Richard Montanari – Der Abgrund des Bösen

In Philadelphia treibt ein Serienkiller sein Unwesen, der seine grausig zu Tode gebrachten Opfer buchstäblich ausstellt. Die Spür führt in eine vor Jahren niedergebrannte Klinik für irre Kriminelle und tief hinab in die Eingeweide der Stadt … – Band 7 der Balzano-&-Byrnes-Serie liest sich phasenweise wie ein Grusel-Thriller, biegt jedoch im – modern mehrfach getwisteten – Finale auf ‚realistischen‘ Kurs ein: abgehoben aber spannend!

Das geschieht:

Im Laufe ihrer Tätigkeit für die Mordkommission der US-Großstadt Philadelphia haben Jessica Balzano und ihr Partner Kevin Byrne immer wieder gegen Gewalttäter ermittelt, die nicht nur brutal, sondern auch bizarr morden. Dennoch stellt der Tod von Robert Freitag auch für sie einen Höhepunkt entsprechender Erfahrungen dar: Seine Leiche wird im Priory-Stadtpark auf einem Stuhl sitzend gefunden; im Schädel steckt ein gewaltiger Nagel, mit dem normalerweise Bahnschienen auf Holzschwellen fixiert werden.

Weitere Tote werden in dem Park präsentiert, obwohl die Polizei vor Ort präsent bleibt, nachdem klar ist, dass ein Serienkiller sein Unwesen treibt. Mit diabolischem Geschick lockt der Täter die Wachen in die Irre und scheint wie vom Erdboden zu verschwinden, sobald er ein weiteres Opfer ‚ausgestellt‘ hat. Politik und Presse werden unruhig bzw. aufmerksam, der Druck auf die Polizei steigt.

Die Suche nach einer Gemeinsamkeit der Opfer führt endlich zu einem Durchbruch. Alle waren sie zwischen 1992 und 1996 im Delaware Valley State Hospital beschäftigt. In der „Cold River“ genannten Einrichtung wurden zeitweilig mehrere tausend geistig behinderte, oft kriminelle Männer und Frauen weniger betreut als weggesperrt; weil sich die Missstände nicht mehr vertuschen ließen, wurde das Haus geschlossen.

In diesem Umfeld konnte ein irrer ‚Wissenschaftler‘ seine ‚Studien‘ treiben. Dr. Godehard Kirsch war ein Traumforscher, der Patienten für obskure Experimente missbrauchte und aus Estland sogar den Serienmörder Eduard Kross in die USA schmuggelte. Ein Brand setzte diesem Treiben ein Ende, doch eines von Kirsch manipulierten Versuchskaninchen hat überlebt: Luther setzt alles daran zu verhindern, das bekannt wird, was im „Cold River“ geschah …

Irrsinn mit (mörderischer) Methode

Die Herausforderung ist enorm: Wie lässt sich heute, da jede nur mögliche Methode, Menschen zu Tode zu bringen, sogar real ausprobiert wurde, in Sachen Mord & Metzel noch etwas Neues bieten? Film und Fernsehen profitieren (noch) von ihrem Vorteil, das Schlachten dem Zuschauer buchstäblich vor Augen zu führen. Auch hier scheint das Ende der Fahnenstange jedoch nicht nur in Sicht-, sondern bereits in Griffweite zu sein.

Ungleich schwerer haben es Autoren, und hier vor allem jene, die Thriller in Serien schreiben. Papier ist nicht nur geduldig, es bildet auch eine zusätzliche Barriere zwischen der beschriebenen Gräueltat und dem Leserhirn. Deshalb müssen Morde noch einmal schwungvoller begangen werden bzw. blutiger ausfallen als auf Leinwand oder Bildschirm, um dieses Hindernis zu überwinden.

Richard Montanari ist nicht zu beneiden, denn er gehört zu jenen Autoren, die sich die Hirne zermartern, um weiterhin Krimi-Schrecken in Paukenschlag-Qualität zu liefern. Da er sein Hauptfigurenduo Balzano & Byrne bereits zum siebten Mal ermitteln lässt, muss er sich schier in Stücke reißen. Umso beeindruckender ist der Erfolg, den er mit „Der Abgrund des Bösen“ feiern kann: Dieses Garn ist wirklich spannend!

Im Grunde alles dagewesen

Vielleicht liegt es gerade daran, dass Montanari kein Literat, sondern ein routinierter Arbeiter in der Unterhaltungsindustrie ist. Bei nüchterner Betrachtung bietet dieses Buch keine neuen oder originellen Gedanken. Stattdessen setzt der Verfasser seine Energie primär dazu ein, das Bekannte durch Variation zu verbrämen. Dabei schreckt Montanari nicht davor zurück, in thrillerfremden Gefilden zu plündern: Luther, der hirnferngesteuerte Killer im Vogelscheuchen-Anzug mit Schlapphut, ist nicht nur wie einst Freddy Krueger das Kind von Wahnsinnigen, sondern wuchs darüber hinaus als heimlicher Insasse einer horrorfilmtauglichen Irrenanstalt auf, fiel dort einem modernen Frankenstein in die Hände und haust nun wie das Phantom der Oper in der Kanalisation von Philadelphia. Diese Unterwelt kennt Luther wie seine Westentasche, was ihn in die Lage versetzt, seine Opfer aus dem Untergrund zu attackieren oder in deren Schränken aufzutauchen.

Da dies nicht genügen könnte, um Luther unterhaltsam zu dämonisieren, pflanzt ihm Montanari den Geist eines Super-Killers ins Hirn, der immer wieder die Kontrolle übernimmt. Um die Verdorbenheit von Eduard Kross zu unterstreichen, lässt ihn der Autor aus Estland stammen, einem europäischen Kleinstaat, dessen Existenz in den USA nur bedingt bekannt sein dürfte. Damit eignet sich Estland, das u. a. von den Nazis und vom Sowjet-Sozialismus terrorisiert wurde, ausgezeichnet als Brutstätte des Kross-Killers, so wie einst ein trivialisiertes Transsilvanien zur Heimat des Vampirfürsten Dracula aufstieg.

Dazu passt Luthers Ende. Es ist ebenso dramatisch wie übertrieben aber wiederum spannend, was die Klischees entschuldigt. Selbstverständlich fällt damit die Klappe noch nicht: Kein moderner Action-Thriller verzichtet heute auf einen Twist, der dem Finale einen sogar noch aufregenderen Epilog folgen lässt; so hofft der Autor jedenfalls und ist dafür bereit, die bisher zumindest ansatzweise gewahrte Logik fahren zu lassen. Montanari versucht den Epilog sogar mit einem weiteren Twist zu krönen, bevor er seine ermatteten Leser endlich entlässt.

Wie ein altes Ehepaar

In sechs Bänden hat Montanari aus Balzano & Byrne alles herausgekitzelt, was ihnen Figurenprofil verleihen konnte. Dummerweise steht das Privatleben der beiden Ermittler beinahe ebenso im Mittelpunkt des Geschehens wie der jeweils zu lösende Fall. Auf eine Liebesgeschichte mit Hindernissen, die sich seifenoperlich über mehrere Bände quirlen lässt, verzichtet Montanari dankenswerterweise: Balzano & Byrne sind Kollegen und Partner, und das bleiben sie auch dieses Mal.

Bisher mussten deshalb vor allem Familienmitglieder und Freude für private und zwischenmenschliche Komplikationen herhalten. Ergänzt wurde dies durch im Dienst erlittene Verwundungen, deren Folgen gemeinsam und über viele Buchseiten gemeistert werden mussten. Dieses Mal fiel Montanari ein, Balzano einen alten Traum aufgreifen zu lassen: Sie möchte Staatsanwältin werden. Neben dem Fulltime-Job als Polizistin und einem turbulenten Familienleben ist das Studium natürlich besonders anstrengend. Hinzu kommen ausgiebig ausgebreitete Selbstzweifel sowie die Nöte des Partners Byrne, der womöglich bald allein auf Lumpenjagd gehen muss: Diese Fragen sollen auch die Leser beschäftigen und zum nächsten Band der Serie greifen lassen.

Viele alte bzw. bewährte Tricks kommen also zum Einsatz, doch nimmt dies selbst der erfahrene Leser, der den Autor durchschaut, nicht übel. „Der Abgrund des Bösen“ überschreitet zwar die Grenzen eines ‚realistischen‘ Kriminalfalls, ohne dabei jedoch den Boden des Nachvollziehbaren zu verlassen. Übertreibung ist in der Unterhaltung ein legitimes Mittel, da hier die Wirklichkeit Nebensache bleibt. Relevant ist allein die Fähigkeit des Erzählers, seine Geschichte glaubhaft KLINGEN zu lassen. Ungeachtet der Absurdität des Plots hat Montanari abermals unter Beweis gestellt, dass er sein Handwerk – und mehr aber auch keineswegs weniger ist es nicht – versteht. Die Rechnung geht auf: Balzano & Byrne dürfen auch für ihr achtes Krimi-Abenteuer u. a. mit diesem Rezensenten rechnen!

Autor

Richard Montanari (geb. 1952 in Cleveland, US-Staat Ohio) entstammt einer US-amerikanisch (Byrne!) – italienischen (Balzano!) Familie. Als junger Mann reiste er ausgiebig durch Europa und schlug sich mit verschiedenen Gelegenheitsjobs durch, bevor er in die USA zurückkehrte und einige Jahre in der väterlichen Baufirma arbeitete.

Montanari sattelte um, wurde freier Journalist und schrieb Artikel für unzählige Zeitungen und Zeitschriften. Anfang der 1990er Jahre schrieb er seinen Romanerstling „Deviant Way“. Er fand einen Literaturagenten und einen Verlag. Nachdem „Deviant Way“ 1996 als bestes Krimidebüt des Jahres mit einem „On-Line Mystery Award“ ausgezeichnet wurde, konnte Montanari einen Zwei-Romane-Vertrag mit einem renommierten Buchverlag abschließen. Zum weltweiten Durchbruch verhalf ihm 2005 der erste Band der „Philadelphia“-Serie um das Polizisten-Duo Kevin Byrne und Jessica Balzano.

Über Leben und Werk unterrichtet der Autor auf seiner sehr professionell layouteten aber informationsarmen Website.

Taschenbuch: 511 Seiten
Originaltitel: The Stolen Ones (New York : Sphere/Little, Brown Book Group 2013)
Übersetzt von Karin Meddekis
www.luebbe.de

eBook: 2564 KB
ISBN-13: 978-3-7325-0675-0
www.luebbe.de

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