Reginald Hill – Die letzte Stunde naht (Dalziel & Pascoe 24)

Ein alter Gangster will weiterhin ehrbar wirken, weshalb er seine Killer ausschickt, als ein vor Jahren untergetauchter Polizist, der ihm einst korrupt zu Diensten war, wieder aufzutauchen scheint. Die Polizei und die Presse beteiligen sich an der Jagd, bei der gleich mehrere Opfer auf der Strecke bleiben … – Der 24. Fall des Duos Pascoe & Dalziel ist der letzte; leider, denn Autor Hill schreibt wie immer sehr unterhaltsam, doch dem Plot fehlt die übliche Raffinesse: trotzdem Pflicht für die Freunde des gediegenen englischen Kriminalromans.

Das geschieht:

Nach langer Genesungspause kehrt Detective Superintendent Andrew Dalziel auf seinen Stuhl als Chef der Kriminalpolizei von Mid-Yorkshire zurück. Er fürchtet seine Entscheidungskraft und sein Ermittlungsgenie eingebüßt zu haben, was er vor den Kollegen und Freunden und hier vor allem vor seinem Assistenten Detective Chief Inspector Peter Pascoe zu verbergen sucht.

Zunächst inoffiziell gerät Dalziel an einen interessanten Fall. Gina Wolfe ist quasi Witwe, denn ihr Gatte Alex, ein Polizist, ist vor sieben Jahren spurlos verschwunden. Inzwischen hat sich Gina mit Detective Inspector Mick Purdy, einem Kollegen ihres Mannes, verlobt und will endlich Gewissheit über das Schicksal des verschollenen Alex‘ haben, zumal der ihr offenbar ein Foto zugeschickt hat und demnach noch lebt: Was will er von Gina?

Alex war damals in einen Skandal verwickelt. Die Polizei versuchte intensiv, den ehemaligen Gangster David „Goldie“ Gidman zu entlarven. Das Unternehmen scheiterte, da dieser offenbar durch einen Maulwurf bei der Polizei auf dem Laufenden gehalten wurde. Seither ist Goldie sauber, fürchtet aber ein Aufleben seiner kriminellen Vergangenheit, was seinem Sohn, einem aufstrebenden Politiker, die Karriere zerstören könnte. Da Alex Wolfe Teil dieser Vergangenheit ist, schickt Gidman das Geschwister- und Killerpärchen Fleur und Vincent Delay aus, die Alex finden und ausschalten sollen.

Dalziel und der mit ins Boot geholte Pascoe erkennen allmählich, worum es eigentlich geht. Die Spuren sind widersprüchlich, die Sensationspresse mischt sich ein. Vincent Delay gehen wieder einmal mörderisch die Pferde durch. Inmitten des Durcheinanders erlebt Andy Dalziel seine kriminalistische Wiedergeburt …

Das Dutzend ist voll – zum zweiten Mal

Alle guten Dinge enden bekanntlich einmal, was die Trauer über den Verlust freilich nicht mildert. In diesem Fall kam besagtes Ende zwar bereits vor einigen Jahren, doch hierzulande wurde es fünf Jahre hinausgezögert: Es wird keine weiteren Kriminalromane mit dem schrägen Duo Dalziel/Pascoe (plus DS Edgar Wield, DC Shirley Novello und dem notorisch unfähigen „Bowler“ Hat) mehr geben! Das Ausrufezeichen ist gerechtfertigt, wie jeder Leser unterschreiben dürfte, der solides englisches Krimihandwerk schätzt, das nicht mit zwischenmenschlichen Belanglosigkeiten aufgeblasen und verwässert, sondern mit Witz unterlegt wird.

Reginald Hill gehörte zu jenen offenbar aussterbenden Autoren, die keine Furcht davor kannten, mit den Genre-Regeln zu spielen – und er verfügte über das Talent, dies geistreich zu tun. Der gegenwärtig gesellschaftlich abgesegnete Trend, Bildung zu verlachen und abzulehnen, war ihm fremd, weshalb Hill auch in diesem 24. Band seiner Serie nicht davor zurückschreckt, klassische Literatur zu zitieren bzw. so verfremdet einfließen zu lassen, dass der daraus resultierende Humor eine weitere Hoch-Ebene erreicht.

Gleichzeitig behält Hill den Plot im Auge, der in seinem Fall mit dem „Fall“ identisch ist – eine Haltung, die der von den Umtrieben einer Elizabeth George, Tana French & Konsorten ermattete Leser nicht oft genug loben kann. Hill verzichtet keineswegs auf Emotionen, lässt sie aber die Handlung nicht bestimmen und ist sich der Tatsache bewusst, dass in der Kürze tatsächlich meist die Würze liegt. Wenn es also Überschneidungen gibt, die einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen den Einzelbänden der Dalziel/Pascoe-Serie herstellen, so ruhen diese zwar auf den Privatleben der Hauptfiguren, ohne sich dabei in end- und fruchtlosen Liebesschnulzen zu ergehen.

Last und Fluch der Vergangenheit

Wir dürfen uns deshalb über intelligente Bosheiten, unbekümmerte Plattheiten und ebenso witzige wie bildreiche Sätze wie diesen erfreuen: „[Dalziel] glitt in seinen Wagen wie eine in den Abfluss schlitternde Tarantel …“, was über den Gag hinaus ein Anspielung auf den schillernden, zwiespältigen Charakter dieser Figur ist.

„Die letzte Stunde naht“ spielt auf zwei Ebenen. Erstens geht es um einen vor Jahren untergetauchten Polizisten, der in den Augen eines oberflächlich ehrbar gewordenen Gangsters weiterhin zu präsent ist. „Goldie“ Gidman schickt seine Schergen aus, die Hill mit der für ihn typischen Meisterschaft gleichermaßen überspitzt und trotzdem bösartig zeichnet, weshalb sich der Leser dabei ertappt herzlich zu lachen, als dem tumben Vincent Delay die Schrotflinte im denkbar ungünstigsten Moment losgeht.

Selbstverständlich sorgt Hill dafür, dass Gidmans Plan misslingt. Schließlich suchen unabhängig voneinander die Polizei und die Presse nach Alex Wolfe. Alle eint sie die Tücke des Objekts, bis sich die Fährten und die Schicksale jener, die ihnen folgen, hoffnungslos miteinander verknotet haben. Die Kollateralschäden schaukeln sich immer höher auf, bis sich die Überlebenden schließlich gegenüberstehen – eine Begegnung, die Hill ebenso unerwartet wie spektakulär enden lässt. Damit löst der Verfasser ein, was er mit dem Originaltitel „Midnight Fugue“ abermals spielerisch andeutet: Die Handlung ist die literarische Entsprechung einer Fuge – einer Musikform, deren Merkmal eine gleichzeitige Mehrstimmigkeit ist, wobei die Stimmen einem gemeinsamen Thema folgen, das jeweils variiert wird. Zudem gilt die Fuge als Form, die auf die Vergangenheit verweist, womit sie erst recht zur hier erzählten Geschichte passt. (Das deutsche Publikum ist in seiner Mehrheit aus Verlagssicht offenbar zu dämlich, um ein Titel-Wortspiel zu begreifen oder zu begrüßen, weshalb hierzulande halt wieder einmal eine letzte Stunde naht.)

Kein Meilenstein als Abschluss

Ungeachtet alter bzw. erwarteter Qualitäten gehört „Die letzte Stunde naht“ nicht zu den Meisterwerken der Serie. 24 Bände können kein gleichbleibendes Niveau wahren, obwohl Hill stets über dem Krimi-Durchschnitt blieb. Das Geschehen wird von zu vielen Zufällen bestimmt, die der Verfasser manchmal ein wenig zu deutlich formen muss, um sie mit dem roten Faden zu verknüpfen.

Nicht wirklich ausgeformt wirkt die zweite Handlungsebene, die Dalziels Rückkehr in den Polizeialltag beschreibt. Hill startet dramatisch, indem er den nach einem nur knapp überlebten Bombenattentat offenbar geistig angeschlagenen Superintendent einen ganzen Wochentag vergessen lässt – ein breit geschildertes Ereignis, dass dann keine Rolle mehr spielt: Andy Dalziel läuft problemlos wieder zu großer Form auf und straft alle, die an ihm zweifeln, nachdrücklich Lügen.

Dass diesem Krimi ein gewisser Nachdruck fehlt, dürfte auch daran liegen, dass „Die letzte Stunde naht“ nicht als Abschluss der Dalziel/Pascoe-Serie gedacht war. Der deutsche Titel ist eine nachträgliche Schöpfung. Als Reginald Hill „Midnight Fugue“ schrieb und veröffentlichte, war er noch gesund und plante nicht mit dem Schreiben aufzuhören; dieses Buch stellt keineswegs sein letztes Werk dar. Stattdessen hätte er mit einem 25. Band direkt anschließend und weitermachen können – und so war es wohl geplant. Es gibt kein ‚echtes‘ Ende. Dalziel und seine Polizeikameraden und Freunde feiern in einer Kneipe, dann blendet Hill aus. (Es folgt ein zweifelhafter Epilog, der eine solche Sichtweise jedenfalls wünschenswert werden lässt.) Vielleicht es sogar am besten so: keine Wehmut, kein Schmalz. Es fällt leichter sich vorzustellen, dass die Polizei von Mid-Yorkshire einfach wie bisher weitermachen wird.

Autor

Reginald Hill wurde 1936 in Hartlepool im Nordosten Englands geboren. Drei Jahre später zog die Familie nach Cumbria, wo Reginald seine gesamte Kindheit verbrachte. Später studierte er an der University of Oxford und arbeitete bis 1980 als Lehrer in Yorkshire, wo er auch seine beliebte Reihe um die beiden Polizisten Andrew Dalziel und Peter Pascoe ansiedelte.

Deren Abenteuer stellen nur eine Hälfte von Hills Werk dar. Der Schriftsteller war fleißig und hat insgesamt mehr als 40 Bücher verfasst: nicht nur Krimis, sondern auch Historienromane und sogar Science-Fiction. Einige Thriller erschienen unter den Pseudonymen Dick Morland, Charles Underhill und Patrick Ruell.

Erstaunlich ist das trotz solcher Produktivität über die Jahrzehnte gehaltene Qualitätsniveau. Dies schlug sich u. a. in einer wahren Flut von Preisen nieder. Für „Bones and Silence“ (dt. „Die dunkle Lady meint es ernst“ bzw. „Mord auf Widerruf“) zeichnete die „Crime Writers‘ Association“ Hill mit dem begehrten „Gold Dagger Award“ für den besten Kriminalroman des Jahres 1990 aus. Fünf Jahre später folgte ein „Diamond Dagger“. Reginald Hill lebte mit seiner Frau Pat in Cumbria. Dort ist er am 12. Januar 2012 den Folgen einer schweren Krankheit erlegen.

Gebunden: 442 Seiten
Originaltitel: Midnight Fugue (London : HarperCollins Publisher 2009)
Übersetzung: Karl Heinz Ebnet
www.droemer-knaur.de

E-Book: 1302 KB
ISBN-13: 978-3-426-44228-9
www.droemer-knaur.de

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)