Michael Ignatieff – Charlie Johnson in den Flammen

Der Schatten einer brennenden Frau

Charlie Johnson ist ein abgebrühter Kriegsreporter, der seit 20 Jahren Kriegsgebiete besucht. Nichts kann ihn wirklich berühren, er lässt nichts an sich rankommen. Doch während eines Einsatzes auf dem Balkan (Bosnien) pokert er zu hoch. Eine junge Zivilistin muss dafür mit ihrem Leben bezahlen. Charlie wird das Bild der von serbischen Milizen mit Benzin übergossenen, brennenden Frau nie vergessen können. Er beschließt, den brutalen Täter zu stellen. Dieses eine Mal soll Vergeltung geübt werden. Ein Himmelfahrtskommando?

Der Autor

Michael Ignatieff, ein kanadischer Publizist, wurde bekannt für seine Grundsatzartikel zu Fragen über Macht und Moral. In Harvard leitet er ein Institut für Menschenrechtspolitik (und natürlich eine Webseite).

Bisher veröffentlichte er mehrere Romane und Sachbücher. Im November 2003 erhielt er von der Heinrich-Böll-Stiftung für seine „politisch, ethisch und geschichtlich sensiblen Zeitanalysen“ den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken.

Handlung

In dem kleinen moslemischen Dorf Drenica hinter den serbischen Linien geraten der Kriegsreporter Charlie Johnson, sein polnischer Kameramann Jacek und ein Kollege namens Benny, der mit ihnen gewettet hat, in einen Hinterhalt hinter den feindlichen Linien und müssen sich in einem Keller verstecken. Ein Funkspruch Bennys, der um Hilfe bittet, verrät ihren Standort dem Gegner, einer serbischen Milizeinheit. Charlie und Co. können in der Nacht in die umliegenden Hügel entkommen, müssen aber hilflos mitansehen, wie die Miliz am nächsten Morgen die Bewohner des Hauses, in dem sie sich vor kurzem noch befanden, herauszerrt und das Haus ansteckt.

Das ist es nicht, was Charlie jetzt so fertigmacht, sondern das, was darauf folgte: der blanke Horror. Der Milizkommandant beantwortete den Protest einer jungen Frau damit, dass er sie mit Benzin übergoss und mit seinem Feuerzeug anzündete. Den Gnadenschuss verweigerte er ihr. Die Frau lief schreiend aus dem Dorf in die Richtung, wo sich Charlie versteckte. Er brachte sie zum Stehen und erstickte ihre Flammen mit den Händen, wobei er selbst schwere Brandwunden erlitt. Danach schleppte das Trio die Zivilistin zu einem Hügel, wo ein amerikanischer Helikopter sie abholte. Während Jacek zurückblieb, flogen Charlie, Benny und die Frau ins nächste Armeelazarett, wo schon Ärzte warteten. Die Frau, so erfährt Charlie kurz darauf, erlag wenige Minuten später ihren schweren Verletzungen. Sie wurde daraufhin eingeäschert. Charlie erfuhr nie ihren Namen.

Diese Horrorgeschichte redet sich Charlie nicht etwa bei seiner Ehefrau Elizabeth in London von der Seele, sondern in einem Hotel in einer Stadt auf dem Balkan. Bei ihm ist nicht Jacek, sondern Etta, seine Einsatzleiterin aus der Senderredaktion. Sie spielt Krankenschwester und tröstet ihn auch körperlich, ohne dass es etwas zu bedeuten hat. Aber das Gehörte verändert auch sie, denn wenig später lässt sie sich beurlauben.

Bei seinem Freund Jacek und dessen Frau Magda erholt sich Charlie in Polen auf dem Lande. Ein Arzt kümmert sich um ihn, bis an Charlies Händen neue Haut nachgewachsen ist. Drei Wochen lang ruft er seine Frau nicht an, was gewiss keinen guten Eindruck hinterlässt. Beim Abflug von Warschau sagt Jacek, was Charlie schon weiß: „Wir müssen das Schwein umbringen.“ Gemeint ist der Milizkommandant.

Auch Etta findet das heraus und beschließt, den beiden Männern während ihres Himmelfahrtskommandos wenigstens etwas Vernunft beizubringen. Charlie hat die Brücken hinter sich abgebrochen. Jacek ist, wie seine Frau Magda sagt, „besessen“ von den Gräueln und der Gewalt dessen, was er in Afrika, Afghanistan und auf dem Balkan gesehen und gefilmt hat.

Was für die Männer als eine Mission im Namen von Wahrheit und Gerechtigkeit beginnt, verwandelt sich unversehens zu einem Himmelfahrtskommando. Charlie erfährt, was es für die andere Seite bedeutet, wenn Kriegsreporter vor Ort sind.

Mein Eindruck

Es wäre so einfach, aus dieser menschlich spannenden Geschichte ein Rührstück à la „Opferschicksal“, einen Horrortrip à la „Koko“ (Peter Straub) oder ein psychologisierendes Kriegsabenteuer à la „Die Fälschung“ (Nicolas Born, verfilmt) zu gestalten. Nichts davon ist in Ignatieffs Text vorrangig, obwohl geringe Elemente all dieser Möglichkeiten unausweichlich enthalten sind.

Für Charlie Johnson ist Kriegsberichterstattung nach 20 Jahren ein journalistisches Geschäft wie jedes andere, denn er hat immer einen „Raum der Distanz“ zwischen seinem Erleben und dem Beobachteten aufrechterhalten können. Nur diese Distanz hat ihm seine seelische Gesundheit erhalten können. Nach dem direkten Kontakt mit der sterbenden Frau, deren Tod auch er verschuldet hat, ist er jedoch aus dem Gleichgewicht geraten, Wut und Schuld erfüllen ihn.

Ebenso wie Etta und Jacek. Doch wie sich herausstellt, hat Charlie ein Handicap, das diesen beiden Europäern fehlt: Er ist Amerikaner. Sein Vater half im 2. Weltkrieg, Deutschland von den Nazis zu befreien und lernte dabei in einem Wiesbadener Internierungslager Charlies Mutter Mika, eine Russin, kennen und heiratete sie. Die Ideale, die sie ihm vorlebten, übernahm Charlie ebenso wie jene, die die Nation, in der er aufwuchs, ihm einimpfte. 20 Jahre Kriegsreportage haben daran nichts geändert. Doch während dieser 20 Jahre wurden seine Ideale, deren er sich vielleicht nicht bewusst war, nie auf die Probe gestellt. Er wurde nie schuldig am Tod eines Menschen, sah nur zu und ließ Jacek filmen.

Doch wie Charlie nun erkennen muss, gibt es keine Unschuld des Beobachters. Wie der deutsche Atomphysiker Werner Heisenberg erkannte und in der Unschärferelation formulierte, verändert der Beobachter eines Experiments im subatomaren Bereich genau das, was er beobachten will. Es gibt keine Beobachtung ohne Einmischung. Die Einmischung zeitigt jedoch auch Verantwortung, und Verantwortung zieht möglicherweise Schuld nach sich. So gesehen, war Charlie mit seinen Kollegen für das Leben der Zivilistin verantwortlich. Als sie sie im Dorf zurückließen, nahmen sie billigend ihren Tod in Kauf. Dass die Frau brennend in Charlies Armen zu sterben begann, brachte für ihn das Fass zum Überlaufen. Er kann mit dieser Schuld nicht leben.

Die beiden Europäer Jacek und Etta, später auch ein Helfer namens Buddy, wissen um diesen Sachverhalt. Etta wurde als 18-Jährige von einem Onkel vergewaltigt, Jacek hat ständig Kriegsgräuel gefilmt und die polnische Militärdiktatur des Generals Jaruzelski ertragen. Beide mussten auf ihre Weise damit fertigwerden, durch Verdrängung, durch Zynismus, vor allem aber durch Schweigen.

Der Autor wird kaum jemals sentimental und versteht es, die realistischen Tatsachen in erzählerisch wirkungsvoller Weise zu präsentieren. So erzählt er beispielsweise vom Ende der Rettungsaktion rückwärts. Dabei wird Spannung durch Neugier und leises Erschrecken aufgebaut. Häppchenweise erfahren wir, wie es zu dieser „humanitären Katastrophe“ kommen konnte. Denn daraus ergibt sich alles Weitere, bis hin zur finalen Konfrontation Charlies mit jenem Oberst, der die Frau anzündete.

Dieses Finale ergibt sich nicht aus äußeren Zwängen. Charles Johnson könnte theoretisch wieder in sein früheres Leben mit Frau und Tochter zurückkehren. Doch die psychologischen Zwänge, die in ihm zum Tragen kommen, lassen diesen Schluss nicht zu. Seine Freunde wissen, dass er „ver-rückt“ geworden ist, doch sie können ihn verstehen. Am Schluss erkennt Charlie, dass er selbst einem alten Mythos aufgesessen ist: dem, dass gerechte Vergeltung alle Probleme löst und Schuld beseitigt. Er hätte es besser wissen müssen, erkennt er.

Unterm Strich

Der Leser bekommt in diesem sparsam erzählten Roman keine Emotionen als Fertiggericht vorgesetzt, sondern muss sie erst durch genaue Beobachtung und durch Einfühlung erschließen. Sicher, so manche Figur kommentiert Charlies Verhalten, doch niemand kann den Horror und die Wut in Charlie sehen, sondern nur deren Folgen, die sich in winzigen Entgleisungen bemerkbar machen. So wird der Leser quasi zum Seismografen für das Erdbeben, das sich in Charlie abspielt und sich in seinem Himmelfahrtskommando anbahnt.

Im Ergebnis stellt dieser Roman eines der glaubwürdigsten Prosadokumente dar, das sich mit der Problematik der Kriegsreporter befasst. Der Autor ist Menschenrechtler. Bislang haben sich humanitäre Organisationen nur mit den offensichtlichen Opfern des Balkankrieges beschäftigt, doch Ignatieff fragt nun auch nach den seelischen Verletzungen, die die Beobachter erlitten haben. Und was noch wichtiger ist: Welche Verantwortung kommt ihnen an der medialen Verarbeitung und Bewertung des Kriegsgeschehens und der Täter-Opfer-Beziehung zu? Ignatieff zufolge sind auch die Beobachter Täter. Und das ließe sich auch für alle UN-Beobachter anwenden, wo immer sie auftauchen.

Der Roman war spannend zu lesen, so dass ich nur wenige Tage brauchte. Wer sich einmal mit Kriegen, wie sie in den Medien gezeigt werden (zensiert natürlich), beschäftigt hat, wird hier einige Anregungen finden, die ihn nachdenklich machen dürften. Distanzierende Fernsehbilder scheinen beim Zuschauer keine Verantwortung nach sich zu ziehen. Der Roman stellt diese Haltung, diese Illusion, in Frage.

Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
www.randomhouse.de/Verlag/C-Bertelsmann