Abraham Merritt – Das Schiff der Ischtar (Teil 1)

Emotionale Reise in die Parallelwelt der Babylonier

Der Archäologe John Kenton, ein Mann des Jahres 1924, verfällt einem uralten Zauber und erreicht eine andere, längst vergessene Welt. Er findet sich plötzlich auf einer Galeere wieder, das die Götter der Babylonier dazu verdammt haben, für alle Ewigkeit die Ozeane einer fremden Welt zu befahren.

John Kenton wird Zeuge des Streites der Götter. Auf der Seite Ischtars nimmt er teil am ewigen Kampf zwischen der Göttin der Liebe und der Rache einerseits und Nergal, dem Totengott, andererseits… (abgewandelte Verlagsinfo)

Dies ist die erste Hälfte des Originalromans. Die zweite Hälfte ist unter dem Titel „König der zwei Tode“ ebenfalls bei Pabel erschienen. Beide Bände enthalten die tollen Illustrationen von Virgil Finlay.


Der Autor

Abraham Merritt lebte von 1884 bis 1943 und war als Journalist, Chefredakteur von „The American Weekly“, Immobilienmakler und Schriftsteller tätig. Er verfasste vor allem Fantasy, obwohl er auch SF-Leser und -Autoren stark beeinflusste. Wegen seines Berufs war er sehr beschäftigt, was seinen Ausstoß nicht besonders groß werden ließ. 1917 erschien seine erste Story, 1918 mit „The Moon Pool“ sein erster Roman.

Dieser enthielt bereits die Merritt-Standardingredienzien der Aliens und der „Lost Race“, die irgendwo auf unserer Erde im Verborgenen überlebt hat – ähnlich wie King Kong. „The Metal Monster“ (1920) beschreibt ein fremdes Kollektivwesen aus Metallteilchen. „The Face in the Abyss“ erschien zuerst 1923 in „Argosy“ und wurde 1930 um den Teil „The Snake Mother“ erweitert, so dass es 1931 als Fix-up-Novel erscheinen konnte.

Weitere Werke: „The Ship of Ishtar“ (1924/26), „7 Footprints to Satan“ (1928, verfilmt), „The Dwellers in the Mirage“ (1932; dt. bei S. Fischer), „Burn Witch Burn!“ (1932/33), „Creep, Shadow!“ (1934, verfilmt), „The Fox Woman and Other Stories“ (Collection, 1949).

Merritts Einfluss rührte weniger von seinen unoriginellen Handlungsverläufen oder seinem überbordenden Stil her als vielmehr von der wirklich originären Kraft, mit der er sich alternative Welten und Realitäten vorstellen konnte. Sam Moskowitz: „Merritt war das überragende Fantasy-Genie seiner Zeit“ („Explorers of the Infinite, Kap. 12, 1963).

Nichtsdestotrotz war Merritts Prosa wortreich und gefühlsbetont. Wiederholt benutzte er das romantische Frauenbild der Viktorianer (für die eine Frau entweder Jungfrau oder Teufelin war) in den schönen, doch bösartigen Priesterinnen, die bei ihm auftauchen. In seiner Zeit, der Great Depression, drückte er die eskapistische Sehnsucht nach Andersartigkeit und Geheimnissen mit einer emotionalen Kraft aus wie kaum ein anderer.

Handlung

Der Kriegsveteran John Kenton hat ein Faible für Altertümer. Aber was gibt es denn noch zu entdecken, fragt er sich, wenn man bereits das Jahr 1924 schreibt? Da schickt ihm der Archäologe, den er nach Mesopotamien geschickt hat, eine große Kiste in sein feudales New Yorker Domizil. In der Kiste befindet sich ein großer Steinblock von den Maßen 120 x 120 x 90 Zentimeter. Solchen Stein hat Kenton noch nie gesehen. Er soll aus den Ruinen des 4000 Jahre alten Uruk stammen, ist also rund 6000 Jahre alt. Damals herrschte König Sargon der Erste über Babylonien.

Das Schiff

Seine Nase erspürt einen sonderbar verführerischen Duft, seine Augen stoßen auf einen Spalt, der den Felsblock teilt. Als er den Spalt erweitert, zerfällt der Block in zwei Teile – und enthüllt das Modell eines ein Meter langen Schiffsmodells. Es handelt sich um eine Rudergaleere, die aus zwei Teilen zu bestehen scheint: Ein Teil ist weiß wie Elfenbein, die andere Hälfte schwarz wie Ebenholz. Überall auf dem Deck stehen fein geschnittene Figuren, die wie aus Glas oder Edelstein gemacht zu sein scheinen.

Der Sturz

Ein seltsamer Zauber ergreift Kenton und er stürzt in die Tiefe – um auf dem Deck eben dieses Schiffes aufzuschlagen, direkt neben der Trennlinie. Auf der schwarzen Seite des Schiffs lauern ein neugieriger Trommler und ein dunkel gewandeter Priester auf den Neuankömmling, doch die Amazonen, die im weißen Teil leben, erwischen Kenton zuerst. Da er in einen blauen, persischen Mantel gekleidet ist, halten sie ihn für einen Abgesandten von Nabu, ihres Gottes der Weisheit, und behandeln ihn mit Respekt.

Der Fluch

Die Anführerin der Amazonen ist Lady Sharane. Sie ist bewandert in allen religiösen Dingen und erzählt ihm die Geschichte des Schiffes, das seit Urzeiten auf den Ozeanen der Welt unterwegs ist. Einst verliebten sich eine Priesterin der Ischtar, der Göttin der Liebe und der Rache, und ein Priester des Totengottes Nergal ineinander. Der Rat der Götter sollte diesen Frevel bestrafen, doch wer von ihnen hatte denn das Recht, über die Liebe zu urteilen, fragte Nabu der Weise. Deshalb wurde keiner der beiden getötet, sondern beide auf dieses Schiff verbannt – bis in alle Ewigkeit. Die Strafe bestand darin, dass die Liebenden einander zwar täglich sehen, einander aber nie berühren durften. Eine Qual ohne Ende.

Sharane

Doch diese Zeit ist längst vorbei, und die Liebenden fort. Doch die Vertreter Ischtars und Nergals bewohnen das Schiff der Götter immer noch. Kenton sieht eine Chance, die Rolle des Züngleins an der Waage zu spielen. Doch bevor ihm ein entsprechender Plan in den Sinn kommt, verliebt er sich in die schöne, einsame Sharane und erzählt ihr seine Geschichte.

Ganz schlechte Idee! Sie durchschaut seine Maskerade. Voll Verachtung lässt sie ihn gefangen nehmen. Als der Priester Nergals diese Beute für sich fordert, legt Sharane Kenton auf die Trennlinie. Bevor es zur Übergabe kommen kann, spült eine Woge Kenton über Bord. Erst beim nächsten Besuch in dieser Parallelwelt taucht Kenton wieder neben dem Schiff auf. Doch er verfehlt die über Bord hängende Goldkette Ischtars und erwischt die Eisenkette Nergals.

Diesmal gibt es vor dem Totengott kein Entkommen mehr…

Mein Eindruck

Die Geschichte folgt dem Prinzip der Achterbahn in räumlicher, zeitlicher und emotionaler Hinsicht. Ruhe und Langeweile sehen ganz anders, wenn John Kentons Schicksal ihn von einer Seite des Schiffs, von oben nach unten, vom Schiff zurück in seine eigene Zeit führt. Er ist anfangs nicht Akteur, sondern Poseur – ein Schwindler, der mit der gefundenen Welt spielt.

Doch Kentons Spiel wird von Sharane entlarvt und von Nergals Schergen bestraft. Fortan muss sich Kenton seinem Schicksal ernsthafter widmen. Er hat sich in die schöne Sharane verliebt und will sie erobern. Doch wie kann er das, wenn er als Rudersklave angekettet ist und üble Peitschenhiebe erdulden muss? Zunächst steht ihm ein Wikinger zur Seite, dem er geholfen hat. Später gesellen sich weitere Verbündete hinzu, denn es gelingt ihm, einen Schlafzauber zu überlisten und so seine Schläue zu beweisen.

Kenton und Co. erringen erst die Oberhand, dann Sharanes Liebe, doch nicht umsonst ist dies das Schiff der Götter. Diese greifen in Gestalt von weiteren Kriegern ein, und nach einem weiteren Kampf wird Sharane entführt. Kenton schwört, dass er sie zurückgewinnen wird, und folgt in klassischer Irrfahrt à la Odysseus ihrer Spur. Er wird sie erst auf der Insel der Zauberer wiedersehen – sofern die Götter es ihm gestatten. Und das wird erst im zweiten Band dieses Romans erzählt.

Erotik & Action

Laut Nachwort haben die amerikanischen Fantasy-Leser diesen Roman immer wieder unter die Top Ten gewählt. Das kann ich anhand der Lektüre der ersten Hälfte allerdings nicht nachvollziehen. Zu konventionell ist der Plot, geradezu klischeehaft die Zeichnung der erotischen Sharane, die sich überglücklich schätzt, Kenton endlich als ihren „Gebieter“ in die Arme schließen und ihn verwöhnen zu dürfen.

Das ist noch das althergebrachte Frauenbild des 19. Jahrhunderts. Sharane – selbst ihr Name ist nahezu orientalisch – ist das Inbild weiblicher Verführungskraft, gewandet in zarteste Schleier und Seide. Doch statt sie besitzen können, verspottet sie den Helden auch noch! Kein Wunder also, dass sich Kenton mächtig anstrengt, sie zu erobern.

Ziemlich deutlich sind hingegen die beiden männlichen Freunde Kentons herausgearbeitet, mit denen er Leiden erduldet und den Kampf gegen Nergal aufnimmt. Der Wikinger Trygg und der zwergenhafte Trommler Gigi haben beide eine Vorgeschichte vorzuweisen, die erklärt, wie es kam, dass sie auf diesem verfluchten Schiff der Götter landeten. Das ist sowohl romantisch als auch humorvoll berichtet. Es macht verständlich, warum die gesamte Erzählung so viel Charme ausstrahlt und den nostalgischen oder konservativen Leser bis heute in ihren Bann schlagen kann.

Die Übersetzung

Obwohl diese Übersetzung schon 1977 erschien, ist sie doch bemerkenswert frei von Druckfehlern. Das hat mich sehr gefreut. Der sprachliche Stil der Übersetzerin erinnert allerdings stark an die fünfziger und sechziger Jahre, als Karl May wiederentdeckt wurde. Damit könnte die Generation Y, die nach 1998 geboren wurde, durchaus ihre Schwierigkeiten haben. Für Sammler der älteren Generation passt der altmodische Stil allerdings genau zum altmodischen Garn à la Henry Rider Haggard, das Merritt hier spinnt.

Zeichnungen & Karte

Diese bislang einzige deutschsprachige Ausgabe enthält die originalen Illustrationen von Virgil Finlay aus dem Jahr 1948. Sie sind äußerst gekonnt und vermitteln durchgehend die Generalthemen Action und Romantik. Die dem Buch vorangestellte Landkarte ist nicht sonderlich hilfreich für das Verstehen dieses ersten Bandes: Gerade mal die letzten Stationen der Schiffsreise sind am unteren Rand erwähnt. Der ganze Rest des Reisewegs bezieht sich auf das Geschehen im zweiten Band „König der zwei Tode“. Bemerkenswert ist die Zeichnung eines siebenstufigen Tempels auf besagter Insel…

Unterm Strich

Der Autor hat wie schon so häufig in seinen Romanen (s.o.) einen Mann der Gegenwart in die abenteuerlichen Tiefen der Vergangenheit geworfen und daraus eine berauschende Mischung aus Erotik, Romantik und Action gemixt, die beide Geschlechter unter den Lesern gleichermaßen anspricht. Beziehungsweise ansprach, denn die Klischees sind mittlerweile doch weitgehend überholt. (Hoffe ich jedenfalls.)

Vermutlich nur für Fans und Sammler konservativer Fantasy erschließt sich hier indes ein Schatzkästlein von Action-Abenteuern und erotischen Schilderungen, die den Leser bis heute auf eine wirkungsvolle Achterbahnfahrt schickt – zeitlich, räumlich und sehr emotional.

Wer die sinnlichen Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“ mag und sie mit babylonischer Geschichte à la „Gilgamesch“-Epos verknüpft, sollte sich noch einen guten Schuss Piraten-Action hinzudenken – fertig ist der „Ischtar“-Cocktail. Und man braucht nicht mal einen Captain Jack Sparrow für diesen Trip.

Taschenbuch: 171 Seiten
Info: The Ship of Ishtar, 1924
Aus dem US-Englischen von Lore Strassl
www.vpm.de

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