort und besucht die Redaktionsräume einer bestimmten Zeitung.

Sherlock Holmes ist da von einem anderen Kaliber. Obwohl er aus dem gesetzten Landadel stammt, ist er agil und dynamisch wie ein Bürger der Mittelschicht oder gar wie ein Arbeiter um 1890. Am liebsten hat er seinen Widersacher direkt vor der Nase, um ihn dann im Triumph zur Strecke zu bringen. Und im Gegensatz zu Dupin hat Holmes einen Erzfeind, eben jenen verruchten Professor Moriarty, der in „Das Tal der Furcht“ seinen langen Arm nach ihm ausstreckt und ihn letzten Endes sogar erwischt. Diese berühmten Geschichten gipfeln stets in einem Finale und prägen mit ihrem Aufbau bis heute jeden Kriminalfilm.

„Rue Morgue“ hat seinen Höhepunkt zwar ebenfalls in einer Konfrontation (einem „Showdown“-Vorläufer), doch dies führt nach einem kleinen Handgemenge wieder einmal zu einem jener elend langen Monologe, die Poe – oder ist es Dupin? – zu lieben scheint. Wie auch immer, der Fall findet endlich seines Rätsels Lösung. Danach folgt ein kurzer Epilog. Und hier kann es sich Dupin nicht verkneifen, die Pariser Polizei als minderbemittelte Trottel hinzustellen. Holmes hingegen nimmt die Vertreter des Scotland Yard bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit auf seine Exkursionen. Insofern zeigt sich der Poe’sche Detektiv als weitaus kritischer eingestellt als sein britischer Nachfolger bei Doyle.

6) Hinab in den Maelström

Über den norwegischen Lofoteninseln erhebt sich an einem Fjord der Berg Helseggen, vom aus man die ganze Küste überblickt. Hierhin führt unseren Erzähler ein einheimischer Guide, der früher mal als Fischer zur See fuhr. Ja, früher mal! Bis zu jenem verhängnisvollen Tag, klagt der weißhaarige Bursche. Er weist auf die zwei Insel Moskoe und Vurrgh, zwischen denen sich zweimal am Tag, also bei Ebbe und Flut, ein abgründiger Mahlstrom auftut, der jedes Boot verschlingt.

Damals begab es sich, so erzählt er, dass er und seine Verwandten mit dem Boot hinausfuhren, um an dieser riskanten Stelle einen besseren Fang als die anderen Boote einzubringen. Alles war bestens kalkuliert, doch ein wütender Sturm, der unvermittelt aufkam, machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Statt zum Stillwasser zwischen Ebbe und Flut wieder in Sicherheit zu sein, gerieten sie mitten sie hinein in die Zeit, da sich der Mahlstrom öffnete.

Schon bald ging der Mast über Bord, so dass sie hilflos der Naturgewalt ausgeliefert waren, vor der es kein Entkommen gab. Wahnsinn und Panik ergreifen die Seelen der Männer, als sie schließlich sahen, was am Grund des Schlundes auf sie wartet: spitz, unerbittliche Felsen, auf denen die Masten und Rümpfe zerschellter und zermahlener Schiffe liegen.

Aus irgendeinem Grund des Gemüts bewahrt der Erzähler jedoch die Nerven, denn er macht eine sensationelle Entdeckung, was die Bewegung der Objekte betrifft, die sich im Strudel dem Grund zubewegen: Die großen, zylinderförmigen Objekte bewegen sich langsamer nach unten als die kleinen, runden. Deshalb klammert er sich so lange wie möglich an ein Fass, wohingegen sein Bruder sich in die Fluten stürzt – und eher den Grund erreicht.

Kurz vorm Aufschlag verebbt der Strudel jedoch wieder, jetzt ist wieder Stillwasser. Unser wackerer Erzähler erreicht schwimmend ein anderes Fischerboot, das ihn an Bord nimmt. In dieser Nacht war sein Haar jedoch schlagartig weiß geworden, so dass ihn die Fischer für einen Besucher aus dem Geisterland hielten und sich fürchteten.

Mein Eindruck

Der von Poe so lebendig und grauenerregend geschilderte Strudel besteht bis heute: Es ist der Saltströmmen. Es empfiehlt sich, ein PS-starkes Boot zu verwenden, um den Strudel zu durchqueren. Natürlich ist der heutige Strudel längst nicht so ein Abgrund, wie ihn Poe schildert. Aber einer Fußnote ist zu entnehmen, worauf sich Poes Geschehen stützt, nämlich auf eine Abhandlung des griechischen Philosophen Archimedes mit dem selbsterklärenden Titel „De incidentibus in fluido“, also etwa „Beobachtbare Vorgänge in einer Flüssigkeit“. (Archimedes entdeckte – „heureka!“ – die Hydraulik und vieles mehr.)

Poes Kunst besteht darin, die Verwandlung des Fischers in einen scheinbaren Geist zu begründen und diese unwahrscheinlichste aller Verwandlungen in den allerrealistischsten Kontext zu stellen. Die Landschaft und ihre besonderen Gegebenheiten werden haarklein beschrieben, ebenso der Fischzug, der genau kalkuliert ist. Doch der menschliche Plan wird von der Gewalt der Natur durchkreuzt, die in Gestalt eines Sturms daherkommt.

Naturphilosophie war zu Poes Zeit eine wichtige Sache, denn die Gesellschaft befand sich im Westen in tiefgreifendem Wandel: Die Amerikanische (1776-1783) und die Französischen Revolutionen von 1789 und 1830 hatten die Ständegesellschaft hinweggefegt. Nun musste sich erweisen, wozu die bürgerliche Gesellschaft fähig war: Die industrielle Revolution schickte sich an, die Natur in ihren Dienst zu zwingen: Wassermühlen gab es schon lange, nun kommen Dampfmaschinen und die Eisenbahn hinzu. Wo die Natur früher göttliche Fügung war, scheint nun der Mensch zu herrschen. Doch Poe weiß es besser: Die Natur wird durch ihre Unberechenbarkeit am Ende stets die Oberhand behalten.

Diese Erzählung soll den Beweis dafür liefern. Noch heute versucht die Wissenschaft, der Natur auf die Schliche zu kommen, indem sie einen digitalen Zwilling des gesamten globalen Klimas in Superrechnern erstellt und die beunruhigenden Beobachtungen in ihre Modelle zu integrieren. Darauf stützen sich die Warnungen der Internationalen Klimakonferenz (IPCC), die vor einem Überschreiten des 1,5-Grad-C-Limits warnen. Anno 2023 wurde dieses Limit durchgehend erreicht, was weltweit Wetterextreme wie Hurrikane, Hochwasser, Waldbrände und Dürren hervorrief.

7) Die Maske des Roten Todes (The Mask of the Red Death. A Fantasy, 1842/45)

Diesmal hat Fürst Prospero sich in eine burgartige Abtei vor den Verheerungen, die die Pestilenz in seinem Land anrichtet, zurückgezogen. Trotz des Todes draußen schmeißt er eine Party, bei der sich tausend Ritter und Damen verkleiden dürfen (Maske = Maskenball), um der Schönheit zu huldigen. Als er jedoch einen unverschämt auftretenden Burschen erblickt, der es wagt, als Pestkranker aufzutreten, kennt sein Zorn keine Grenzen. Er erlebt sein rotes Wunder.

Poe hat zahlreiche Gedichte über den Tod und dessen unentrinnbare Herrschaft geschrieben, denn er war ja selbst ständig vom Tod umgeben. Auch seine junge Frau Virginia Clemm starb an der Schwindsucht. Er nannte den Tod „den Zerstörer“ und „Eroberer Wurm“. Auch in „Die Maske des roten Todes“ ist der Tod unentrinnbar, und alles Schöne muss vergehen, insbesondere, wenn es so frivol wie von Fürst Prospero zelebriert wird.

8) Der Goldkäfer (The gold-bug; 1843/45)

Ein intelligenter Mann namens William Legrand, der wegen Verarmung seiner Familie auf einer Insel an der Atlantikküste hausen muss, stößt per Zufall auf einen Goldkäfer und eine Schatzkarte. Diese ist mit einem Code verschlüsselt und in Geheimschrift geschrieben, so dass es eine Weile dauert, bis er ihr das vollständige Geheimnis entlockt hat, wodurch sowohl sein Freund, unser Berichterstatter, als auch sein Diener, an seiner geistigen Gesundheit zweifeln. Aber dann zeigt ihm die Karte den Weg zu einem unermesslichen Piratenschatz.

Diese romantische Schatzsucher-Story war der lukrative Gewinner eines Geschichtenwettbewerbs. Triumphale Logik plus glückliche Zufälle plus Piratenromantik gehen eine typisch Poe’sche Verbindung ein.

9) Grube und Pendel (The Pit and the Pendulum, 1842)

Ein von der spanischen Inquisition ca. 1808 Verurteilter wird mehreren teuflischen Foltern unterworfen, wovon er mindestens zwei durch seinen Todesmut und Genialität überlebt. Doch dann rücken die Wände in der Kerkergrube näher und in deren Mitte wartet ein bodenloser Brunnen…

Der Verurteilte erwacht auf Stroh in der Finsternis seines nassen Kerkerlochs. Der Hall verrät, dass dies keine gewöhnliche Zelle ist, sondern vielmehr ein Loch von beträchtlichem Durchmesser. Der Umfang beträgt hundert Fuß, so dass er sich ausrechnen kann, wie lang der Radius ist. Das hilft ihm aber wenig, als durch tasten herausfindet, dass in der Mitte dieses Kerkers ein weiteres Loch darauf wartet, ihn zu verschlingen. Ein Steinwurf meldet ihm durch Hall und Poltern, dass ein Sturz in dieses Loch sein Ende bedeuten würde.

Der Kerkerknecht hat seinen täglichen Krug Wasser vergiftet, betäubt sinkt der Verurteilte zu Boden. Als er wieder erwacht, findet er sich auf einem Sockel oder Podest festgebunden. Damit er nicht verhungert, steht auf seiner Brust eine Schale Brei und seine linke Hand ist ungefesselt, damit er sich selbst füttern kann. Die Decke über ihm zeigt ein ungewöhnlich realistisches Bild vom Schnitter Tod. Dieser hält eine ziemlich große Sense in der Skeletthand – oder ist es doch ein Pendel mit einem sensenartigen Gewicht?

Als sich das Sensenpendel auf ihn herabsenkt, ahnt der Gefangene, dass sein Ende auf teuflische Weise ersonnen und zugemessen wurde. Nun kommt es darauf an, dem Tod mit ebenso viel Witz und Verstand entgegenzutreten. Da fallen ihm die vielen Ratten ein, die ringsum herumwuseln. Sie könnten sich als nützliche Helfer erweisen…

Mein Eindruck

Eine der bekanntesten, weil ebenfalls von Roger Corman verfilmten Erzählungen Poes. „Grube und Pendel“ trieb anno 1842 den Horror auf eine bis dato unerreichte Spitze: Folter durch die Inquisition, ein mysteriöser Todesfall, Gift im Wasser, ominöse Pendeluhren und schließlich der klaustrophobische Höhepunkt unter dem Pendel selbst. Kulturell gesehen herrscht im Kloster noch finsterstes Mittelalter, bis Napoleons Truppen Freiheit, Licht und Leben bringen. Der Richter (im Original ein Abt) verkörpert die Willkürherrschaft der katholischen Kirche in Spanien. Es herrscht Torschlusspanik, und die Entwicklung der Dinge treibt auf einen Höhepunkt zu.

10) Die Brille

Bislang war der junge Amerikaner Napoleon Bonaparte Simpson, geborener Froissard, immer der Meinung gewesen, dass es Liebe auf den ersten Blick unbedingt gebe. Doch was ihm neuerdings widerfahren ist, hat ihn eines Besseren belehrt.

Obwohl er schwache Augen hat – sein einziger körperlicher Makel – weigert er sich aus Eitelkeit, eine Sehhilfe zu tragen, sei es eine „verunstaltende“ Brille oder auch nur eine „geckenhafte“ Lorgnette, also eine in der Hand an einem Griff zu haltende Brille, wie man sie in alten Kostümfilmen sieht.

Mit seinem Freund Talbot geht er eines Abends in die Oper und bemerkt in einer Privatloge das entzückendste Frauenzimmer, das er sich nur vorstellen kann. Talbot verrät ihm ihren Namen: Madame Lallonde. Doch er meint die junge Dame namens Stephanie, die neben Simpsons Objekt der Liebe – Eugénie – sitzt. Simpsons Blicke werden erwidert, mit einer Lorgnette. O Seligkeit, als sie ihm auch noch zunickt!

O Verzweiflung, als Talbot, statt ihn ihr anderntags vorzustellen, für eine Woche Knall auf Fall verreist! Was tun? Eine flüchtige Begegnung, als sie in der Kutsche mit der jüngeren Dame vorüberfährt, ist kein Ersatz für ein Tête-à-tête. In einem Brief bezeugt er ihr seine Liebe und trägt ihr die Heirat an. Ihre Antwort ist keineswegs abweisend. Simpson ist selig.

Während eines leidenschaftlichen Gesprächs in ihren Gärten gibt sie ihm ein Medaillon, das sie im zarten Alter von 27 Jahren zeigt, und nimmt ihm das Versprechen ab, auf ihren Wunsch hin mal ein Lorgnon zu tragen, also eine Brille. Und zwar ständig. Er verspricht es und am nächsten Tag kann die Trauung stattfinden. Talbot ist zurückgekehrt und hilft gerne aus, so etwa mit einem Kutscher.

Die fährt die Frischvermählten nach der Zeremonie ein paar Meilen, bevor sie in einem Dorfgasthof die Hochzeitsnacht verbringen wollen. Wie er versprochen hat, soll er nun das Lorgnon aufsetzen, was er auch folgsam tut. Zu seinem maßlosen Schrecken sieht er ein altes Weib, das nicht 27, sondern 82 Jahre alt ist. Doch das ist noch nicht alles.

Was wird hier eigentlich gespielt, fragt er sich.

Mein Eindruck

Poe war auch ein beißender Kritiker von bürgerlichen Moralvorstellungen und vor allem von romantischen Illusionen und Schwärmereien. Er liebte es, Tabus zu brechen und zwar nicht immer mit subtilen Methoden, sondern mit der literarischen Brechstange.

Auch „Die Brille“ fällt in die Kategorie „Satire“. Hier nimmt er sich der Redensart „Liebe auf den ersten Blick“ an und führt diese ad absurdum. Allerdings erwächst dem jungen naiven Helden aus seiner Schwärmerei kein ernsthafter Schaden außer jenem, dass er in seiner Eitelkeit verletzt und in Sachen „Liebe auf den ersten Blick“ seiner Illusionen beraubt wird.

Schon die Beschreibung der Familienherkunft des Helden lässt den Verdacht aufkommen, dass wir es nicht mit einem realistischen Stück Literatur zu tun haben, wie es die Engländer wie etwa Richardson um ca. 1730 erfunden hatten. (Das, was man gemeinhin „Realismus“ nennt, ist also noch ziemlich jung.) Sondern es scheint sich vielmehr um eine Parodie auf die europäischen Stammbäume zu handeln. Ein amerikanischer Autor kann sich das leicht erlauben. Doch sein amerikanischer Held wird in dieser Falle gefangen – auch zur Überraschung des Lesers.

Und dass Simpson, geborener Froissard, die stolzen Vornamen Napoleon Bonaparte (den hat man wohl auch schon in Virginia vernommen hat) trägt, lässt ihn vollends in einem Zwielicht erscheinen, das dazu führt, dass der Leser seine Berichterstattung in Zweifel zieht und bemüht ist, einen objektiveren Standpunkt einzunehmen. Wenn man so will, führt Poe hier schon lange vor Henry James (The Turn of the Screw“) den unzuverlässigen Chronisten in die Literatur ein.

Doch was ist der Zweck der Übung? Simpson ist von Freunden bloßgestellt worden, die es nur gut mit ihm meinen. Aber was will der Autor? Will er für den pragmatischen Umgang mit Brillen werben (wer ist sein Sponsor?) oder gegen die Eitelkeit der feinen Gesellschaft wettern? Oder geht es ihm einfach nur um eine moralische Erbauung, indem er das romantische Schwärmen über „Liebe auf den ersten Blick“ ad absurdum führt? Vielleicht kommen alle diese Elemente in dieser Erzählung zusammen.

11) Die längliche Kiste (The oblong box, 1844)

Eigentlich wäre dies der Bericht über eine stürmische Seereise von Charleston nach New York City (es gab keine Eisenbahn), wäre da nicht die ominöse Kiste, die eine fatale Ähnlichkeit mit einem Sarg hat. Der Chronist, der sich auf seinen Scharfsinn einiges zugutehält, beobachtet, welche Folgen eine kuriose Verzögerung der Abfahrt zeitigt. Seine Freund, der Künstler Cornelius Wyatt, sollte eigentlich mit seiner lieblichen Frau und seinen zwei Schwestern drei Kabinen belegen, die genau gegenüber der Kabine des Beobachters liegen. Doch stattdessen belegen Wyatt und seine Frau eine Kabine, seine zwei Schwestern die andere – und die dritte Kabine muss für einen Dienstboten sein, schließt der Chronist scharfsinnig.

Falsch gedacht! Die dritte Kabine bleibt leer, und die längliche Kabine, die Wyatt mit an Bord bringen ließ, wird seiner eigenen Kabine untergebracht. Dadurch bleibt die dritte Kabine erstaunlicherweise leer, denn einen Dienstboten gibt es nicht. Doch was hat es wirklich mit Mrs. Wyatt auf sich? Unser Mann an Bord kommt an seinen Freund Cornelius nicht heran , um ihn zu fragen: Er bleibt unter Deck.

Mrs. Wyatt, stets tief verschleiert, legt in ihrem Betragen so ziemlich das Gegenteil einer Frau an den Tag, die man von einem Schöngeist wie Wyatt erwarten würde: Sie ist gewöhnlich, lacht häufig und tratscht lange und ausgiebig. Man lacht über sie, statt mit ihr. Es wundert ihn dann nicht mehr seine Beobachtung, dass sie nachts um elf ihre Kabine verlässt und die freie Kabine belegt.

Als er eines Morgens seinen Freund an Deck entdeckt, macht er humorvolle Andeutungen darüber, was sich wohl in der länglichen Kiste – sicherlich geschmuggelte Kunstwerke! – befinden möge. Schließlich stehe auf der Kiste eine Adresse in Albany, die als die seiner Schwiegermutter bekannt sei. Doch Cornelius ist erst verblüfft, bricht dann in zehn Minuten irres Gelächter aus und anschließend zusammen. Man bringt ihn unter Deck.

Ein Orkan aus Südwest zerfetzt die Segel und bricht schließlich die Masten. Viele Passagiere und paar Mann Crew wird nahe Kap Hatteras ausgebracht und gelangt glücklich an Land. Bleibt noch die Jolle, die vom Heck herabgelassen wird. Der Rest von Mannschaft und Passagieren passt gerade noch hinein, doch dann steht Wyatt auf, um zu fordern, man müsse auch seine Kiste mitnehmen. Kpt. Hardy weigert sich zweimal, woraufhin Wyatt über Bord springt, die „Independence“ entert und seine Kiste an Deck schleppt. Sie sehen zu, wer er sich an die Kiste bindet und mit ihr über Bord springt. Sofort versinkt er in den aufgewühlten Fluten.

Wie kann er bloß versinken, fragt unser scharfsinniger Beobachter den Kapitän: Die Liste muss doch mit Luft gefüllt sein und folglich auf dem Wasser schwimmen. Mitnichten, antwortet Hardy, erst wenn sich das Salz aufgelöst hat, dann kommt die Kiste an die Oberfläche. Salz?

Mein Eindruck

Der Erzähler reiht Beobachtung an Beobachtung und zieht wie ein Detektiv seine vermeintlich richtigen Schlüsse. Der Leser folgt ihm gerne, denn die Schlüsse bauen eine Spannung auf, denn sie sind voller Widersprüche: Es gibt die beobachtete Realität und es gibt die Erwartung, doch beide widersprechen einander. Der gewiefte Krimikenner wird schnell auf die Idee kommen, wo sich die erwartete Mrs. Wyatt befinden, nämlich in der länglichen Kiste. In welchem Zustand sie sich befinden mag, liegt angesichts der Reputation des AUTORS, nicht des ERZÄHLERS, ebenfalls nahe. Doch nichts bereitet den Leser auf den dramatischen Höhepunkt des Geschehens an Bord der „Independence“ vor. Anschließend muss noch eine Erklärung der mysteriösen Vorgänge folgen, und die liefert der Autor dann auch: Hardy erklärt in New York City, wo er unseren Chronisten „rein zufällig“ begegnet, die Zusammenhänge. Sie sind eher tragisch und schaurig als kurios. Dies ist die „punchline“, mit der der Autor seiner Leserschaft zu schocken pflegte.

Mein Gesamteindruck

Die nachhaltigste Wirkung hat Poe mit seinen phantastischen Erzählungen erzielt, deren größter Teil 1840 unter dem Titel „Tales of the Grotesque and Arabesque“ erschienen. Er griff dabei zwar des Öfteren auf den Motivkreis des Schauerromans zurück und steht dabei deutlich in der Nachfolge der dämonisch verfremdeten Welt E.T.A. Hoffmanns, führte jedoch das Genre durch eine verfeinerte Figurenpsychologie und eine virtuos poetisierte Erzählsprache zu einem neuen Höhepunkt.

Vorherrschend sind drei Typen von Erzählansätzen. Die Wechselwirkung von fremdartigem Schauplatz und unheimlichen, oft übernatürlichen Ereignissen bestimmt die mittelalterliche Pestgeschichte „Die Maske des Roten Todes“ ebenso wie „Der Fall des Hauses Usher“. Die zweite Kategorie bilden die Geschichten, in denen die Protagonisten physisch und psychisch in eine oft ausweglose tödliche Bedrohung geraten, wie „Das verräterische Herz“. Das aus Gedichten wie „Der Rabe“ (1845) bekannte Motiv der verlorenen Geliebten wiederum kehrt in makabrer Form in „Berenice“, einer Vampirgeschichte, wieder.

Mit „Der Doppelmord in der Rue Morgue“, „Das Geheimnis der Marie Rogêt“ und „Der stibitzte Brief“ – sie sind alle im DTV-Storyband „Detektivgeschichten“ gesammelt – wurde Poe zum Stammvater der modernen Kriminal- und Detektivgeschichte, in der die allmähliche Aufklärung eines Verbrechens im Vordergrund steht. Dabei verband Poe auf einzigartige Weise seinen eigenen Mystizismus mit der strengen abstrakten Mathematik, die für die Anwendung der deduktiven Logik notwendig ist. Diese Deduktion finden wir dann wieder bei Sherlock Holmes und seinen diversen Nachfolgern wie etwa Hercule Poirot wieder.

Anmerkungen von DVB

Anmerkungen findet man in den wenigsten Taschenbuchausgaben mit Poe-Erzählungen, daher sind diese wenigen Seiten (S. 279-86) sehr hilfreich. Sie erklären viele der Verweise Poes und einige der Motti, die den Erzählungen vorangestellt sind.

Nachwort von Franz Rottensteiner

Franz Rottensteiner ist der wohlbekannte, langjährige Herausgeber der Phantastischen Bibliothek im Suhrkamp-Verlag, aber auch der Herausgeber eines „Literaturmagazins“ namens „Quarber Merkur“. Was hat er mit dem vorliegenden Auswahlband zu tun, fragt sich der Leser verwundert. Denn an keiner Stelle wird er als Herausgeber genannt, obwohl diese Funktion bei dieser Publikation gewesen wäre.

In seinem „Nachwort“ befasst er sich mit Leben, Werk und Wirkung Poes. Dem muss der Leser nicht unbedingt beipflichten. Als Abschluss berichtet er, welche Illustratoren sich der Werke Poes angenommen haben, und da kommen einige illustre Namen zusammen: von G. Doré über Aubrey Beardsley und Arthur Rackham bis zu Alfred Kubin und schließlich Harry Clarke.

Illustrationen von Harry Clarke

Der Ire Harry Clarke war Spezialist für Kirchenfenster und Glasmalereien. Meist handelt es sich bei diesen feinziselierten Grafiken um Vignetten, die am Textschluss auftauchen. Doch es gibt auch großformatige Grafiken wie etwa in „Ligeia“, die eine Interpretation der Textaussage darstellen. Der Stil ist in alten Bänden von Aubrey Beardsley oder Franz von Bayros aus dem Fin de siècle zu finden. Leider sind die Abbildungen zu klein geraten, um ihnen gerecht zu werden. So sind etwas die Ratten auf der Titelillustration zu „Grube und Pendel“ kaum als solche auszumachen.

Die Übersetzung

Der Sprachstil entspricht den 1950er Jahren, ist aber dennoch gut verständlich. Außerdem hat sich bei einem Vergleich mit einer älteren Übersetzung vom Anfang des 20. Jahrhunderts ergeben, dass die Leipziger Übersetzung wesentlich genauer dem Original entspricht. Wo eine alte Übersetzung von einer „Hexe“ faselt, steht hier „Taschenspielertricks“. Unbezahlbar sind die Anmerkungen von DVB. Aber sie könnten wesentlich ausführlicher sein.

Ich habe lediglich Stichproben genommen und bin schon nach wenigen Seiten auf Druckfehler gestoßen.

S. 60: „die Meinung aufkommen ließ, wie seien Brüder.“ Statt „wie“ sollte es „wir“ heißen, denn hier ist die Rede von beiden William Wilsons.

S. 71: „In kanz kurzer Zeit“: Statt „kanz“ sollte es „ganz“ heißen.

S. 148: „trieben wie geradewegs auf den Moskoeström zu“: Der gleiche Fehler wie auf S. 60: Statt „wie“ sollte es „wir“ heißen.

Dass die Übersetzung in der DDR angefertigt wurde, lässt sich beispielsweise an der Verwendung des Kürzels „v.u.Z.“ ablesen, also „vor unserer Zeitrechnung“, anstelle von „v.Chr.“, also „vor Christi Geburt“.

Unterm Strich

Diese Auswahl bietet einige der besten und bekanntesten Erzählungen Poes, die allesamt durch die Anmerkungen des anonymen DVB mehr Hintergrundinformationen erhalten. Der Sprachstil ist einigermaßen verständlich und dem Original gut angenähert. Die Illustrationen, die sich bei vielen der Texte finden – siehe auch das Cover – sind eine künstlerische Interpretation, die man gut finden kann oder auch nicht.

Was Franz Rottensteiner mit diesem Buch zu tun hat, ist unklar, außer dass beim Insel- und Suhrkamp-Verlag Titel und die Phantastische Bibliothek betreute. Jedenfalls bietet sein Nachwort für den Einsteiger Informationen über die vielen Genres, in denen Poe tätig war oder die er eigentlich gründete (SF, Detektivgeschichte, Horror u.a.). Am informativsten fand ich seinen Überblick über die Zeichner und Illustratoren, die sie der Werke Poes annahmen, so etwa Alfred Kubin. Zu Harry Clarke gibt es biografische Angaben und eine Würdigung von Clarkes einzigartigem Stil.

Taschenbuch: 297 Seiten.
1979, Insel-Verlag, Frankfurt/M.
Aus dem Englischen von Günter Steinig, „Grube und Pendel“ von Elisabeth Seidel.
ISBN-13: 9783458320623

https://www.suhrkamp.de/verlage/insel-verlag-s-22

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