Heinrich von Kleist – Die Marquise von O. (Lesung)

Engel und Teufel in den Wirren des Krieges

Die verwitwete Marquise von O. ist schwanger – ist sich aber sicher, sich mit keinem Mann eingelassen zu haben. Von der Familie, die sie für eine unehrenhafte Lügnerin hält, verstoßen, wendet sie sich in ihrer Verzweiflung über eine Annonce an den unbekannten Vater ihres Kindes. Gleichzeitig schlägt sie das eifrige Werben des Grafen F. aus, der sie ehelichen will, obwohl er sie kaum kennt. Das uneheliche Kind soll keinen anderen Vater bekommen als seinen leiblichen. So beginnt eine verzweifelte Suche. (Verlagsinfo)

Der Autor

Geboren am 18. Oktober 1777 in Frankfurt/Oder, trat Heinrich von Kleist schon als junger Mann in den preußischen Militärdienst ein und nahm unter anderem am Rheinfeldzug (1796) teil. Letztlich verabscheute er den Dienst und schied 1799 aus dem Militär aus. In Frankfurt/Oder nahm er ein Studium der Physik und Mathematik auf, das er jedoch nach wenigen Semestern abbrach. Reisen führten ihn nach Thun (Schweiz) und Paris.

Unter anderem die Freundschaft mit Ludwig Wieland, dem Sohn Christoph Martin Wielands, brachte ihm die Literatur näher. Er begann mit der Arbeit an dem Trauerspiel „Die Familie Schroffenstein“, damals noch unter dem Titel „Die Familie Ghonorez“, und an „Der zerbrochene Krug“. 1804 trat Kleist in den preußischen Staatsdienst ein. Er lebte in Königsberg, Dresden und in Berlin, gab die Zeitschrift „Der Phöbus“ (1808) und die Zeitung „Berliner Abendblätter“ heraus. Der langfristige Erfolg blieb jedoch aus, Goethe lehnte ihn ab. Zusammen mit seiner Bekannten Käthe Vogel nahm sich Kleist am 21. November 1811 in Berlin das Leben.

Der Sprecher

Joachim Schönfeld wurde 1963 geboren, absolvierte ein Schauspielstudium an der Hochschule „Ernst Busch“ in Berlin, war engagiert am Deutschen Nationaltheater Weimar, an der Freien Volksbühne Berlin und am Schillertheater Berlin. Seit 1992 arbeitet Schönfeld freischaffend als Schauspieler für Film, Fernsehen, Hörbücher und Hörfunk. 1996 – 2000 Studium in den USA, seitdem auch Arbeiten als Autor und Regisseur. Er liest die ungekürzte Textfassung.

Regie führte Dirk Schwibbert, für den guten Sound sorgte Michael Walz, Berlin. Die Titelillustration zeigt einen Ausschnitt aus einem Gemälde von Anton Raphael Mengs.

Handlung

Um das Jahr 1800 setzt die Marquise von O., verwitwete Mutter zweier Töchter und Tochter eines Festungskommandanten in Oberitalien, eine Annonce in die Zeitung: Sie sucht den Vater ihres ungeborenen Kindes, welcher ihr unbekannt sei, den sie aber heiraten wolle. Diese Aktion setzt die Dame von Stand dem Gespött der feinen Gesellschaft aus, wirft aber ein Licht auf die damaligen Kriegswirren. Und so kam es dazu …

Mit dem Krieg kamen auch russische Regimenter nach Oberitalien, und die Familie des Festungskommandanten Lorenzo von G. bekam den Befehl, sich in die Zitadelle von M. zurückzuziehen. Doch auch dort ist keine Sicherheit vor den Scharfschützen zu finden, denn die Festung wird erstürmt und die Frauen müssen vor einem Brand flüchten. Die Marquise von O. läuft den Russen in die Arme, wird gefangen genommen und misshandelt, bis ein russischer Offizier erscheint, der die Soldaten verjagt. Der Marquise erscheint er wie ein rettender Engel. Er bringt sie an einen sicheren Ort, wo sie bewusstlos wird.

Er benachrichtigt die richtigen Stellen, geht dann aber weg. Der Festungskommandant, Oberst von G., übergibt die Zitadelle und zieht sich mit der Marquise und seiner Familie in das nahe Schloss zurück. Während der russische Offizier Brände löscht und Sprengstoff entfernt, bittet die Marquise ihren Vater, ihren Retter, den Grafen F., zu suchen, um ihm zu danken. Das gelingt Oberst von G., doch der Graf wird abberufen. Als der russische Oberbefehlshaber eintrifft, lässt er die fünf russischen Scharfschützen, die die Marquise misshandelt hatten, ohne Federlesens exekutieren. Der Graf F. empfiehlt sich und alle Russen ziehen ab.

Statt ihm danken zu können, erhält wenig später die Marquise die bestürzende Nachricht, dass der Graf in einem Gefecht bei P. schwer verwundet worden und dann gestorben sei. Zuvor habe er noch „Giulietta!“ gerufen. Dies ist der Name der Marquise. Diese macht sich schwere Vorwürfe und ist geneigt, an eine Namensschwester zu glauben. Sicherlich habe sich der Graf doch nicht binnen Minuten in sie verliebt, oder?

Monate des Friedens gehen ins Land.

Die Marquise lebt bei ihren Eltern und ihrem Bruder, einem Forstmeister, in einem Stadthaus. In letzter Zeit suchen gewisse Unpässlichkeiten sie heim, zum Beispiel Schwindelanfälle und Übelkeit. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie sagen, sie sei gesegneten Leibes, aber wie könne das sein, scherzt sie gegenüber ihrer Mutter, der Obristin von G. Muss wohl ein Kind von Phantasus sein, meint diese. Oder eines von Morpheus, dem Gott des Schlafes, meint die Marquise.

Da kündigt der Diener den Grafen von F. an. Wie, was?! Der Graf lebt? Ja, bestätigt dieser und fragt sogleich, wie es der werten Marquise gehe. Ob sie in letzter Zeit etwas unpässlich sei? Und ohne lange ihre Antwort abzuwarten, hält er um ihre Hand an. Ratlos weiß sie nicht, was sie von diesem verbalen Überfall denken soll. Er erklärt, er sei von der Schusswunde, die er empfangen hatte, nach Monaten wieder genesen und wieder mit einem Auftrag betraut worden, der ihn nach Neapel, Konstantinopel, ja, vielleicht sogar nach St. Petersburg führen werde. Aber sein Antrag sei völlig ernst gemeint. Der Oberst erbittet Bedenkzeit, bevor er seine Einwilligung gebe, doch der Graf lässt nicht locker, so dass man ihn einlädt, über Nacht zu bleiben. Da schickt der Graf seinen Adjutanten fort, um den Auftrag mitsamt Depeschen zurückzugeben.

Die Eltern der Marquise sind über dieses wechselhafte Verhalten noch bestürzter als über den Überfall. Der Graf riskiert ja dafür Festungshaft und sogar unehrenhafte Entlassung. Beim Abendessen erzählt der Graf, wie ihm im Lazarett die Marquise wie ein Inbild der Reinheit erschienen sei, wie ein Schwan. Er beteuert noch einmal, dass er sie liebe und geht auf sein Zimmer. Die Marquise weigert sich, noch einmal zu heiraten, doch Bedenken ihrer Eltern bewirken, dass sie sich allenfalls aus Dankbarkeit und Verpflichtung dazu bereitfinden könne. Der Oberst muss sich ein zweites Mal dem Russen ergeben, zumal dieser wirklich keine schlechte Partie zu sein scheint.

Diese Nachricht löst unbändige Freude beim Grafen aus, und er will die Marquise sofort, noch am gleichen Tag, heiraten. Das kann man ihm ausreden, und so reitet er seinem Adjutanten nach, um das Schlimmste zu verhindern. In fünf bis sechs Wochen werde er aus Neapel zurückkehren.

Doch während dieser Wochen verändert sich das Haus von Oberst G. gründlich. Die Unpässlichkeiten der Marquise treten stärker denn je auf, und der Arzt bestätigt die Vermutung der Ungläubigen. Und er scherze nicht. Sie wirft ihn hinaus, und jammert ihre Mutter an. Sie werde noch wahnsinnig, denn sie sei sich keiner Schuld und keines Fehltritts bewusst, habe ein reines Bewusstsein, doch wie sonst käme das Kind in ihren Bauch?

Die konsternierte Mutter lehnt die Beteuerungen ihrer Tochter ab und will wissen, von wem das Kind ist. X-mal beteuert ihre Tochter ihre Unschuld und Ehrlichkeit, bis die Mutter selbst ganz irre ist und sich dazu bereitfindet, eine Hebamme zu konsultieren. Die weltweise Frau bestätigt, dass Giulietta schwanger sei und sich der „Korsar“, der der Kindsvater sei, schon beizeiten melden werde. Und so etwas wie „unwissende Empfängnis“ gebe es nicht, auch nicht in der Natur, die einzige Ausnahme sei die Jungfrau Maria. Giulietta fällt darob in Ohnmacht.

In der Folge verstößt erst die Obristin das schändliche Weib und als sich die Marquise ihrem Vater zu Füßen wirft, um ihn um Vergebung anzuflehen, nimmt dieser eine Pistole von der Wand, ein Schuss löst sich – dieser fährt Gott sei Dank in die Decke. Aber ihres Bleibens kann in diesem Hause nicht länger sein und sie packt. Als der Vater verlangt, die Kinder müssten hierbleiben, wird Giulietta wütend und weist dieses menschenverachtende Ansinnen weit von sich.

Sie reist auf das Landgut bei V., wo sie alleine lebt, malt und ihre Töchter unterrichtet – ganz gegen alle Konventionen. Sie lässt niemanden vor, doch dann findet sie den Mut, für ihr kommendes Baby den bis dato unbekannten Vater zu suchen, um die Zukunft des Kindes gesichert zu wissen. Sie setzt eine Suchanzeige in die Zeitung und hofft auf das Beste …

Mein Eindruck

Zwei Dinge sind festzuhalten: Der Graf F. bekennt sich bis zu jener Zeitungsveröffentlichung nie zu seiner ungeheuren Tat, geht aber die ganze Zeit davon aus, aufgrund irgendwelcher hellseherischen Fähigkeiten wüsste die Marquise, von wem ihr Kind stammt. Da sie aber auch nur ein Mensch ist, stürzen sowohl die Schwangerschaft als auch der unverhoffte Heiratsantrag des Grafen nicht nur sie selbst in die größte Unsicherheit, sondern auch ihre Eltern, die sie daraufhin verstoßen. Worauf kann sie noch vertrauen, wenn sie selbst zwischen Unschuld und Unglauben ob der Realität zerrissen ist? Sie stützt sich alleine auf ihr Gefühl, bleibt sich selbst treu, trägt den Sieg über die männlich geprägten Konventionen davon – und das macht die Story bis heute aktuell.

Dabei war die Grundidee für Kleist, der die Story 1807 schrieb und ein Jahr später veröffentlichte, ganz und gar nicht neu. Das Motiv der unwissentlich geschwängerten Witwe, die sich an die Öffentlichkeit wendet, fand Kleist in derber aber moralisierender Variante schon bei Michel Eyquem de Montaigne (1533-1592) in dessen Essay über die Trunksucht aus dem Jahr 1588. Ein ähnliches Thema wurde auch schon von Miguel de Cervantes Saavedras Novelle „Die Macht des Blutes“ (1613) ausgestaltet. Von Kleists anderen Werken unterscheidet sich die Novelle dadurch, dass die Heldin aufgrund der Auseinandersetzung mit der an ihr begangenen Gewalttat und ihren sozialen Folgen ihre Identität und Autonomie findet. Hätte sie sich den Normen unterworfen, hätte sie es ja wie die Samurai machen und Seppuku begehen können (rituellen Selbstmord).

Es ist aber keineswegs so, wie es einige Kritiker sich wünschen: Giulietta stellt sich keineswegs über die sozialen Normen. Bis zum endgültigen Bruch fleht sie um das Erbarmen von Mutter und Vater. Doch der Punkt kommt, da sie ihr Leben und ihre Kinder bedroht sieht. Da kann sie nicht mehr anders, als sich außerhalb der Normen zu stellen und völlig allein, wie in einem Kloster, fern der Welt zu leben. Sie lässt niemanden vor.

Erst als sich Graf F., der (wieder einmal) gewaltsam bei ihr eingedrungen ist, zu seiner schändlichen Tat in der Zitadelle von M. bekannt und sie sich mit ihrer Mutter ausgesöhnt hat, findet sich Giulietta dazu bereit, den Normen zu gehorchen und den Vater ihres Kindes zu heiraten. Dass es ausschließlich um die Normen geht, zeigt die Tatsache, dass er zunächst nicht mit ihr zusammenleben darf. Erst nach einem Jahr des Drängens und Beschenkens – sie wird seine Alleinerbin – gelingt dem Vater der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zu ihr.

Für sie ist der Graf F. eine sehr zwiespältige Figur. Das lässt sich am letzten Satz des Textes ablesen. Zu Beginn erschien ihr ihr Retter „wie ein Engel“. Doch als er sich zu seiner Tat bekannte, wurde er zu einem Teufel. Wie hätte sie ihn je heiraten können? Genau dies ist die Crux, die sie am Ende selbst erkennt: „Sie hätte ihn nie für einen Teufel gehalten, wenn er ihr bei seiner ersten Erscheinung nicht wie ein Engel vorgekommen wäre.“ Sie selbst musste also erst einmal Selbsttäuschungen verlieren, um die Realität zulassen zu können. Das Bild, das sie nun abgibt, ist nicht das einer emanzipierten (was immer das heißen mag) Frau, sondern das einer unschuldigen Naiven, die an die Trugbilder glaubt, die ihr Kirche und gesellschaftliche Norm vorgaukeln. Ironischerweise ist es genau diese Naivität, die ihr das Gefühl gestatten, auf das sie sich alleine verlässt: Unschuld und Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber.

Inkonsequent erscheint vielmehr das Verhalten ihrer Mutter (die nie mit Vornamen erwähnt wird). Sie verstößt Giulietta im Namen des Gatten und Vaters, der ja quasi allmächtig den Haushalt regiert, als sei er Gottvater selbst. Als ihre Tochter einsam und allein wie im Kloster in V. lebt, reist sie ihr nach, um Versöhnung zu suchen – die sie auch prompt findet. Wieder siegt das Gefühl. Gemeinsam könnten Mutter und Tochter den Vater „überwältigen“, so dass er Giulietta verzeiht.

Bleibt also noch die seltsame Gestalt des Grafen F. zu erklären. Nur schrittweise (und nur in der zweiten Hälfte) wird seine Tat als Vergewaltigung erkennbar, und so bildet die Geschichte einen wahren Krimi, in dem das Rätsel einer unwissentlichen Empfängnis aufzuklären ist – ebenso wie der Grund für das rätselhaft zudringliche, ja stürmische Betragen des Grafen, der, kaum in M. angekommen, schon um Giuliettas Hand anhält, die kaum weiß, wie ihr geschieht. Sie kommt sich vor wie eine Festung, die es im Sturm einzunehmen gilt. Und die Mittel, die der Graf einsetzt, zeugen nicht von Überlegung, sondern ausschließlich von Gefühl.

Ironischerweise macht er sich selbst keinen Vorwurf, er habe sie vergewaltigt, obwohl sie ihm vorkommt wie ein reiner Schwan, das Inbild der Unschuld. Wie passt dies zusammen? Offenbar fühlt er sich keines Verbrechens schuldig, obwohl er die Welt seiner Angebeteten zum Einsturz gebracht hat. Die Vergewaltigung an sich betrachtet er als kein Verbrechen und es wäre auch unentdeckt geblieben, hätten sich nicht die körperlichen Anzeichen bei der Geschwängerten gezeigt. Die unehrenhafte Tat soll nun durch ehrenhaftes Tun, nämlich die Heirat, gesühnt und ungeschehen gemacht werden. Leider funktioniert dies in keiner Weise. Der Leser fragt sich, wie es um den Geisteszustand des Grafen bestellt ist – genau wie die Eltern und Giulietta selbst.

Kleist als Vertreter der Romantik

In vielen Erzählungen der Romantik spielen Zufälle und impulsive Entscheidungen eine wichtige Rolle, und die Nähe zu Märchen ist groß. Man denke z. B. an Chamissos „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ (1818), in der Schlemihl seinen Schatten an den Teufel verkaufte, um stets einen gefüllten Geldbeutel zu haben, doch muss er feststellen, dass die Schattenlosigkeit ihn zu einem Ausgestoßenen macht – in jeder Hinsicht. In „Die Elixiere des Teufels“ sind es die Schatten einer undurchdringlichen Vergangenheit, die den Helden Medardus mit unzähligen Überraschungen überfallen. In beiden Fällen gelingt den Hauptfiguren keine plan- und sinnvolle Existenz in der Mitte der Gesellschaft.

Dadurch zogen sich die Romantiker das Misstrauen und die Ablehnung des Dichterfürsten Goethe zu, der die Mission des Menschen z. B. in der Kunst („Wilhelm Meister“) gegeben sah. Dabei spiegelten die Romantiker lediglich das gesellschaftliche und staatliche Durcheinander ihrer Zeit wider, denn die Napoleonischen Kriege hatten nicht nur Europa neu geordnet, sondern auch das Altgewohnte bis zur Nichtexistenz und Unkenntlichkeit abgeschafft, so etwa das Hl. Römische Reich deutscher Nation (1806).

Dies ist auch die Ausgangslage für „Die Marqise von O.“, deren Story „nach einer wahren Begebenheit [erzählt wird], deren Schauplatz vom Norden nach dem Süden verlegt worden“ – so lautet der vollständige Titel. Erst in den Kriegswirren geraten alle Verhältnisse so durcheinander, dass Giulietta in die Gefahr gerät, vergewaltigt zu werden. Dass ausgerechnet ihr Retter zu ihrem Teufel wird – das stürzt ihre innere Verfassung erst recht um.

Der Sprecher

Die Sprechleistung von Joachim Schönfeld hat mich sehr beeindruckt. Kleists Prosa ist ja ebenso anspruchsvoll wie seine Theaterstücke. Der Autor ist bei Schülern und Studenten berüchtigt für seinen für heute Verhältnisse komplizierten Satzbau. Werden die Sätze aber optimal vorgelesen, so fällt es dem Hörer leicht, ihre Bestandteile zu verstehen.

Schönfeld macht aber nicht den Fehler, in Zeitlupe zu lesen, sondern spricht die Satzbauteile so, wie sie verstanden werden müssen, nämlich mit kleinen deutlich wahrnehmbaren Pausen zwischen Hauptsatz und Einschub oder Nebensatz. Jeder Satz besteht aus einer Hierarchie von Komponenten, und dem Sprecher gelingt es, die tragenden Teile flüssig hervorzuheben und die untergeordneten Teile herauszulösen. Jedem Hörer sollte es daher möglich sein, die Sätze ohne Weiteres zu verstehen.

Das hört sich leichter an, als es ist. Leicht ist derjenige Fall, in dem der Sprecher das Lesetempo künstlich so weit verlangsamt, um eine gewisse Anspannung herbeizuführen und die zugehörige Intensität des Gefühls, das die Figuren erleben, auszudrücken. Diese Technik setzt Schönfeld mehrmals mit gutem Erfolg ein, da die Geschichte reich mit Wundern, Zufällen und Entdeckungen gespickt ist. Deutlich wird dies beispielsweise, als Giulietta sich in stockender, zögerlicher Ausdrucksweise erstmals bereit findet, den Grafen F. eventuell aus Dankbarkeit zu heiraten. Auch ihre Verwunderung über ihren körperlich Zustand, der einer Schwangeren entspräche, wenn sie es nicht besser wüsste, drückt Verwunderung aus, und heiter machen sie und ihre Mutter noch Scherze darüber. Solche Momente werden wunderbar zu Szenen der Intimität gestaltet, in denen der Sprecher sein Einfühlungsvermögen deutlich demonstriert. Niemals jedoch versteigt er sich dazu, Sätze theatralisch zu deklamieren. Das Äußerste, was er sich leistet, ist zum Beispiel eine gewisse Atemlosigkeit in den Sätzen des Grafen, als dieser die Heiratseinwilligung des Hauses von G. erhält.

Eine kleine zusätzliche Schwierigkeit gilt es jedoch zu bewältigen. Schönfeld liest eine Textfassung, die der des Originals äußerst nahe kommt, sie vielleicht sogar ist. Daher stutzt der Hörer über seltsame Ausdrücke wie „Ahndung“ statt „Ahnung“ und „eilf“ statt „elf“. Auch der Gebrauch des Wortes „indem“ im Sinne von „weil“ ist ungewohnt. Ich denke aber, dass der Text dennoch relativ verständlich ist. Sprachforscher und Literaturwissenschaftler dürften sowieso kein Problem damit haben.

Unterm Strich

Ein Verbrechen wurde begangen. Der Erzähler verrät uns nicht, worin es besteht, sondern lässt uns langsam anhand der Erlebnisse des Opfers dahinterkommen, was geschehen sein könnte. Bleiben noch die Fragen nach dem Wie und vor allem nach dem Warum zu klären. Die Folgen der Entdeckung der Verbrechensfolgen, nämlich der Schwangerschaft des Opfers, spielen eine ebenso große Rolle wie die Entdeckung des Täters. Und in der Tat sind diese sozialen Folgen und ihre Bewältigung durch das Opfer noch weitaus interessanter, weil ungewöhnlicher. Und die ganze Zeit zweifelt man darüber, ob es je möglich sein könnte, dem Täter sein Verbrechen, das er ja gar nicht als solches wahrnimmt, zu verzeihen.

Dies alles ist ein Drama um Unschuld und Unglaube, um den Zwiespalt zwischen sozialer Pflicht und natürlicher Neigung, zwischen dem Primat des Gefühls und dem immer wieder unterliegenden Verstand. Letzten Endes obsiegt die weibliche Vernunft des Gefühls, die „emotionale Intelligenz“ und verhilft zu einem guten Ende. Es ist ein Thriller ohne Leiche, aber nichtsdestotrotz sehr spannend.

Ich habe durchweg die Namen und Vornamen eingesetzt, wie ich sie herausgefunden habe, um das Verständnis der Geschichte zu erleichtern. Sonst könnte man darüber stolpern, dass aus einer Marquise von O. zwischendurch eine Frau Giulietta von G. und schließlich eine Gräfin von F. wird. Allein schon diese Namenswechsel spiegeln die wechselnde Stellung des Opfers in der Gesellschaft eindrücklich wider.

Die Vortragskunst Joachim Schönfelds kann ich nachdrücklich empfehlen. Selten fand ich einen klassischen Text, zumal von Kleist, so sauber und verständlich vorgetragen. Nach der ersten CD musste ich aber selbst erst einmal eine Pause einlegen, bevor ich mich in den zweiten Teil stürzte. Dieser stellte sich denn doch als recht heiter und sogar neckisch heraus, ein starker Gegensatz zum ersten, recht dramatischen Teil. Der Sprecher bringt auch diese heitere Seite schön zum Vorschein. Insgesamt ein sehr gelungenes Hörbuch.

109 Minuten auf 2 CDs
www.argon-verlag.de