Wolfgang Jeschke (Hg.) – Science Fiction Story Reader 13. Intl. SF-Erzählungen

Klassische SF-Erzählungen von Star-AutorInnen

In dieser Anthologie aus dem Jahr 1980 sind neun SF-Erzählungen amerikanischer, deutscher, englischer und russischer AutorInnen vereinigt:

– der Kurzroman „Azteken“ der HUGO- und NEBULA-Award-Gewinnerin Vonda McIntyre;

– die romantisch-traurige Novelle vom „Alten Zinnsoldaten“ von Joan D. Vinge (HUGO für „Die Schneekönigin“);

– „Tertiär“, ein bemerkenswerter Kurzroman des deutschen Autors Gerhard Stein sowie

– die Kurzgeschichte „Kassandra“ der mehrfachen HUGO-Preisträgerin C.J. Cherryh, mit der sie im August 1979 erneut den HUGO Award gewann. Und vieles mehr.

Ulkigerweise wird C.J. Cherryhs Name auf dem Klappentext als „C.H. Cherryh“ angegeben.

Der Herausgeber

Wolfgang Jeschke, geboren 1936 in Tetschen, Tschechei, wuchs in Asperg bei Ludwigsburg auf und studierte Anglistik, Germanistik sowie Philosophie in München. Nach Verlagsredaktionsjobs wurde er 1969-1971 Herausgeber der Reihe „Science Fiction für Kenner“ im Lichtenberg Verlag, ab 1973 Mitherausgeber und ab 1977 alleiniger Herausgeber der bis 2001 einflussreichsten deutschen Science Fiction Reihe Deutschlands beim Heyne Verlag, München. Von 1977 bis 2001/02 gab er regelmäßig Anthologien – insgesamt über 400 – heraus, darunter die einzigen mit gesamteuropäischen Autoren.

Seit 1955 veröffentlicht er eigene Arbeiten, die in ganz Europa übersetzt und z.T. für den Rundfunk bearbeitet wurden. Er schrieb mehrere Hörspiele, darunter „Sibyllen im Herkules oder Instant Biester“ (1986). Seine erster Roman ist „Der letzte Tag der Schöpfung“ (1981) befasst sich wie viele seiner Erzählungen mit Zeitreise und der Möglichkeit eines alternativen Geschichtsverlaufs. Sehr empfehlenswert ist auch die Novelle „Osiris Land“ (1982 und 1986). Eine seiner Storysammlungen trägt den Titel „Schlechte Nachrichten aus dem Vatikan“. Er starb 2015.

Die Erzählungen

1) V.N. Komarov: In der Klemme

Auf dem Roten Planeten ist eine Sonde von der Erde gelandet, ohne zu ahnen, dass der Mars tatsächlich bewohnt ist. Die Marsbewohner haben sich eingegraben und getarnt. Das Komitee befiehlt, dass ein großer Staubsturm die Datenerfassung der fremden Sonde verhindern soll. Der zweiten Sonde ergeht es wenig besser. Sie kann zwar unbeschadet landen, ohne von einem Sturm eingenebelt zu werden, doch bald versagen ihre Instrumente aus unerfindlichen Gründen.

Unter den Mitglieder des Komitees bereitet man sich auf die nächste Sonde vor, als Dissens aufkommt: Drei Mal ein Schaden – das sähe sehr nach Absicht und Fremdeinwirkung aus. Wie wäre es damit, der nächsten Sonde negative Befunde in ihren Bodenproben unterzujubeln? Gebongt! Allerdings wäre es wohl besser, unbestimmte Daten unterzuschieben, dann bräche unter den Erdlingen Streit aus. Man gewänne Zeit. Doch der Komiteevorsitzende entscheidet sich genau für die Bestimmtheit…

Auf der Erde hat sich ein Schreiberling dieses Szenario ausgedacht, und seine Möglichkeiten werden kritisch diskutiert. Offenbar sind die Marsianer jetzt in Sicherheit.

Mein Eindruck

Der Autor dreht den üblichen Blickwinkel einmal um und fragt: Wie müsste sich eine Welt tarnen, die nicht entdeckt werden will? Die Pointe fand ich nicht so gelungen, aber sie ist OK. Der Mann, der das letzte Wort hat, findet schon den Gedanken wahnwitzig, dass Marsbewohner versuchen könnten, Menschen falsche Daten unterzujubeln. Na, das war ja genau der Sinn der Übung…

2) David Chippers: Hilfe für eine dritte Welt

Der Kosmische Rat berät, ob man dem dritten Planeten einer gelben Sonne Hilfe leisten sollte. Einige der Grundbedingungen sind erfüllt, doch mit dem Humor scheint es zu hapern. Das verdient eine Prüfung, doch die beiden Stummfilme, die man als sich als Beispiel für menschlichen Humor anschaut, sorgen eher für Bestürzung und Konsternation als für Mitgefühl. Diese Typen, die mit einem Bein schon im Abgrund stehen, müssen selbst sehen, wie sie sich aus der Patsche helfen.

Mein Eindruck

Die satirische Kurzgeschichte kritisiert die unrealistischen Bedingungen, unter denen Drittweltländern Hilfe geleistet wurde. Die Tatsache, dass sich die Prüfkommission auf völlig irrelevante Daten, nämlich Stummfilme zur Unterhaltung, stützt, veranschaulicht, dass die Datenerhebung vor Ort mehr als mangelhaft abgelaufen sein muss. Zudem gibt der Umstand zu denken, dass die Kandidaten für die Hilfsleistungen gar nicht gefragt werden, ob sie Hilfe überhaupt wollen. Die typische Arroganz der Reichen und Mächtigen.

3) Vonda N. McIntyre: Azteken (1978)

Die Astronautin Laenea Trevelyan hat sich das biologische Herz herausoperieren und ein mechanisch-elektronisches Herz mit Kreiselpumpe einsetzen lassen. Bislang war sie zehn Jahre lang als Crewmitglied zwischen den Sternen geflogen, doch nun hat sie ein großes Ziel in Greifweite: Sie will den Transit, den Sprung zwischen Sternen, ganz bewusst erleben statt wie bisher im Kälteschlaf. Sie ist nun Pilotin.

Welche Konsequenzen ihre Wandlung hat, erfährt sie gleich am eigenen Leib. Auf dem Weg zum Raumhafen von Seattle, der draußen auf dem Meer liegt, erkennt ein Kleiderhändler, was sie ist. Das passende Kleidungsstück für einen Piloten kann nur ein edler Umhang sein. Anstelle einer Bezahlung möchte er das Geheimnis des Transits erfahren. Offenbar war er früher selbst Astronaut. Sie kann es ihm (noch) nicht sagen.

Ihre ehemalige Crew, die sie am Grund des Raumhafens wiedersieht, schneidet sie jetzt: Minoru, Alaina und Ruth nehmen sie nicht mehr in die Arme. Sie ist kein Crewmitglied mehr. Aber zu wem gehört sie dann? In einer anderen Zone stößt sie auf Piloten, die sie freundlich begrüßen. Ramona und Miikala sind von der ersten Generation, Laenea von der zweiten. Sie weigern sich, sie mitzunehmen. Sie müsse noch einen Monat warten, des Trainings wegen.

Bei der nächsten Station auf ihrem Rundgang trifft sie einen Schläfer an, einen Piloten von der rauhen Welt namens Twilight. Dieses Narbengesicht nennt sich Radu Dracul und sie fragt scherzhaft sofort, wo sein Bruder Vlad sei. Sie lädt ihn auf ein Mittagessen ein. Er ist so viel Freundlichkeit nicht gewohnt, doch allmählich taut er auf. Nachdem sie eine Unterkunft bei ihrer Freundin Kathell Stafford gefunden hat, findet sie überrascht heraus, wie heftig sie sexuell von ihm angezogen ist, und der Sex ist schnell und überraschend intensiv. Es muss an ihrem neuen Herzen liegen, sagt sie sich.

Doch es gibt auch Momente, in denen sie keine Luft bekommt und die Kontrolle über ihren Körper verliert. Es dauert geschlagene sechzig Sekunden, bis ihr Wille über das neue Herz die Oberhand behält. Das ist wirklich beunruhigend. Doch sie weigert sich auch weiterhin, sich der Fürsorge des Krankenhauses anzuvertrauen. Aber auch ein zweites und ein sehr langes drittes Liebesspiel mit Radu bringt keine Lösung. Das erkennt schließlich auch er. Und als er versucht, ins Pilotenprogramm aufgenommen zu werden, wird er abgelehnt. Es kann keine gemeinsame Zukunft geben. Also reist er ab. Vorerst.

Mein Eindruck

Selten wurde die kybernetische Umgestaltung eines Menschen so einfühlsam und nachvollziehbar dargestellt und in eine Liebesgeschichte eingebaut. Außerdem spielt die Geschichte im Raumfahrer-Milieu, was sie in den Augen der Leser automatisch zu einer Science-Fiction-Story macht. Dabei ist der Schauplatz die ganze Zeit hindurch die Erde. Erst in der Fortsetzung „Transit“ (1978) verlässt Radu, nunmehr die Hauptfigur, den Planeten.

Womit so mancher SF-Leser nicht gerechnet haben dürfte, ist der Mangel an einschneidenden Erfahrungen und Erkenntnissen. Vieles, das schließlich zur Trennung Radus von Laenea führt, ist rein psychologisch bedingt: die Erkenntnis, dass die traditionelle Trennung zwischen den Piloten und den Mannschaften durchaus ihre Berechtigung hat. Sicherlich spielt zusätzlich auch die holprige Anpassung von Laeneas Körper an das biomechanische Herz eine Rolle – die Technik hat sie im Griff statt umgekehrt. Wie soll sich darauf eine verlässliche Beziehung aufbauen lassen?

Wer Action und Drama erwartet, ist hier also auf dem falschen Dampfer. Psychologie und Einfühlungsvermögen werden vom Leser erwartet, und der ist wohl vorzugsweise weiblich.

4) Irmtraud Kremp: Der Tag der goldenen Reifen

Die schöne neue Welt trägt der Klimakatastrophe Rechnung und begrenzt die Bevölkerungszunahme drastisch. Statt Kindern gibt es „Drids“, also Androiden, aber nur für die höheren Klassen, die Emeralds. Die Selects hingegen müssen auch noch die Retortenbabys der Selects aus der Unterklasse austragen und aufziehen. Diese Klassifizierung erfolgt bereits am zehnten Geburtstag. Emeralds erhalten eine spezielle Injektion, eine Sterilisierung und einen goldenen Reifen. Doch Claire hat geschummelt.

Claire ist eine Emerald ist schon im fortgeschrittenen Alter, weshalb sie nun einen Drid hat: Annette, die offenbar acht Jahre alt bleibt. Mit ihrem zweiten Mann Frank kann sie sich – bislang – keinen neuen Drid leisten, und Kinder darf sie als Emerald nicht haben.

Sie hat sich an der Gesellschaft und dem Staat schuldig gemacht, indem sie die Sterilisierung vermied, sich von ihrem ersten Mann Peter schwängern ließ und ein Kind bekam, das sie in einer einsamen Wassermühle zu Welt brachte: Annette. Peter starb bei einem Unglück, doch Frank hat Claires geheimnis noch nicht erfahren.

Als acht Jahre später Claires Freundinnen Lil und Margaret sowie ihre Schwester Dotty mit ihren Kindern zu Besuch kommen, gibt es Ärger, weil Annette kaputt ist: Sie verlangt nach Essen. Welcher Drid täte das schon? Claire muss ein ernstes Wort mit Annette reden.

Auf der Party erfährt Claire eine Neuigkeit: Drids werden nun auch als Teenager hergestellt, die mitwachsen. Bald darauf besorgt sich Dotty solch ein Teenie-Drid-Girl namens Blue Sky. Ob Annette zum Spielen kommen könnte? Claire kann nicht ablehnen, hat aber ein mulmiges Gefühl. Völlig zu Recht: Am Abend ist Annette weg – in Zahlung gegeben für ein neues Modell…

Mein Eindruck

Bei Androiden denkt jeder Leser gleich an „Blade Runner“ von Philip K. Dick. Dass es auch ganz andere Probleme mit Androiden geben kann, demonstriert Kremps anrührende Erzählung: Was, wenn jemand erführe, dass Claires Kind kein Drid, sondern ein Menschenmädchen wäre? Das Mädchen würde wie ein Drid behandelt werden, also wie eine Ware oder Maschine. Entsorgt, verschrottet, in Zahlung gegeben…

5) Joan D. Vinge: Der alte Zinnsoldat (Tin Soldier, ca. 1973)

Maris hat nach seiner Zeit als Soldat auf dem Mars eine Kneipe aufgemacht, die sich bei Raumfahrerinnen einiger Beliebtheit erfreut. Nur Frauen sind für die Raumfahrt zwischen den Sternen geeignet, heißt es. Im „Alten Zinnsoldaten“ gibt’s immer gut gemixte Drinks und Lover, die eine Lady abschleppen kann, um sich zu vergnügen.

Eines Tages lernt er so Brandy kennen, das mit 18 Jahren jüngste Besatzungsmitglied eines Raumfrachters, der zu den Plejaden pendelt. Brandy muss sich erst daran gewöhnen, dass Maris nicht ganz menschlich ist, sondern zur Hälfte eine Maschine, mit Prothesen aus Plastik und Metall, ein Cyborg. Aber er ist nett genug, dass sie mit ihm eine Nacht verbringt.

Dann vergehen aufgrund der Zeitdehnung auf den Interstellarfügen fast 20 Jahre, bis sie zurückkehrt. Er sieht keinen Tag älter aus, stellt sie bewundernd fest. Nach einer Liebesnacht fliegt sie wieder davon, um wieder nach knapp 20 Jahren zurückzukehren. Diesmal ist zur Liebe die Sehnsucht hinzugekommen. Sie schreibt Gedichte. Liebesgedichte.

Sie zeigt ihm ihr Raumschiff. Das führt sofort zu Ärger mit den anderen Raumfahrerinnen, doch Brandy behauptet sich. Das Schiff verfügt über eine weibliche KI, die offenbar auf Männer schlecht zu sprechen ist. Schleunigst verlässt das Paar das Schiff. Brandy kennt das alte Erdmärchen vom tapferen Zinnsoldaten und er Ballerina, die seine Liebe verschmähte. So will sie nicht sein.

Vom nächsten Raumflug erhält Maris schlechte Nachrichten: Die KI sei im Anflug auf eine Welt ausgerastet und habe das Schiff beschädigt, Brandy sei umgekommen. Maris ist sehr traurig. Er lauscht auf jedes Wort über das verschollene Schiff und wird unachtsam. Zum Glück spaziert schließlich Brandy doch noch zur Tür seiner Bar herein. Maris fällt ein Wackerstein vom Herzen, doch wie kann es möglich sein…?

Mein Eindruck

Ihre Leser haben Joan D. Vinges Debüt-Erzählung „Der alte Zinnsoldat“ immer wieder zu ihrer besten Story gewählt, und das mit Recht. Obwohl der Kern der Handlung auf das titelgebende Märchen von Hans Christian Andersen zurückgeht, macht die Autorin viel mehr daraus. Sie stellt mithilfe der Zeitdehnung, die bei beinahe lichtschnellen Flügen unweigerlich eintritt (siehe Einstein), die DAUER der Liebe auf die Probe. Und als Brandy mit einem Körper zurückkehrt, der nicht mehr ganz menschlich ist, stellt sie die KÖRPERLICHKEIT und MENSCHLICHKEIT der Liebe auf die Probe.

Hier braucht sich also der alte Soldat nicht wie sein märchenhaftes Vorbild ins Feuer zu stürzen, um seiner Angebeteten nahe zu sein. Es ist eher andersherum: Es ist die Ballerina, die sich verändert. Statt hochnäsig Liebe, wo sie angeboten wird, abzuweisen, nimmt sie sie an. „Liebe wandelt sich nicht, wo sie Wandel findet“, heißt es bei Shakespeare. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben die beiden noch heute zusammen in ihrer Bar und schauen den startenden Raumschiffen zu.

6) Robert P. Holdstock: Das Friedhofskreuz (The Graveyard Cross, 1976)

Summerson ist ein Fernerkunder und kehrt ins Sonnensystem zurück. Seine einzige Sehnsucht gilt der Rückkehr auf die heimatliche Erde. Für ihn sind nur 20 Jahre subjektiver Zeit vergangen, doch auf der Erde, so berichtet man ihm bei der Raumüberwachung, sind über drei Jahrhunderte vergangen (siehe oben und Einstein).

„Es ist unmöglich, dass Sie sofort auf die Erde können“, sagt ihm Wolfe von der Mondbasis und verordnet ihm erstmal eine Generalüberholung. Nach einem heftigen Streit sieht Summerson ein, dass sich die Erde erheblich verändert haben dürfte und lässt sich von Dr. Lafayette modifizieren und von Dr. D’Quiss seelisch anpassen. Von allen Fernerkundern ist er der einzige, der auch jetzt noch zur Erde will; die anderen gingen zum Mars oder den großen Monden im Sol-System.

Nach einem ganzen Jahr auf dem Mond ist er endlich soweit, sowohl physisch als auch psychisch. Er hüpft in seine Einmannmaschine und fliegt zum blauen Planeten. Dort verursacht sein Auftauchen beträchtlichen Aufruhr, nicht nur in der Atmosphäre, sondern auch auf der Oberfläche. Er wirkt auf die Bevölkerung wie ein Fremdweltler, genau wie ihm D’Quiss gesagt hat. Er wird zusammengeschlagen, immer wieder, bis er schließlich zurückschlägt und eingebuchtet wird.

In der Zelle weiß er endlich, dass er daheim ist. Seine Heimat ist eine Müllkippe, über der ein Kreuz emporragt, der Rest ist Feindesland. Endlich zu Hause.

Mein Eindruck

Der Autor hat mehrere Geschichten geschrieben, in denen er Raumfahrer schildert, die nach 300 Jahren Erdzeit zu ihrer Heimatwelt zurückkehren, mit meist unerwarteten Folgen. Hier hat Holdstock vor die Rückkehr erst einmal die komplette Überarbeitung des Raumfahrers vorangestellt, was dem Leser doch zu grübeln gibt: Wie kann es bloß auf der Erde in 300 Jahren aussehen, wenn man den Raumfahrer in einen Cyborg umwandeln muss? Dadurch wird schon einiges an Spannung aufgebaut.

Dass dies bereits die eigentliche Handlung der Story ist, erweist sich, sobald Summerson auf der Erde ankommt und sich ganz naiv umschaut. Diese Ereignisse werden nur noch summarisch wiedergegeben, denn nur ihr Ergebnis zählt: dass Summerson in einer Gefängniszelle endet und sich dort endlich sicher fühlt. Ein Fremder auf seiner Welt und in seinem Universum, fortgeworfen durch die Gesetze der relativistischen Zeitdehnung.

Die zweite Aussage betrifft natürlich die Erde der Zukunft selbst, denn sonst müsste Summerson ja gar nicht überarbeitet werden. Diese Welt der Zukunft ist völlig vergiftet und ihre Bevölkerung entsprechend aggressiv und verzweifelt. Als dann ein Fremder auftaucht, ist schnell ein Sündenbock gefunden. Insofern lässt sich die Geschichte aus dem Jahr 1976 als frühe Warnung vor der Umweltkatastrophe lesen, die uns droht und die schon 1968 vom „Club of Rome“ vorhergesagt wurde.

7) Sven Ove Kassau: Die Blumen der Stinx

Craig Doucette und Chris Carpallo haben versucht, im Schwemmland von Borneo eine Tabakplantage zu betreiben. Ihrem Unternehmen war kein Erfolg beschieden. Die vielen Regenfälle überschwemmten den Boden, und die Fledermäuse mästeten sich an den verblieben Stauden. Eines Tages war Chris ins Hochland aufgebrochen, um eine Lösung zu finden.

Heute Abend kommt der Eingeborene zu Doucette und wird sofort zu einem Glas Gin eingeladen. Doucette hat aufgegeben. Aber deswegen ist Obago nicht gekommen. Er arbeitet im Krankenhaus der Missionsstation, und dort hat der Pater gerade einen Lynchmord verhindert, an einem Weißen, der bis zur Unkenntlichkeit verändert ist. Doch Doucette erkennt die Armbanduhr, die Obago ihm zeigt: Sie gehörte Chris. Sie müssen sofort los, bevor es zu spät ist.

Als sie am Hospital eintreffen, stoßen sie auf einen hilflosen Pater und einen ratlosen, perplexen Dermatologen. Einen Hautarzt, wundert sich Doucette, doch dann geht er ins Krankenzimmer. Was er vorfindet, hat noch wenig Ähnlichkeit mit einem Menschen. Körperteile Carpallos, der ihn begrüßt, sehen eher aus wie die einer Pflanze: ein Symbiose? Carpallo behauptet zu Doucettes Verwunderung, er habe die Lösung zum Problem der Plantage gefunden.

In einem alten malaiischen Buch über die Mythen Borneos habe Chris die Legende von der Schmetterlingsblume entdeckt, erinnert sich Doucette, denn die Blume verleihe nahezu Unsterblichkeit. Na, wenn das kein Exportschlager würde! Leider weiß keiner, sagte Chris, wo die Stadt Distango liege, in der der Stamm der Stinx lebe, denn dieser züchte und hüte die Schmetterlingsblumen. Dann war Chris trotz aller Proteste mit einer Expedition in die Gebirge des Nordostens aufgebrochen. Und nun kehrt er als Halbgemüse zurück. Mit seinen letzten Worten erklärt, dass es den Preis seines Lebens wert war: Er hat den Samen mitgebracht, der Doucettes Plantage retten soll…

Mein Eindruck

Zunächst beginnt die Erzählung im realistischen Stil von Joseph Conrad, macht eine Wendung zu Lucius Shepards Kurzroman „Kalimantan“ und mündet schließlich in Abraham Merritts „Lost-Race“-Szenarien: Hinter einer tödlichen Barriere aus fleischfressenden Ratten und Fledermäusen, jenseits eines tückischen Sumpfs entdeckt Chris Carpallo ein idyllisches Paradies – das ein grausames Geheimnis birgt.

Denn die unsterblich machenden Schmetterlingsblumen werden zu einem ganzen bestimmten Zweck benötigt, einen Zweck, den die einzige Frau in der ganzen Stadt erfüllen muss, ob sie will oder nicht… Aus dem Merritt-Szenario kehrt die Geschichte wieder zurück zu jenem Horrormoment, als Doucette das sprechende Gemüse, zu dem sein Partner geworden ist, betrachtet und nur Ekel verspürt.

Diese Mischung aus eng beieinander liegenden Stilfeldern dürfte jeden Fan von Pulp Fiction zufriedenstellen. Mich hat die Geschichte à la Indiana Jones sehr gefesselt. Aber sie transportiert eine ernstzunehmende Aussage hinsichtlich einer Fortpflanzungsvariante in der Biologie der Evolution. Der übliche Mechanismus sieht vor, dass ein Organismus entweder (relativ) kurz lebt, dafür aber unzählige Nachkommen hervorbringt. Die Alternative besteht darin, einen Organismus (relativ) lange leben zu lassen, aber ihn mit nur wenigen Nachkommen zu segnen, für deren er intensiv sorgen muss, etwa beim Menschen. Wichtig ist dabei die genetische Vielfalt, sonst kommt es durch Inzucht zu genetischen Defekten. Die Überlebensrate sinkt.

Bei den Stinx gilt ein weiteres Extrem. Es gibt nur eine langlebige Frau, aber viele Männer (offenbar werden neugeborene Mädchen getötet, solange die „Königin“ gebärfähig ist). Sie ist die einzige Quelle für männliche Nachkommen und wird dementsprechend strikt behütet. Das macht das erste Zusammentreffen mit Chris Carpallo nicht unbedingt unwahrscheinlich: Mylana hat sich durch ein rituelles Bad auf die Begattungszeremonie vorbereitet und in einem externen Teich gebadet. Dabei hat er sie vor einem Schlangenbiss bewahrt und zum Dank führt sie ihn auf einem Geheimweg in die Stadt. Das ist die umgekehrte „Garten-Eden“-Szene: Adam und Eva werden nicht vertrieben, denn die Schlange stirbt. Schlimmeres wird folgen: Die Blumen der Stinx werden den Eindringling schwängern und damit umbringen.

Auch wenn der Erzählstil reine, krude Pulp Fiction à la Abraham Merritt darstellt, so ist doch die Fortpflanzungsvariante ein Thema, das sich für eine wissenschaftliche Erörterung eignet. Dass der Eindringling schließlich durch Erreichen des Ziels seiner Träume langsam umkommt, sich durch eine seltsame Schwangerschaft verwandelt und seinem Partner damit die Rettung bringt, ist pure Ironie.

8) Gerhard Stein: Tertiär

Kurt Zöllner reist per Anhalter durch den staubigen Westen der USA, als ihn eine Autofahrerin niederschlägt, ausraubt und ihn in der Wüste zurücklässt. Weniger später ist er kurz vorm Verdursten, betet inbrünstig und deliriert. Er wird mit einer göttlichen Vision belohnt: Kurt sei auserwählt, als einziger die globale Katastrophe, die Gott herbeiführen werde, zu überleben und auf einer alternativen Erde eine neue, bessere Menschheit zu gründen. In letzter Minute von einem Trucker gerettet, versucht sich Kurt an die Vision zu erinnern. Da war die Rede von einer ganz konkreten Konstruktion…

Seine Freunde erklären ihn für verrückt: Er will eine Zeitmaschine bauen! Die Nachbarin beäugt misstrauisch, wie das Material an Kurts Adresse geliefert wird und dort Handwerker tagelang ein- und ausgehen. Und dann hat er noch ein ganz anderes Problem: Er soll wie weiland Noah Menschen finden, mit denen er die neue Welt bevölkern und beherrschen kann.

Gesagt, getan. Zöllner baut eine gefälschte Arztpraxis und stellt dort seinen Transmitter auf. Besuchern erklärt er, dies sei ein neuartiges Röntgengerät. Erste Versuche verlaufend erfolgreich, aber die Fenster gehen zu Bruch: Zöllner hat den explosiven Druckausgleich nicht bedacht. Der erste Besucher, den Zöllner einlädt, ist jener Jugendfreund, der ihn so vernichtend kritisiert hatte. Der dient ihm nun als Pionier, als er ihn in die Vergangenheit schickt. Mehrere Kisten Ausrüstung und Bibeln folgen. Weitere Rekruten folgen.

Die Nachbarin hat genau aufgepasst: Es sind weitaus mehr Leute in Zöllners Haus hineingegangen als wieder herauskamen. Die Differenz ist zwar unerklärlich, doch sie macht Meldung. Am 28. Mai ist die Kripo auf die Serie von Vermisstenmeldungen aufmerksam geworden. Die Spur führt direkt zu Zöllners Haus, und Kommissar Helkmann klopft nach einer Rücksprache mit der Nachbarin an Zöllners Tür. Sein Assi hat die Kfz-Kennzeichen der Besucherautos mit den Vermisstenfällen abgeglichen: Bingo!

Noch ist ein Rätsel, wohin 79 Personen verschwunden sein können, als Zöllner die Tür öffnet, eine Geisel nimmt und die Beamten entwaffnet. Er lotst eine junge Geisel und einen Beamten zu dem rätselhaften Apparat in seiner Praxis und drückt den gelben Knopf. Kommissar Helkmann traut seinen Augen nicht…

Mein Eindruck

Die Novelle beginnt mit einer religiösen Vision und Eingebung, inklusive Bauplan und -anleitung, was nicht nur die Fachwelt erstaunt. Dann kippt die Erzählung Richtung Krimi, und das auf eine recht plausible Weise. Der Autor hätte genauso gut Krimiautor werden können. Bis zu diesem Ende des 1. Teil liest sich der Text wie eine Pastiche auf H.G. Wells‘ Klassiker „Die Zeitmaschine“ (1895).

Der 2. Teil schildert in fragmentarischen Episoden wie es auf der Parallelwelt weitergegangen sein könnte: eine komprimierte Geschichte der menschlichen Evolution. Denn es gilt zwei Kardinalfragen zu beantworten: 1) Was wurde aus dem Zeitreisenden namens Kurt Zöllner? Er nahm kein gutes Ende, was absolut nachvollziehbar ist.

Zweitens: Wie kommt es, dass die menschliche Zivilisation, die Zöllner im Tertiär (ca. 60 Mio. Jahre v.u.Z.) gründete, unterging, ohne Spuren zu hinterlassen? Hier wird die Antwort gegeben. In detektivischer Manier erklimmt ein ungenanntes Wesen die Pyramide der letzten Menschen, findet Spuren – und wir erfahren die jeweilige Geschichte dazu. Am Schluss wird enthüllt, welches Wesen die Ära der ersten Menschen abgelöst hat. Das ist ein ziemlich ironischer Kommentar auf die Fehlkonstruktion namens Homo sapiens und lässt nichts Gutes für nächste Sintflut erwarten.

9) C.J. Cherryh: Kassandra (HUGO 1979)

Die „verrückte“ Alis geht hinaus auf die Straße ihrer Stadt. Sie sieht die Gespenster von verkohlten Leichen, brennenden und zusammengestürzten Häusern. Doch das kennt sie alles schon, denn sie hat diese Horrorbilder seit ihrer Kindheit gesehen, hat die Psychiatrie durchgemacht, sich daran gewöhnt. Doch heute hat sie ihre Pillen, die diese Traumbilder vertreiben, nicht genommen, sie erträgt das Grauen gleichmütig und setzt sich in ihr Café an der Ecke. Die Zeitungen verkünden KRIEG – heute.

Da erlebt sie einen Schock. Ein junger Mann betritt das Café – der einzige materielle Mensch weit und breit. Sie läuft ihm nach. Nein, sie will kein Almosen, nur seine Gesellschaft. Man bedenke: ein echter, realer Mensch! Sie freunden sich an, gehen gut essen – da dröhnt die Sirene und der Zivilschutz: Alles in den Bunker! Alle brechen in Panik auf. Nur sie allein weiß, wo es ein sicheres Versteck gibt, in einem tiefen Keller. Dann beginnen die Bomben zu fallen.

Am nächsten Morgen blickt sie in Jims Gesicht: Auch er ist zu einem Gespenst geworden! Sie fürchtet den Tag…

Mein Eindruck

Mit dieser eindringlichen Story katapultierte sich Caroline J. Cherryh Ende der siebziger Jahre auf die internationale Szene, indem sie auf dem WorldCon in Brighton/GB den ersten Preis für eine SF-Kurzgeschichte errang. Sie schreibt bis heute, u.a. solche preisgekrönten Bestseller wie „Pells Stern“ und „Cyteen“. Ihre Figurenzeichnung ist bis heute eindringlich geblieben, weil sie die Psychologie nicht den Ideen und der Action geopfert, wie es so mancher Kollege getan hat.

„Kassandra“ ist Horror-Geistergeschichte, Kriegswarnung und psychologische Phantastik in einem. Dennoch ist die Aussage der Geschichte für jede Art von Leser nachvollziehbar. Ein Jahr nach dieser Warnung wurde Ronald Reagan US-Präsident und begann mit der massiven, superteuren Aufrüstung des US-Militärs und seiner Atomstreitkräfte. Zehn Jahre später war die UdSSR am Ende und zerfiel.

Die Übersetzungen

S. 37: (Die Fähre) „ging auf der La[n]deplattform nieder.“ Das N fehlt.

S. 172: „Sie war vollständig absorbiert und machte einen zufriedenen Eindruck.“ „Absorbiert“ bedeutet hier wohl nicht „aufgenommen und aufgelöst“ wie in der Chemie, sondern „geistig in eine Sache versunken“. „Absorbiert ist“ ist eine Eins-zu-eins-Übersetzung aus dem Englischen.

S. 185: „sein Faszikel entfernte man“. Der Begriff wird nicht erklärt.

S. 247: „Pro[m]blem“. Das M ist überflüssig.

S. 273: „Dahinter ist ein Fleet.“ Auch dieser Begriff wird als bekannt vorausgesetzt.

S. 298: „Werkezug“ statt „Werkzeug“: ein peinlicher Buchstabendreher.

S. 305: „dacht[e] er“: Das E fehlt.

Unterm Strich

Wieder einmal bietet der Story-Reader herausragende Beiträge für sowohl SF- als auch Fantasy-Freunde. „Azteken“ ist das erste Drittel von Vonda McIntyres Roman „Superluminal“, der sie sofort in die STAR-TREK-Fangemeinde katapultierte – ohne dass jedoch Kirk, Spock & Co. irgendwo auftauchen würden.

Das Cyborg-Thema greifen die Novellen „Der alte Zinnsoldat“ von Joan D. Vinge sowie „Das Friedhofskreuz“ von Robert Holdstock auf. Androiden tauchen in Irmtraud Kremps Erzählungen Der Tag der goldenen Reifen“ auf, so dass dieser Auswahlband einen gewichtigen Schwerpunkt zum Thema „Künstliche Menschen“ besitzt. Ich möchte dringend darauf hinweisen, dass fast alle Beiträge zu diesem Thema von weiblichen Autoren stammen! Autorinnen erobern – endlich – auch die Science Fiction.

Transformationen

Transformationen ganz anderer Art bieten die Erzählungen „Die Blumen der Stinx“, „Tertiär“ und „Kassandra“. In „Die Blumen“ stehen zwei alternative Arten der Fortpflanzung zur Debatte. In „Tertiär“ löst der Zeitreisende und Noah-Jünger eine alternative menschliche Evolution aus – diese konnte mich formal nicht besonders überzeugen. „Kassandra“ ist, wie es der Namensgeberin zukommt, eine Erzählung über vergebliche Vorhersagen – und somit ein bitter-ironischer Kommentar über eben diese vorangegangenen acht Geschichten.

Ausstattung

Illustrationen bereichern jede Geschichte, selbst wenn der ästhetische Stil heute altbacken und amateurhaft wirkt – wir sind heute CGI und mehr gewöhnt. Anno 1980 konnte man davon nur träumen. Andererseits muss man heutzutage illustrierte Anthologien mit der Lupe suchen, denn sie sind einfach zu teuer in der Herstellung.

Taschenbuch: 320 Seiten
Aus dem Englischen und Russischen von diversen Übersetzern
ISBN-13: 978-3453306059

www.heyne.de

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